Vor wenigen Tagen unterzeichnete Israel die historischen Verträge mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und mit Bahrain. Eine Schallmauer im Nahen Osten ist durchbrochen. Vieles scheint plötzlich möglich. Wer genau hinsieht, der entdeckt jedoch: Vieles ist möglich, aber nicht alles. Schon im Vorfeld gaben diese beiden arabischen Staaten bekannt, dass sie ihre Botschaften nicht in Jerusalem, sondern in Tel Aviv einrichten werden. Die Medien berichteten eingehend.
Schlagzeilen machten unterdessen auch die Ankündigungen Serbiens und des Kosovo, im Gegensatz dazu möglicherweise Botschaften in Jerusalem einzurichten. Worum dreht es sich eigentlich, wenn es um den Status quo der Stadt Jerusalem geht, über den immer wieder in Zusammenhang mit dem Thema ausländische Botschaften in dieser Stadt die Rede ist?
Der US-Alleingang
Am 6. Dezember 2017 gab der für seine bombastischen Ankündigungen berüchtigte US-Präsident Donald Trump bekannt: „Ich bin zu der Erkenntnis gelangt, dass es Zeit ist, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen. Er hielt Wort. Schon wenige Monate später wurde das umgesetzt, was der US-Kongress bereits am 24. Oktober 1995 im Zuge des Gesetzes zur Botschaft in Jerusalem (Jerusalem Embassy Act) beschlossen hatte: Die Verlegung der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem.
Was sowohl Demokraten als auch Republikaner einvernehmlich in Angriff nehmen wollten, setzten die Präsidenten Bill Clinton, George W. Bush und Barack Obama sowie zunächst auch Trump alle sechs Monate aus. Dabei setzen sie das administrative Vetorecht um, über das US-Präsidenten (Presidential Waiver) verfügen. Denn sie teilten die Befürchtungen der Welt, dass Veränderungen des Jerusalemer Status quo zu Spannungen im Nahen Osten, wenn nicht sogar in der gesamten muslimischen Welt führen könnten. Durchaus ein bedenkliches Szenario, denn schließlich ist in 27 Ländern der Welt der Islam Staatsreligion. Rund 1,8 Milliarden Muslime betrachten Jerusalem als drittheiligste Stätte ihres Glaubensbekenntnisses.
Trump scherte sich wenig darum. Die Verlegungszeremonie der US-Botschaft wurde am 14. Mai 2018 ausgerichtet, symbolträchtig am 70. Jahrestag der Deklaration des Staates Israelnach westlichem Kalender. 1948 jubelten Juden in aller Welt, doch noch in der Nacht brach Krieg über den jungen Staat einher. Auch 2018 jubelte Israel, dass der mächtigste Bündnispartner des Landes für die Hauptstadt Jerusalem in die Bresche springt. Dass Trump damit ureigene Interessen verfolgte, war Israel klar, doch angesichts der Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt des Landes war das zweitrangig. Alle Welt wartete gespannt, wie schlimm die Proteste werden würden. Ruhig blieb es zwar nicht, aber zur antizipierten Welle der Gewalt kam es nicht.
Und noch etwas trat nicht ein: Israel hatte gehofft, dass weitere Staaten dem Beispiel der USA folgen würden. Zwar erkannten weitere Länder Jerusalem als Israels Hauptstadt an, darunter Australien und Guatemala. Russland hatte schon 2017 Westjerusalem als Hauptstadt des jüdischen Staates anerkannt. Doch bis Herbst 2020 geschah kaum etwas bezüglich Botschaftsverlegungen, die eine Art Prisma für die Anerkennung der israelischen Präsenz wie auch der israelischen Anrechte in der heiligen Stadt sind. Sogar Staaten, die als Israel wohlgesonnen gelten, wie Ungarn, Tschechien und Brasilien, wählten bislang einen „Weg des geringeren Widerstands“: Sie eröffneten lediglich Handelsvertretungen in Jerusalem.
