Dieses Buch ist nichts für schwache Nerven. Denn der Historiker Götz Aly beschreibt teilweise detailliert Massaker an Juden in verschiedenen Ländern Europas. Allerdings nicht aus Freude an Gewaltdarstellungen, sondern um zu verdeutlichen, wie bereits lange vor der Nazizeit und außerhalb Deutschlands der Judenhass wütete. Sein Buch trägt den Titel: „Europa gegen die Juden 1880–1945“.
„Man fing damit an, Steine in solcher Menge und mit solcher Wucht in die Häuser zu werfen, dass man nicht nur die Fensterscheiben, sondern auch die Läden zertrümmerte. Dann riss man Türen und Fenster aus, drang in die Häuser und jüdischen Wohnungen ein und zerschlug und zerbrach, was man an Möbeln fand. Die mussten ihren Schmuck, ihr Geld und was sie überhaupt an Kostbarkeiten hatten, den Räubern ausliefern. Wenn sie nur geringsten Widerstand leisteten, bekamen sie mit zertrümmerten Möbelstücken wuchtige Hiebe auf die Köpfe.“ Diese Darstellung erinnert an den 9. November 1938. Doch Aly zitiert hier aus einer Schilderung des Pogroms, das sich 1903 in der heutigen moldawischen Hauptstadt Chisinau (damals Kischinew) ereignete – 30 Jahre vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten.
Mit solchen und anderen Beispielen untermauert der Historiker seine These, dass in den meisten europäischen Ländern der Judenhass nicht durch die Nationalsozialisten importiert wurde. „Wer etwas von den vielen Voraussetzungen verstehen möchte, sollte den mit Abstand erschreckendsten Genozid des 20. Jahrhunderts nicht aus dem Kontinuum der deutschen und der europäischen Geschichte herauslösen“, fordert er. Damit erweitert er das Thema seines vorigen Buches „Warum die Deutschen? Warum die Juden?“, in dem er sich auf das Deutsche Reich beschränkt hatte.
Folgerichtig geht Aly auf Pogrome und andere Hassverbrechen in Griechenland, der Ukraine, Litauen oder Frankreich ein. Dabei verwendet er mitunter eine drastische Sprache. Über Gewaltausbrüche im heute ukrainischen Lwiw (damals Lemberg) im Spätherbst 1918 schreibt er etwa: „Am nächsten Morgen kamen die Synagogen an die Reihe. Vormittags um zehn Uhr stürmten die nationaldemokratisch erregten und besoffenen Wüteriche die Vorstädtische Synagoge. Sie stahlen die sakralen Gerätschaften und zerstörten, was sie zerstören konnten.“
Intensive Recherche
Der Autor hat große Teile des Buches in der Jerusalemer Holocaustgedenkstätte Yad Vashem geschrieben. Es ist eine wissenschaftliche Abhandlung mit Fachbegriffen, vielen Anmerkungen und nicht übersetzten Zitaten. Dennoch eignet es sich auch für Leser ohne akademischen Hintergrund. Nicht nur die Schilderungen von judenfeindlichen Stimmungen in den unterschiedlichen Ländern und die Analysen sind gut nachvollziehbar. Und selbst wer sich bereits intensiv mit der Scho’ah befasst hat, kann noch neue Erkenntnisse gewinnen. Das liegt auch daran, dass der Wissenschaftler intensiv geforscht und dabei auch schwer zugängliche Quellen genutzt hat.
Aly schont die Leser nicht, wenn es um die Beschreibung judenfeindlicher Aktionen geht. Im Zusammenhang mit einem Pogrom in Lemberg im November 1918 zählt er in einem Absatz lediglich die Namen der 72 Todesopfer auf. Mittendrin heißt es lapidar: „ein Unbekannter“. Den Absatz führt er ein mit den Worten: „Sie beweinten ‚das große Unglück eines Volkes, das ungestraft und ungesühnt abgeschlachtet werden darf’, und sie beweinten die 72 Ermordeten, für die ein gemeinsames Grab ausgehoben worden war.“ Bewusst verzichtet der Autor im Buch allerdings auf die ganz schlimmen Einzelheiten, wie er selbst an einer Stelle anmerkt.
Antisemitismus nicht auf christlichen Antijudaismus zurückführen
In der Analyse wird deutlich: Christlicher Antijudaismus spielte bei den judenfeindlichen Gesetzen und Handlungen eine untergeordnete Rolle. Im Vordergrund standen wirtschaftliche Interessen, etwa als Ungarn Ende der 1930er Jahre eine Bodenreform durch den ehemaligen Besitz vertriebener Juden finanzieren wollte. Nach Alys Ansicht „fruchtet es wenig, den modernen Antisemitismus auf den jahrhundertealten christlichen Antijudaismus zurückzuführen. Nicht einmal die antisemitisch gestimmten katholischen Kleriker Polens bezogen sich darauf. Auch sie machten wirtschaftliche und soziale Argumente der Gegenwart geltend“.
