Der Chef der texanischen Firma "Stratfor", George Friedman, hatte offenbar kurz vor dem Mailwechsel den früheren US-Außenminister Henry Kissinger getroffen. Dieser wiederum war vorher mit dem türkischen Premierminister zusammengekommen. Am 20. Februar 2010 schrieb Friedman laut Wikileaks in einer Zusammenfassung seines Gespräches mit Kissinger für ein engeres Team: "Erdogan hat ihm klargemacht, dass er plant, irgendwann mit Israel zu brechen und sich zur islamischen Welt zu orientieren. Er hat vor, deren Führer zu werden."
Einem Bericht des israelischen Internetportals "Walla" zufolge heißt es weiter, Kissinger habe die Ansicht geäußert, dass Israel die Atomreaktoren des Iran angreifen werde – weil "sich die Israelis in Panik befinden". Friedman ging davon aus, dass Erdogan in einem israelischen Angriff ein Sprungbrett für die Stellung "des muslimischen Führers" sehe.
Im September vergangenen Jahres hatte die Türkei ihre Beziehungen zu Israel größtenteils abgebrochen. Anlass war die Veröffentlichung des "Palmer-Berichtes" über die Flottille und die israelische Razzia, bei der drei Aktivisten zu Tode gekommen waren. Darin werden beide Länder kritisiert, die Gaza-Blockade hingegen als rechtmäßig gewertet. Erdogan und sein Außenminister Ahmet Davutoglu forderten drei grundlegende Bedingungen für eine Erneuerung der Beziehungen zwischen den beiden Staaten: eine israelische Entschuldigung für den Tod der Türken, Entschädigungszahlungen an die Familien der Toten und eine Aufhebung der Blockade gegen den Gazastreifen.
"Welt": Enthüllung stützt israelische Darstellung
Der Korrespondent der Tageszeitung "Die Welt" in Istanbul, Boris Kálnoky, schreibt zu der Enthüllung: "Erdogan plante, mit Israel zu brechen? Drei Monate später, Ende Mai 2010, kam es zur Provokation der ‚Hilfsflotte für Gaza‘, organisiert von der türkischen fundamentalistisch-muslimischen ‚Hilfsorganisation‘ IHH. Dabei gingen eigens für die Expedition rekrutierte, gewaltbereite Islamisten mit Eisenstangen und Messern gegen die enternden israelischen Kommandos vor – am Ende waren neun Türken tot, von den Israelis erschossen."
Weiter stellt der "Welt"-Autor fest: "Die IHH gehört zur radikal antisemitischen Islam-Bewegung Milli Görüs, der auch Erdogan, Staatspräsident Abdullah Gül und andere führende Mitglieder der türkischen Regierung und der Regierungspartei AKP entstammen." Israel habe immer behauptet, "dass der Zwischenfall eine sorgfältig geplante, von der türkischen Regierung gutgeheißene und mit ihr koordinierte politische Provokation darstellte. Das Ziel: Entweder bis zum Gazastreifen vorzustoßen und einen politischen Triumph zu feiern oder einen blutigen Eklat herbeizuführen, um Israel als Bösewicht darzustellen".
Kálnoky kommt in seinem Artikel zu dem Schluss: "Jedenfalls macht Friedmans Bericht, wenn er zutrifft, die israelische Darstellung der Ereignisse sehr viel wahrscheinlicher und zum Mittel einer von langer Hand geplanten Hinwendung Erdogans zur islamischen Welt – um, wie zu osmanischen Zeiten, die Türkei zu deren Bannerträger zu machen."
Die israelischen Beziehungen zur Türkei haben sich stetig verschlechtert, seit die islamische AKP im Jahr 2002 an die Macht kam.