JERUSALEM (inn) – Mehr als 192.000 Menschen sind gegenwärtig in Israel als Holocaust-Überlebende registriert. Ein großer Teil von ihnen hat in Ghettos gelebt. Fast 30 dieser Überlebenden trafen sich am Sonntag im traditionsreichen Jerusalemer Stadtteil Rehavia. Eingeladen waren Ghettoüberlebende mit russischsprachigem Hintergrund in das Kultur- und Informationszentrum „LeChaim“, zum Leben, in der Gaza-Straße. In einem kleinen Stadtpark war 2012 mit Hilfe des amerikanischen evangelikalen Christen Mike Evans ein alter Bunker renoviert worden, den die Überlebenden seitdem zu regelmäßigen Treffen nutzen können.
Lillian Glaser, selbst Überlebende und Direktorin der Organisation von Holocaust-Überlebenden in Jerusalem, begrüßt etwa 60 Besucher: „Nach allem, was wir in der Vergangenheit Schreckliches erlebt haben, sind wir stolz, heute in unserem eigenen Staat leben zu können. In Erinnerung an sechs Millionen ermordete Juden entzünden wir sechs Kerzen.“
Eine Überlebende zündet eine Kerze an und spricht über ihre Dankbarkeit dafür, dass sie mit ihren beiden Schwestern nach Israel kommen konnte. Ein Mann erzählt, dass er im Alter von 20 Jahren im Ghetto in Minsk lebte und dann zu den Partisanen ging. Stolz zeigt er zahlreiche Abzeichen an seiner Brust.
Dankbar für Hilfe aus Deutschland
Glaser erwähnt die Hilfe von christlichen Freunden aus Amerika und Deutschland. Daher bittet sie auch zwei Deutsche nach vorne, um die Kerzen zu entzünden. Einer von ihnen ist Sven Rudolph, der für die Sächsischen Israelfreunde Besuchsdienste in Jerusalem leistet. Der Verein renoviert immer wieder Wohnungen von bedürftigen Holocaust-Überlebenden. Rudolph überreicht einen Kerzenhalter, der aus Gleisen von Auschwitz gefertigt ist: „Wir bringen euch dieses Geschenk und erinnern damit an die traurige Geschichte. Der Halter ist Ausdruck unserer Botschaft an euch: ‚Wir lieben das jüdische Volk‘.“ Die Überlebenden applaudieren.
Dass die russischsprachige Veranstaltung vor den Ghettoüberlebenden von Alexander Vischnevetzki, der rechten Hand von Glaser, ins Deutsche übersetzt wird, beeindruckt Rudolph. Nach der Veranstaltung sagt er: „Dass diese Menschen uns in ihr Erinnern mit hineinnehmen und dass wir als Deutsche sogar gebeten werden, eine Kerze zu entzünden, das ist bemerkenswert.“
Rabbiner Schalom Bronstein zündet die letzte Kerze an und liest den 23. Psalm vor. Danach spricht er das Kaddisch-Gebet, ein Heiligungsgebet, das im Gedenken an die sechs Millionen ermordeten Juden gesprochen wird. Es endet mit den Worten: „Der Frieden stiftet in seinen Himmelshöhen, stifte Frieden unter uns und ganz Israel, sprecht: Amen!“
Junge Israelis ehren Überlebende
Auch Abiturienten sind gekommen, um der Ereignisse von damals zu gedenken. Sascha ist einer von vieren, die ein russisches Gedicht über die Gräueltaten des Massakers von Babi Jar 1941 in der Ukraine vorlesen. „Wenn ich mir vorstelle, dass diese Menschen damals so alt waren wie ich jetzt, und dann daran denke, was sie durchmachen mussten, muss ich schlucken“, reflektiert der 19-Jährige nach der Veranstaltung. Er selbst ist vor vier Jahren aus Moldawien eingewandert. „Es ist gut, dass wir diese Leute treffen können. Wir sind die letzten, die dieses Vorrecht haben.“ Sein Mitschüler Artemij ist vor drei Jahren aus dem Ural nach Israel eingewandert. Auch ihm ist der Respekt vor den alten Menschen und ihrer Geschichte anzusehen: „Es sind Helden. Wir müssen ihnen zuhören, damit so etwas nie wieder passiert.“