Der Status quo
Wer im 19. Jahrhundert nach Jerusalem reiste, erlebte diesen Magneten für Abermillionen von Pilgern der drei großen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam als ein verschlafenes, rückständiges Provinzstädtchen. Längst hat sich Jerusalem gemausert, obschon Israels einzige Stadt, die der Millionenmarke entgegensteuert, weiterhin zu den ärmsten des Landes zählt. Zum einzigartigen Charakter tragen nicht nur unterschiedliche Bevölkerungsgruppen, sondern auch die jüngere Geschichte mitsamt vielbeschworenem Status quo bei.
In Reaktion auf Trumps Alleingang forderte fast die gesamte Welt, „den Status quo der Stadt zu respektieren“. Dieser Status quo wird international als Garant erachtet, dass sich an Jerusalem kein weiterer Krieg im Nahen Osten, oder sogar noch darüber hinaus, entzündet. Der Palästina-Teilungsplan der Vereinten Nationen vom 29. November 1947 erklärte Jerusalem zum Corpus separatum. Mit Entstehen eines Staats für Juden und eines Staats für Araber in dem Gebiet Palästina sollte Jerusalem als „abgesonderter Körper“ internationaler Kontrolle, namentlich den Vereinten Nationen, unterstellt werden. Genau daran wird unter Berufung auf geltendes Völkerrecht noch heute festgehalten. Trotzdem schlug die Realität bereits 1948 eine andere Richtung ein.
Im Verlauf des israelischen Unabhängigkeitskrieges 1948/49 besetzte Jordanien den mehrheitlich von arabischen Bürgern bewohnten Ostteil der Stadt. Israel verlor den Zugang zur heute heiligsten Stätte des Judentums, zur Klagemauer, die ein Überrest des Tempelkomplexes ist – und ebenso zur gesamten Altstadt und Umgebung, also dem Ansiedlungsgebiet des antiken Jerusalems und somit zu einzigartigen Stätten der Geschichte des jüdischen Volkes. Jerusalem war geteilt.
Nicht nur das änderte sich durch den Sechs-Tage-Krieg von Juni 1967, sondern auch die politischen und juristischen Realitäten der Stadt. Als der Staat Israel am 30. Juli 1980 das Jerusalem-Gesetz erließ, nahm die Welt die Anwendung des israelischen Rechts nicht mehr einfach so hin wie nach dem 5. Januar 1950, als die Knesset Jerusalem zur Hauptstadt erlärt hatte. Schließlich ging es nicht mehr „nur“ um das mehrheitlich jüdisch-israelisch geprägte Jerusalem, sondern um die ganze Stadt und damit auch um eine schon damals zahlreiche arabische Bevölkerung. Gegenwärtig stellt sie rund 35 Prozent der 927.000 Einwohner. Allen voran reagierten die Vereinten Nationen, die das Jerusalem-Gesetz für nichtig erklärten und die Mitgliedstaaten zur Verlegung ihrer Botschaften nach Tel Aviv aufforderten. Damals unterhielten 45 Staaten Botschaften in Israel, von denen 13 in Jerusalem lokalisiert waren und verlegt wurden.
Jerusalem: Mikrokosmos der Aspirationen
Israel erachtet die Stadt als seit 1967 wiedervereint, und doch leben die Menschen im Ost- und Westteil der Stadt sehr unterschiedliche Realitäten. Die Palästinenser widmen sich schon etlichen Jahren einer diplomatischen Kampfansage. Sie riefen einen unabhängigen „Staat Palästina“ aus. Indem 138 der 193 UN-Mitgliedstaaten einen unabhängigen „Staat Palästina“ anerkannten, legten sie auch kein Veto gegen die palästinensische Aspiration ein, Al-Quds („die Heilige“, arabische Bezeichnung für Jerusalem) zur Hauptstadt „Palästinas“ zu machen.
Weder israelische Gesetze noch palästinensische Aspirationen haben etwas am Status quo der Stadt geändert, auf den laut Völkerrecht gepocht wird und der nicht mit dem Status quo rund um den Tempelberg zu verwechseln ist. Über den Status der Stadt Jerusalem, die gerne als Herzstück des israelisch-palästinensischen Konfliktes bezeichnet wird, sollen beide Parteien erst im Zuge von Verhandlungen zur Beilegung des Konfliktes entscheiden. Wenngleich eine Entscheidung beiden Parteien im Zuge von direkten Verhandlungen überlassen werden soll, hat die Welt – allen voran die Europäische Union – allerdings bereits entschieden, wie das Endergebnis auszusehen hat: die Umsetzung der Zwei-Staaten Lösung.
