Die meisten werden es von Kindergeburtstagen kennen, und die Spielanleitung ist wohl eine der einfachsten der Welt: Während Musik spielt, rennen mehrere Personen um Stühle herum, deren Anzahl einen weniger beträgt als die Anzahl der Spieler. Verstummt die Musik, versuchen alle, einen Stuhl zu ergattern. Wer keinen Stuhl abbekommt, fliegt aus dem Spiel. Ein Stuhl wird entfernt. Oder noch kürzer: Wer am schnellsten einen leeren Platz findet, bleibt im Spiel.
Abgesehen davon, dass die Regeln jedes Kind versteht, liegen die Vorteile auf der Hand, die wohl auch zu seiner großen Popularität auf der ganzen Welt und zu allen Zeiten geführt haben dürften: es ist spannungsgeladen, die Anzahl der Mitspieler ist beliebig, es bedarf nicht vieler Utensilien.
Aber woher kommt der Name? Wer ist da wann nach Jerusalem gereist? Und war die Reise ähnlich stressig und womöglich schmerzhaft wie der Kampf um den letzten verbliebenen Stuhl? (Kinder können sehr ehrgeizig sein.) Vielleicht hat der Name ja damit zu tun, dass schon Maria und Josef in Israel von Herberge zu Herberge ziehen mussten – sozusagen den letzten verbliebenen Platz finden mussten? Allerdings spielte sich das in Bethlehem ab. Auch Jesus selbst wurde sprichwörtlich „von Pontius zu Pilatus“ geschickt.
Feststeht: Das Spiel ist weltbekannt, sein Name indes variiert. In Dänemark, den Niederlanden und Portugal haben sich neben „Reise nach Jerusalem” auch „Stuhltanz”, „Stuhlpolonaise” oder „Tanzende Stühle” eingebürgert. In Ostdeutschland wird das Spiel auch „Stuhlpolka” genannt. In anderen Ländern spricht man von der „Reise nach Rom“. In Österreich und der Schweiz ist der Begriff „Sesseltanz“ gebräuchlich.
Und wie heißt das Spiel in Jerusalem selbst? In Israel ist es durchaus bekannt, man nennt es aber „Musikalische Stühle“ (Kis’ot Musikaliim). Ebenso übrigens wie in Irland, England, Frankreich, Griechenland, Italien, Thailand und den USA („Musical Chairs”). In Schweden ist das Spiel als „Stürmische See” bekannt, in Rumänien als „Vöglein, such dein Nest”.
Jerusalemer „Eurovision Song Contest“ mit ausreichend Stühlen
Tatsächlich ist die Herkunft des deutschen Namens ungeklärt. Manche vermuten, dass er auf die Reisen nach Jerusalem zur Zeit der Kreuzzüge zurückgeht. Andere mutmaßen, der Name könne aus der Zeit der zionistischen Migration nach Palästina stammen, als es nur begrenzten Platz auf den Auswandererschiffen gab. Eine Anfrage an das Institut für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg ergab Ähnliches: über die Herkunft des Spielnamens wissen auch Historiker bislang nichts.
Wikipedia kennt eine Methode aus der Spätantike, die an das Prinzip der „Reise nach Jerusalem“ erinnert. Im Militärhandbuch „Strategikon des Maurikios“, das aus der Zeit des byzantinischen Kaisers Maurikios (6. Jahrhundert) stammt und in griechischer Sprache verfasst wurde, wird empfohlen, wie man feindliche Spione in den eigenen Reihen identifizieren kann.
Beim Ertönen eines Trompetensignals haben alle Soldaten sofort ihren Schlafplatz aufzusuchen. Für die gegnerischen Spione bleiben dann nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie versuchen, in einem Zelt unterzukommen, oder sie bleiben außerhalb der Zelte – in beiden Fällen werden sie als Fremde entlarvt.
In unserer Zeit wird der Ausdruck „Reise nach Jerusalem“ häufig auch verwendet, um ironisch zu kommentieren, wenn Leute sinnlos von einer Station zur nächsten weitergereicht werden, etwa bei der erfolglosen Suche nach einer Arbeitsstelle. So drehte etwa die italienisch-deutsche Regisseurin Lucia Chiarla 2018 einen Film mit dem Titel „Reise nach Jerusalem” über eine junge Frau, die zwar nichts mit Israel zu tun hat, aber auf Jobsuche ist.
