„Die Authentizität der Medien ist eine Illusion, eine der vielen Selbsttäuschungen unserer Zeit, die in kritiklosem Kinderglauben hingenommen wird. Die Bilder gelten als wahr, weil sie von technischen Geräten aufgezeichnet werden, man vergisst, dass es Menschen sind, die die Kameras führen.“ Dies stellt der in der DDR aufgewachsene und heute in Israel lebende Schriftsteller Chaim Noll fest, als er einen Tag in Hebron beschreibt. Die ARD-Journalisten Georg M. Hafner und Esther Schapira haben ähnliche Erfahrungen gemacht – bei ihren Recherchen über den Tod des zwölfjährigen Palästinensers Mohammed al-Durah.
Der französische Fernsehsender „France 2“ strahlte die bekannten Bilder vom 30. September 2000 aus: An der Netzarim-Kreuzung im Gazastreifen stirbt ein Junge in den Armen seines Vaters, offensichtlich tödlich getroffen von einer israelischen Kugel. „Wir konnten es alle sehen“, schreiben Hafner und Schapira im Vorwort zu ihrem Buch „Das Kind, der Tod und die Medienschlacht um die Wahrheit“. „Aber was haben wir tatsächlich gesehen? Welche Bilder hat die Kamera gefilmt und welche Bilder sind nur in unserem Kopf entstanden?“ Die Redakteure schildern ihre Recherchen für mehrere ARD-Beiträge zu Mohammed al-Durah, die zwischen 2002 und 2009 ausgestrahlt wurden.
„Diese Bilder sind eine Sensation“
Das Originalmaterial der Kamerabilder erhielten sie nicht, obwohl das unter Journalistenkollegen üblich ist. 55 Sekunden lang ist die Szene, die in der seinerzeit veröffentlichten Fernsehaufnahme zu sehen ist. Der palästinensische Kameramann Talal Abu Rahme hat nach eigenen Angaben sechs Minuten Material geliefert. Der Mitarbeiter des US-Nachrichtensenders CNN war an jenem Tag exklusiv für „France 2“ unterwegs. Er ist der Hauptzeuge der umstrittenen Szene, die trotz der Dramatik niemand sonst aufgenommen hat. Jahre sollten vergehen, bis die Autoren und andere Journalisten weitere Bilder zu Gesicht bekamen: am 27. Februar 2008 in einem französischen Gerichtssaal. Anlass war eine Klage von „France 2“ gegen den französischen Geschäftsmann Philippe Karsenty, der dem Sender vorwarf, gefälschte Bilder verwendet zu haben.
Schapira und Hafner schreiben dazu, der Jerusalemer Korrespondent Charles Enderlin habe eingeräumt, „die Szene um wenige Sekunden gekürzt zu haben, um den Todeskampf des Kindes nicht zu zeigen, weil diese Bilder zu grausam gewesen seien“. Sie ergänzen: „Werden wir also gleich hier im Gerichtssaal die unerträglichen Bilder des Leidens von Mohammed al-Durah sehen? Die Spannung im Saal ist mit Händen zu greifen. Vorgeführt wird allerdings auch jetzt nicht das Masterband, also tatsächlich das Videoband, das Talal Abu Rahme am 30. September 2000 bespielt hat, sondern eine notariell beglaubigte Kopie auf DVD. Zu sehen sind 10 weitere Sekunden des brisanten Materials. Und diese Bilder sind eine Sensation, denn ganz offensichtlich lebt Mohammed al-Durah da noch. Er hebt kurz seinen Arm und scheint unter ihm durchzuschauen. Ist das die angebliche Agonie des Kindes, die dem Publikum nicht zumutbar gewesen wäre? Ja, diese Bewegung sei dem Todeskampf geschuldet und kein Beweis dafür, dass Mohammed die Schießerei überlebt habe, argumentieren France 2 und Charles Enderlin und ernten empörtes Geraune im Zuschauerraum.“
Karsenty wurde in dem Prozess freigesprochen. Der Jude marokkanischer Abstammung hat die Agentur „Media Ratings“ gegründet, die sich kritisch mit der Berichterstattung von Medien nicht nur über den Nahostkonflikt befasst. Im Jahr 2009 äußerte er sich gegenüber Israelnetz zur Berichterstattung über den Vorfall an der Netzarim-Kreuzung und war dabei ähnlich kritisch wie die beiden ARD-Reporter: „Die Szene wird von Palästinensern auf eine Ebene mit den mittelalterlichen Kreuzzügen gestellt. Juden, so die umgedeutete Botschaft, töteten palästinensische Kinder einfach, weil es ihnen Freude mache. In unserem Zeitalter der Globalisierung sind die Bilder in Windeseile um die Welt gegangen, sie wurden zum Symbol für die Konfrontation des Staates Israel, der westlichen Welt und der Araber. Selbst Osama Bin Laden hat diese Filmaufnahmen dazu gebraucht, um unter seiner Gefolgschaft gegen Juden zu hetzen.“
