Als Staatspräsident Reuven Rivlin am Mittwoch die endgültigen Ergebnisse der 24. Knessetwahlen von der Wahlkommission entgegennahm, hatte er für die politischen Verantwortungsträger im Lande vor allem eine Botschaft: „Hört auf den Ruf des israelischen Volkes, den Ruf nach einer ungewöhnlichen Koalition.“ Denn immer mehr zeichnet sich ab, dass Israel auch nach dieser Wahl entweder gar keine Regierung bekommen wird – oder aber eine ziemlich außergewöhnliche, aus welchem Lager auch immer.
Bei der Abstimmung am Dienstag vergangener Woche konnte das Pro-Netanjahu-Lager keine Mehrheit erringen und brachte es nur auf 52 Sitze. Die Listen, die sich eindeutig gegen den Premier positioniert haben, stellen 57 der insgesamt 120 Knesset-Abgeordneten. Dazwischen stehen die rechtskonservative Jamina-Partei von Naftali Bennett und die islamistisch-arabische Ra’am von Mansur Abbas. Beide haben sich im Wahlkampf auf keine der Seiten geschlagen und sich so als Königsmacher positioniert.
Vor allem folgende Szenarien werden nun diskutiert:
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Rechte Regierung aus Likud, Schass, Vereinigtem Tora-Judentum (beide ultra-orthodox), Jamina (rechtskonservativ), Religiösem Zionismus (rechtskonservativ-orthodox) mit Überläufern – In diesem Szenario gelingt es Benjamin Netanjahu noch, einzelne Abgeordnete aus dem Gegenlager zu sich herüberzuziehen. Bereits in den vergangenen Tagen hatte der Likud versucht, Vertreter der Hoffnungs-Partei von Ex-Likudnik Gideon Sa’ar mit Ministerposten zu locken. Ihr sei „ein halbes Königreich“ angeboten worden, ließ etwa die Sa’ar-Verbündete Scharren Haskel auf Twitter verlauten, und fügte hinzu: „Keine Chance.“ Nachdem Netanjahu nach den vorigen Wahlen seinen Herausforderer Benny Gantz mit dem Versprechen einer Rotation im Amt des Premierministers hinters Licht geführt hat, werden sich potentielle Abweichler aus dem Gegenlager nun mehrmals überlegen, ob sie dem gewieften Taktiker Netanjahu vertrauen können. Aktuell scheint diese Option eher verpufft.
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Kooperation des rechts-religiösen Lagers mit Ra’am (islamistisch) – Diese Variante steht zur Zeit im Vordergrund der medialen Aufmerksamkeit. Die Ra’am Partei von Mansur-Abbas vertritt konservativ-islamische Positionen und hat vor allem im Negev sowie in arabischen Ortschaften Galiläas Rückhalt. Sie könnte Netanjahus Regierung tolerieren, etwa indem sie sich bei Parlamentsabstimmungen enthält. Netanjahu und Abbas haben sich über Monate gegenseitig angenähert, und auch nach der Wahl wirbt der Likud um den Ra’am-Politiker. Der hat sich von den drei anderen arabischen Parteien abgesetzt und versucht, eine ähnliche Taktik wie die jüdischen ultra-orthodoxen Parteien zu verfolgen: nämlich denjenigen zu unterstützen, der ihm gibt, was er für seine Wähler verlangt. Mit dem eher wenig ideologischen Netanjahu würde der israelische Araber sicher auskommen. Problematisch ist aber, dass unter Netanjahus Partnern auch der rechtsradikale Anwalt Itamar Ben-Gvir ist. Der hat nicht zu Unrecht unter anderem angemerkt, dass sich eine israelische Regierung nicht von einer islamistischen Partei abhängig machen dürfe, wenn es etwa darum geht, auf Raketenbeschuss aus Gaza zu reagieren.
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Kooperation von Jesch Atid (liberal), Jamina, Israel Beiteinu (rechts-säkular), Blau-Weiß (zentristisch), Arbeitspartei (sozialdemokratisch), Meretz (linksradikal), Neuer Hoffnung (rechtskonservativ) und arabischen Abgeordneten – Der „Block der Veränderung“, wie Medien das Anti-Netanjahu-Lager inzwischen nennen, versucht eifrig zu verhindern, dass Abbas Netanjahu eine Mehrheit beschafft. Für die Gegner Netanjahus sieht es bei der Regierungsbildung noch komplizierter aus als für den amtierenden Premier. Es bräuchte eine Kooperation von linksaußen über die arabischen Parteien bis nach rechts. Die Gespräche sind im Gange, aber die Uneinigkeiten groß. Dass diese zum Teil öffentlich über die Sozialen Netzwerke ausgetragen werden, spricht nicht gerade für große Erfolgsaussichten. Problematisch ist nicht zuletzt die Frage, wer an der Regierungsspitze stehen soll. Einige der konservativen Anti-Netanjahu-Parteien sind nicht bereit, den liberalen Jair Lapid zum Regierungschef zu machen, obwohl der der größten Partei im Anti-Netanjahu-Lager vorsteht. Offenbar liebäugelt nach wie vor auch Jamina-Chef Bennett damit, selbst das wichtigste Regierungsamt zu übernehmen, obwohl er laut Wahlergebnis gerade einmal gut 6 Prozent der israelischen Bürger hinter sich weiß. Lapid fordert von seinen potentiellen Koalitionären nun, zunächst ihn bei Präsident Rivlin für das Amt des Premiers zu empfehlen. Danach lägen „alle Optionen auf dem Tisch“, sagt er.
Das israelische Grundgesetz über die Regierung (das Land hat keine Verfassung im engeren Sinne) weist jetzt dem Präsidenten die entscheidende Rolle zu. Ab Montag wird Reuven Rivlin in seiner Residenz Abgesandte der in der Knesset vertretenen Fraktionen empfangen. Sie können ihm sagen, ob sie einen bestimmten Kandidaten für das Amt des Premierministers präferieren. Bis Mittwoch muss Rivlin dann dem aussichtsreichsten Abgeordneten offiziell das Mandat zur Regierungsbildung übertragen. Der Kandidat hat höchstens sechs Wochen Zeit dazu. Danach hätten noch andere Abgeordnete die Möglichkeit, eine Mehrheit hinter sich zu versammeln. Funktioniert das nicht, bleibt nur eine Option übrig:
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Eine fünfte Wahl – Angesichts der komplizierten Gemengelage ist das alles andere als ausgeschlossen. Bisher hatte es den Anschein, dass Netanjahu sich mit der Dauerwahlschleife arrangiert hatte, denn so blieb er auf jeden Fall im Amt. Manche Beobachter glauben jedoch, dass es für ihn zunehmend eng wird, nicht zuletzt da im Herbst die Dankbarkeit für den israelischen Impferfolg wieder verflogen sein und dann auch Netanjahus Korruptionsprozess wieder Fahrt aufgenommen haben könnte. Ob das seine Anhänger aber wirklich stört, ist fraglich.
Von: Sandro Serafin