Zwei dieser Helden sind Mark und Tamar. Sie leben seit 1991 in Israel. Mark ist 92 Jahre alt und war Arzt in Marjinka. Seine Frau Tamar stammt aus Minsk. Nachdrücklich betont sie: „Nach dem Krieg und unter den Kommunisten war es uns verboten, über unsere Erfahrungen im Ghetto zu sprechen.“ Mehrfach wiederholt sie die hebräische Wendung: „Baruch HaSchem, Gelobt sei Gott“, um dann ihren Satz auf Russisch zu vervollständigen: „dass wir heute hier, in Israel, sind.“
Offizielles Gedenken
Israels offizieller „Tag des Gedenkens an Holocaust und Heldentum“ ist der 27. Nisan. Dieser Tag wurde vom israelischen Parlament festgelegt, auch wenn der Anlass, nämlich der Beginn des Aufstandes im Warschauer Ghetto, bereits am 14. Nisan war. In Warschau war das größte Ghetto in Polen; auf engstem Raum drängten sich mehr als 400.000 Juden. Am 19. April 1943 begann ein Aufstand der gefangenen Juden gegen die Besatzung. Der israelische „Jom HaScho’ah“ wird in diesem Jahr am 21. April begangen.
Das erste Ghetto errichtete die Deutsche Besatzungsverwaltung im Oktober 1939 im polnischen Piotrków Trybunalski, dem Geburtsort von Rabbiner Israel Meir Lau. Allein im besetzten und annektierten Polen und in der Sowjetunion errichteten die Nationalsozialisten mindestens 1.000 Ghettos. Das waren abgesonderte Wohnbezirke, welche die jüdische von der nichtjüdischen Bevölkerung trennten. Sie sollten nur von vorübergehender Dauer sein. Einige bestanden tatsächlich nur wenige Tage oder Wochen, andere wiederum mehrere Jahre. Der Großteil der Ghettobewohner starb an Krankheiten, Hunger, Erschießungen oder durch Deportationen in die Vernichtungslager.
Nach der Wannseekonferenz im Januar 1942 richteten die Nationalsozialisten sechs große Vernichtungslager ein. Das Ziel war die totale Vernichtung der Opfer inklusive aller sterblichen Überreste.
Auschwitz als Symbol des Bösen
Wie kein anderer Ort steht das Vernichtungslager Auschwitz stellvertretend für die Schrecken des Holocaust. Rund 1,1 Millionen Menschen wurden hier brutal ermordet, davon waren etwa 960.000 Juden.
Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee den Lagerkomplex auf polnischem Boden. In Deutschland wird der Jahrestag seit 1996 als Gedenktag begangen, seit 2005 ist er auch international zum „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ geworden.
Die Zahl der Überlebenden wird auch in Israel immer kleiner, im Jahr 2019 sind 14.800 von ihnen gestorben. Doch noch gibt es sie und noch bleibt Zeit, ihnen zuzuhören. Glaser lädt dazu ein. Und auch Vischnevetzki wendet sich in jiddischer Sprache an die deutschen Besucher: „Seid willkommen. Kommt zu uns, wir berichten euch von dem, was wir erlebt haben.“
Der Sieg über Hitler
Im Bunker in Jerusalem freut sich Fanny, dass sie diese Stunde miterleben darf: „Ich bin extra aus Modi’in gekommen. Es ist wichtig, dass wir uns erinnern. Ich bin im Ghetto geboren und aufgewachsen, später habe ich in Bessarabien gelebt. 1973 bin ich mit meinem Mann nach Israel eingewandert. Es war ein schwerer Start, und auch wenn mein Mann und ich heute sehr alt sind, sind wir doch sehr reich: Wir haben sechs Enkel und einen Urenkel.“ Sie drückt damit aus, was viele Überlebende immer wieder sagen und wie es auch Glaser bei ihrem Besuch in der Villa von Wannsee ins Gästebruch schrieb: „Hitler, ich habe gesiegt.“
Von: mh