„Reise nach Jerusalem“ beim Eurovision Song Contest
Als das bekannte Musik-Spektakel „Eurovision Song Contest“ 1998 Dana International für Israel gewann, wurde bestimmt, dass der riesige Tross aus Musikern und Fans im darauf folgenden Jahr – eben: nach Jerusalem würde reisen müssen.
Der deutsche Musikproduzent Ralph Siegel hatte daraufhin eine (mehr oder weniger) seiner Meinung nach jedenfalls originelle Idee für den Titel seines eigenen Beitrags für den Wettbewerb: „Reise nach Jerusalem – Kudüs’e seyahat”. Gesungen wurde es von der Band „Sürpriz“, die ausschließlich aus Deutschtürken bestand.
Es ist unbekannt, ob damals im Jerusalemer International Convention Center alle Gäste ihren Platz fanden, ebenso wenig, ob Ralph Siegel plante, die Stuhl-Anzahl entsprechend der Gäste-Zahl beschränken zu lassen, um die Musik an entscheidenden Stellen plötzlich auszuschalten. Sein Lied „Reise nach Jerusalem“ erhielt jedenfalls Höchstpunkte unter anderem aus Israel. Am Ende reichte es aber nur für den dritten Platz.
Die Popsängerin Charlotte Perrelli aus Schweden hatte allen anderen sozusagen die Stühle weggeschnappt. Sie durfte mit „Take Me to Your Heaven“ als Letzte auf der Bühne feiern.
Aggressives Spiel mit eigenem Weltverband
In Deutschland gab es übrigens sogar einmal den Versuch, das beliebte Kinderspiel zu einem richtigen Sport zu entwickeln. Die Universität Münster hatte die „Reise nach Jerusalem“ zuvor ganz regulär in ihrem Programm des Hochschul-Sports angeboten. Alljährlich wurde auf dem Münsteraner Schlossplatz eine Meisterschaft ausgetragen. Titel: „Der Superstuhl“.
Münsteraner Studenten erklärten dann 2003 das Spiel zu einem eigenen Sport mit dem offiziellen Namen „Reise nach Jerusalem” oder auch „Journey to Jerusalem”, kurz: „J to J”. Sie erarbeiteten ein ordentliches Regelwerk und gründeten sogar den Reise-nach-Jerusalem-Weltverband. Die Pläne verliefen im Sande, die Musik ist längst aus, keiner jagt mehr Stühlen oder Trophäen hinterher, weder in Münster noch bei Olympia.
Das britische Bildungsministerium wiederum wollte das Spiel sogar im Jahr 2000 an öffentlichen Schulen verbieten. Es sei aggressionsfördernd, hieß es zur Begründung. Eine Broschüre des Ministeriums erklärte, bei der „Reise nach Jerusalem” gebe es einfach keinen fairen Wettbewerb, da sich immer die größten und stärksten Kinder durchsetzten.
Doch die bildungspolitische Sprecherin der Konservativen Partei kritisierte das Ministerium für diesen Angriff auf das traditionsreiche Spiel. Diese „Political Correctness“ gehe zu weit, klagte die Politikern, Kinder spielten das Spiel gern und „lieben es seit Jahren“. Es handelte sich dabei übrigens um niemand anderen als Theresa May, die sich 16 Jahre später als Premierministerin den Stuhl in der Downing Street ergattern konnte.
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Eigentlich schade, dass mit der Reise in die Hauptstadt des schönen Landes Israel sprichwörtlich so viel Hast und Eifer verbunden wird. Heißt doch „Jerusalem“ immerhin „Stadt des Friedens“. Wenn Sie das nächste Mal nach Jerusalem reisen, sollten erfahrungsgemäß eigentlich alle Gäste der El-Al-Maschinen immer noch irgendwo einen bequemen Platz finden. Ganz ohne Hektik. Im alten jüdischen Gruß zum Sederabend heißt es ja nicht: „Es kann jeden Moment so weit sein!“, sondern eher gemütlicher: „Nächstes Jahr in Jerusalem!“
Eine Antwort
Oh ja, in Kindertagen habe ich die Reise nach Jerusalem oft und gern mit Freundinnen gespielt. Bis meine Schwester mir einmal den Stuhl wegzog und ich mit dem Kopf gegen die Stuhlkante knallte, was einen Besuch im Krankenhaus notwendig machte. Ich reise nun lieber persönlich nach Jerusalem, wundervolle Stadt. Aber ich warte, bis der Krieg vorbei ist. Vielleicht: Nächstes Jahr in Jerusalem?