Auf den ersten Blick scheint nicht nur rund um Jerusalem vieles in eine Starre verfallen zu sein. Selbst der vielbeschworene Trump-Jahrhundertdeal wurde schon mehrmals mit Schwanengesang bedacht. Doch der vergangene Monat brachte Veränderungen, mit denen erneut maßgeblich die USA und Präsident Trump in Verbindung stehen: Israel und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) normalisierten ihre Beziehungen. Kurz darauf zog Bahrain nach, was insofern Aufsehen erregte, da dieses Land auf das Engste mit Saudi-Arabien verbandelt ist. Dass nennenswerte Kontakte zwischen Israel und gemäßigten arabischen Golfstaaten bestehen, war längst kein Geheimnis mehr. Dennoch ist diese Entwicklung noch bemerkenswerter ist, da Trump um die Zeit der Unterzeichnung der Abkommen in Washington neue pompöse Ankündigungen in den Raum stellte: Weitere arabische Staaten werden folgen und den Staat Israel anerkennen.
Es überrascht nicht, dass diese Scheich-Monarchien ihre Botschaften nicht in Jerusalem, sondern in Tel Aviv eröffnen werden. Es ist ein eindeutiges Statement, wobei jedoch das Völkerrecht kaum eine Rolle spielt. Sie wie auch andere bekräftigen durch den Aufbau einer Botschaft in Tel Aviv die Anerkennung des Staates Israel. Doch durch den Standort Tel Aviv setzen sie zugleich ein deutliches Zeichen, dass sie die palästinensischen Aspirationen in Sachen ihrer Hauptstadt wahrnehmen. Das gilt insbesondere für muslimische Staaten, die dabei selbstverständlich auf den Tempelberg im Blickwinkel haben. Doch niemand kommt um die Tatsache herum, dass Jerusalem seit vielen Jahrzehnten das Regierungs- und Verwaltungszentrum des Staates Israel ist.
Streit zwischen Serbien und Kosovo verzögert Anerkennung
Kommt vor israelisch-palästinensischen Verhandlungen Bewegung in den Status quo? Bei der Lokalisierung von Botschaften in Jerusalem gab es in letzter Zeit neue, ja vielleicht sogar bahnbrechende Neuigkeiten. Serbiens Präsident Aleksandar Vučić kündigte an, die Botschaft seines Landes nach Jerusalem verlegen zu wollen. Damit wäre Serbien das erste europäische Land, das einen solchen Schritt wagt. Doch aufsehenerregender ist die Ankündigung des Kosovo, Jerusalem als Israels Hauptstadt anzuerkennen und in der Stadt eine Botschaft unterhalten zu wollen. Der Kosovo wäre das erste Land, das ein weiteres Tabu bricht: Muslime bekennen sich offen zu einer jüdischen Verbundenheit mit Jerusalem.
Doch noch bevor tatsächlich etwas geschehen ist, gab es neue Querelen. Serbien und der Kosovo sind einander nicht wohlgesonnen, weshalb Serbien ankündigte, seine Botschaft nicht nach Jerusalem zu verlegen, sollte Israel den Kosovo anerkennen, gegen dessen Unabhängigkeit Serbien nachhaltig Veto einlegt. Weitere Querelen hingen schon zuvor im Raum, als die Europäische Union unmissverständlich klarstellte, dass sowohl Serbien als auch der Kosovo ihre beantragte Mitgliedschaft in der Europäischen Union riskieren, sollten sie ihre Botschaften nach Jerusalem verlegen.
Ob tatsächlich noch mehr Bewegung in diese Angelegenheit kommt, könnte sich demnächst herausstellen: Der Tschad, ein weiteres Land mit muslimischer Mehrheit, kündigte an, eine diplomatische Repräsentanz in Israel aufbauen zu wollen. Sollte Standort der Botschaft des Tschads, wie durchgesickerte Informationen verlautbaren, tatsächlich Jerusalem werden, scheint Bewegung in den Jerusalemer Status quo zu kommen. Es erübrigt sich anzumerken: Nicht alle sind darüber so erfreut wie Israel.