Der Historiker geht auch auf eine „allgemeine Minderheiten-, Umsiedlungs- und Vertreibungspolitik“ ein, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in vielen Ländern stattfand. Da wurden Angehörige von Minderheiten in ihr Herkunftsland abgeschoben. „In ringsum kulturell vereinheitlichten Gesellschaften stachen Juden, wie zum Beispiel in Saloniki, als letzte nichtnationale Gruppe umso mehr als widerspenstige Fremdkörper hervor, die sich nicht unter der Fuchtel nationaler Gleichmacherei bändigen, nirgendwohin austauschen oder vertreiben ließen.“
Die Vorgeschichte deutete nicht darauf hin, dass die Juden in der griechischen Stadt einmal erbarmungslos verfolgt werden würden: „In Saloniki (Thessaloniki) siedelten Juden seit dem ersten vorchristlichen Jahrhundert. Die Hafenstadt bildete das Zentrum der damaligen römischen Provinz Mazedonien. Später predigte der Apostel Paulus in der dortigen Synagoge, um seine zögerlichen Zuhörer von der Ankunft des Messias zu überzeugen.“
Überlebende standen „als Unerwünschte vor der Tür“
Der Wunsch, die Juden loszuwerden, war nach Alys Einschätzung mit dafür verantwortlich, dass die Nationalsozialisten in den meisten besetzten Ländern auf große Mithilfe aus der einheimischen Bevölkerung stießen. Dabei betont er im Zusammenhang mit der deutsch-ungarischen Zusammenarbeit: „Nicht die Gaskammern in Auschwitz erschienen ungarischen Politikern und christlichen Bürgern als Erfüllung ihrer judenpolitischen Visionen, wohl aber die Enteignung und die Deportation mit unbekanntem Ziel. Hier trafen sich ungarische und deutsche Interessen.“
Dies gelte nicht nur für Regierungen, sondern auch für viele Bürger: „Millionen Europäer hatten das Verschwinden der Juden gewünscht, zu den Deportationen geschwiegen und von den Hinterlassenschaften der Ermordeten profitiert.“ Wenn dann Rückkehrer aus den Vernichtungslagern „völlig unerwartet und als Unerwünschte vor den Türen standen“, habe sich an der Reaktion gezeigt: „Diejenigen, die sich ihr Eigentum angeeignet hatten, wähnten sie tot. Damit hatten sie fest gerechnet.“ Aly stellt fest: „Innerhalb von dreieinhalb Jahren ermordeten Deutsche insgesamt 72 Prozent der jüdischen Bevölkerung ihres Herrschaftsraums – immer wieder aktiv, oftmals passiv unterstützt von einheimischen Verwaltungen, Polizisten, politischen Parteien und antisemitisch gestimmten Bürgern.“ Die wenigen Länder, in denen die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Nazis gering war, finden in dem Buch eine Würdigung.
Verehrung für einen „Judenschlächter“
Ausführlich legt der Berliner Historiker die Entwicklung antisemitischer Haltungen und Tendenzen in verschiedenen Ländern dar. Dabei geht er nicht streng chronologisch vor, sondern springt hin und her, was zuweilen etwas verwirrt. Teilweise wiederholen sich die Aspekte auch, manches könnte durchaus straffer gehalten sein. Dennoch ist „Europa gegen die Juden“ ein lesenswertes Buch, das Akademikern und Laien aufzeigt, wie Judenhass spätestens ab 1880 in europäischen Ländern wurzelte und damit den Nationalsozialisten ein Stück Boden bereitete.
Dabei verschweigt Aly auch nicht, dass in einigen osteuropäischen Ländern zentrale Figuren wie der polnische „Judenschlächter“ Hetman Chjmelnizki oder der ukrainische Nationaldichter Taras Schewtschenko bis heute verehrt werden. Zu Osteuropa schreibt er ferner über Menschen, die Juden geholfen hatten: „Sofern die Retter überlebten, auch das muss gesagt werden, erschien es ihnen nach dem Krieg oftmals besser, ihren Nachbarn nicht zu verraten, dass sie Juden geholfen hatten.“
Wichtig ist dem Wissenschaftler auch die Feststellung, dass gerade eine Demokratisierung den Antisemitismus stützte: „Zwei wichtige liberale Reformen der Habsburger Monarchie verhalfen dem Antisemitismus zu organisierter und öffentlichkeitswirksamer Gestalt.“ Konkret geht es um das Gesetz zur Judenemanzipation von 1867 und eine Erweiterung des Wahlrechts. Durch die Emanzipation strömten Juden an die Universitäten, waren dort erfolgreicher als ihre nichtjüdischen Mitstudenten – und erregten deren Neid. Die Alternative zur Flüchtlingskonferenz von Évian im Jahr 1938 wiederum wäre „der Präventivkrieg gegen das Dritte Reich“ gewesen. „Aber wie hätten demokratische, an Verfassungen und Wahlen gebundene Politiker ein solches Vorgehen durchsetzen sollen?“, fragt Aly. Zwar stellt er selbst keinen Bezug zur aktuellen Lage im Nahen Osten her. Doch unübersehbar besteht eine Parallele zu den Problemen, mit denen die heutige Demokratie Israel im asymmetrischen Kampf gegen Terroristen konfrontiert ist.
Götz Aly: „Europa gegen die Juden 1880–1945“, S. Fischer, 432 Seiten, 26 Euro, ISBN: 978-3-10-000428-4
Von: Elisabeth Hausen