Wo ist Chen Pomeranz? Die 250 Zuschauer in der Dutenhofener Sporthalle halten Ausschau nach ihrem ehemaligen HSG-Wetzlar-Spieler. Der 31-jährige Israeli, der dank seiner deutschen Großmutter auch einen deutschen Pass besitzt, muss am Anfang noch auf der Bank Platz nehmen. Aber bald kommt der über 160-fache Nationalspieler Israels am Dienstagabend doch zum Einsatz. Auch wenn ihm die Trainingseinheiten für die totale Fitness noch fehlen, will er seinem Team helfen. Im fliegenden Wechsel stürmt er immer wieder aufs Feld, reißt für seine Mitspieler durch seine Präsenz Lücken in die gegnerische Abwehr und bereitet intelligent vor. Und noch wichtiger: Pomeranz, der im vergangenen Jahr ernsthaft über sein Karriereende nachgedacht hat, trifft und trifft.
„Ich habe mich gefreut, Chen wiederzusehen“, sagt Björn Seipp, der Geschäftsführer der HSG Wetzlar. In der Saison 2008/09 war Pomeranz zur HSG gewechselt und erlitt eine schwere Kreuzbandverletzung. Chen habe dadurch leider wenig spielen können. Das habe Seipp damals unheimlich leid getan. „Er ist ein klasse Typ“, schwärmt der Geschäftsführer: „Immer sehr freundlich, höflich und zuvorkommend.“ Pomeranz spielte insgesamt sieben Jahre Handball in Deutschland und wurde im Jahr 2011 als einer der besten Spieler ins Allstar-Team der Bundesliga gewählt. Er und das gesamte israelische Team waren bereits am Sonntag als Zuschauer zum Heimspiel der HSG Wetzlar gegen Eisenach eingeladen gewesen.
Ausgerechnet Wetzlar
Auf Pomeranz und seinen israelischen Mitspieler Avischai Smoler hatten sich die Wetzlarer am Dienstagabend besonders gefreut. Der Hallensprecher begrüßt in einer Auszeit des Testspiels Pomeranz als verdienten Spieler der Bundesliga. Sein Teamkollege Smoler, der verletzt wegen Schulterproblemen fehlt, spielte drei Jahre erfolgreichen Handball bei der HSG Wetzlar. Sie waren auch ein Grund, warum der israelische Verband sein Kurztrainingslager in der mittelhessischen Stadt abhielt. Vor den beiden wichtigen EM-Playoffspielen gegen Rumänien, die Israel Anfang April austrägt, fand der Verband ideale Bedingungen vor.
„Das ist hier alles top organisiert“, lobt Per Carlén, der schwedische Trainer der Israelis. Der Polizeischutz im Hotel sei diskret geregelt. Seine Mannschaft dominiert die erste Halbzeit gegen die U23-Auswahl der HSG Wetzlar, in der auch einige Spieler aus der ersten Mannschaft auflaufen. Die Zuschauer applaudieren fair für beide Mannschaften und honorieren vor allem spektakuläre Tempogegenstöße und Torwartparaden. Schnell verschaffen sich die Israelis einen Vorsprung von fünf Toren. Carléns Spieler verteidigen aggressiver. Man merkt, dass sie die Partie ernst nehmen. Das ist mehr als ein Testspiel. Hier geht es um die seriöse Vorbereitung für die Möglichkeit, an der Europameisterschaft teilzunehmen. Ein Ziel, das Israel seit dem Jahr 2002 nicht mehr erreicht hat.
Gedanken ans Aufhören
„Eigentlich ist die EM 2020 unser großes Ziel“, erklärt Carlén. Er hat ein junges Team mit Perspektive geformt, das Durchschnittsalter beträgt ungefähr 23 Jahre. Carlén, der als Spieler Europa- und Weltmeister wurde, steht immer an der Seitenlinie. Zum Sitzen hat er keine Zeit. Dabei feuert er die Mannschaft an, gestikuliert wild, leidet mit, wenn der eigene Ball daneben geht oder vom Wetzlarer Torwart mit spinnenartigen Bewegungen abgewehrt wird. Und er spricht viel mit seinem Spieler Chen Pomeranz, der mittlerweile wie sein verlängerter Arm auf dem Spielfeld wirkt.
Im vergangenen Herbst hatte Pomeranz über das Aufhören nachgedacht, setzte sogar das Training aus. „Er hat erst diesen Januar wieder angefangen“, erzählt der Trainer auf Deutsch. Für die Rumänien-Spiele werde er aber wieder auf dem Höhepunkt seiner Leistungsfähigkeit angekommen sein. Solche angeschlagenen Spieler hätte Carlén gerne mehr: Pomeranz ist klar der auffälligste Mann auf dem Feld, er trifft zweistellig. Er lässt sich auch nicht von dem jodelnden „Volks-Rock‘n‘Roller“ Andreas Gabalier irritieren, der bei jeder Gelegenheit in den Spielpausen aus den Hallenboxen plärrt.
Sein Land motivierte Pomeranz
Israel gewinnt gegen die HSG Wetzlar ungefährdet 32:28. „Die zweite Halbzeit war zum Schluss ein bisschen zittrig, aber wir können zufrieden sein“, stellt Chen Pomeranz fest. Es sei ein schönes Gefühl, wieder hier in Wetzlar zu sein. Er kennt noch ein paar der Wetzlarer Spieler und vor allem die Menschen im Management: „Das bringt natürlich Erinnerungen zurück“. Fast 15 Jahre hat Pomeranz das israelische Nationaltrikot angezogen. Zurück auf den Platz zu kommen und sein Land zu repräsentieren, habe eine wichtige Rolle bei seiner Entscheidung gespielt weiterzumachen.
„Ein großer Teil meines Lebens ist Handball“, weiß Pomeranz. Da sei es nicht leicht aufzuhören. Zumal er jetzt die Gelegenheit hat, in seiner Heimat bei Maccabi Tel Aviv zu spielen und regelmäßig seine Familie zu sehen. Er kann seine Fähigkeiten an die jungen israelischen Spieler weitergeben. Auch an seinen 25-jährigen Bruder Gil, der am Dienstag ebenfalls auf dem Platz stand. Wobei Chen Pomeranz einem Angebot aus der Bundesliga wohl ehrlicherweise nicht widerstehen könnte: „Wenn jemand rufen sollte, würde ich kommen.“ (mm)