Weiter sagte Karsenty in dem Interview: „Was ich bei meinen eigenen Recherchen aufgedeckt habe, hätte ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können. Statt sich einer wahrhaftigen Berichterstattung zu verpflichten, haben die Medien in Frankreich meine Kollegen und mich als Leugner einer aus ihrer Sicht unumstößlichen Wahrheit dargestellt. Sie taten so, als würden wir den Holocaust leugnen.“
Kein Zweifel an der Seriosität des Kameramannes
Kameramann Abu Rahme hatte kurz nach der ersten Veröffentlichung seiner Bilder unter Eid ausgesagt, dass nur israelische Soldaten für Mohammeds Tod in Frage kämen. Doch genau zwei Jahre nach dem Vorfall teilte er in einem Fax an „France 2“ mit, er habe die damalige Aussage unter Zwang gemacht. Schapira und Hafner beschreiben die Schwierigkeiten, die sich ihnen in den Weg stellten, als sie den Kameramann interviewen wollten. Die Problem hätten erst nach den vielversprechenden Vorgesprächen im Gazastreifen begonnen: „Talal Abu Rahme erfand immer neue Ausreden und Ausflüchte, er sei viel unterwegs, die verschiedenen Filmfestivals, zu denen er jetzt eingeladen werde, er lebe nur noch aus dem Koffer und könne beim besten Willen keine feste Zusage machen. Versprechen hielt er nicht ein, Verabredungen ebenso wenig. Er schien, warum auch immer, auf der Flucht vor uns zu sein.“
Auch sein Chef Charles Enderlin habe versucht, eine Begegnung mit Abu Rahme zu verhindern. „Erst gegen Ende unserer Dreharbeiten passen wir ihn schließlich in Perpignan ab, wo er gerade zum Kameramann des Jahres ausgezeichnet wird. Streng genommen hätte er an diesem Festival gar nicht teilnehmen dürfen, denn ausgezeichnet werden Fotografien, nicht Filmaufnahmen, aber für diese herausragenden Aufnahmen, für diesen besonderen Einsatz haben die Juroren eine Ausnahmeregelung geschaffen, gegen die keiner Protest erhebt. Hier wird mehr ausgezeichnet als eine Kameraaufnahme, hier geht es um ein politisches Statement, die Solidarität mit dem palästinensischen Volk.“
Die Autoren stellen fest: „Die palästinensischen Kameramänner sind vor Ort, die Korrespondenten warten im fernen Jerusalem. Ohne sie wären sie auf Agenturmaterial für ihre Reportagen angewiesen, mit ihnen können sie wenigstens so tun, als seien sie vor Ort gewesen. Sie liefern sich ihren Mitarbeitern aus. Charles Enderlin und auch seine Nachrichtenchefin sind ganz an der Seite ihres palästinensischen Kollegen und lassen nicht die geringsten Zweifel an seiner Seriosität zu.“
Erstaunlicher Wandel
Mohammeds Vater Jamal al-Durah arbeitete bis zu dem Vorfall für einen israelischen Bauunternehmer, mit dem er eine freundschaftliche Beziehung pflegte und der ihm sogar eine Operation bezahlte. „Seit jenem 30. September 2000 hat sich sein Leben radikal geändert und finanziell deutlich verbessert“, beobachteten Schapira und Hafner während der Recherchen für ihren ersten Film. Die Zeiten des Bauarbeiters seien vorbei. „Er trägt Autogrammkarten bei sich, die seinen Sohn und dessen Märtyrertum abbilden. Bezahlt wurden sie angeblich von Libyen. Er ist der Botschafter für die 2. Intifada. Er reiste nach Ägypten, Jordanien, Libyen, in den Irak und nach Südafrika zur großen UNO-Konferenz gegen Rassismus. Und überall erzählt er seine dramatische Geschichte: Die Geschichte der Ermordung seines Sohnes durch israelische Soldaten. Nur uns hat er sie immer noch nicht erzählt, als wir Mitte Juli 2001 aus Israel wieder abreisen.“
Den Autoren fällt auf, dass der Vater nach dem angeblichen Tod seines Sohnes Israel offenbar nicht mehr kennt. Er verwendet konsequent den Ausdruck „zionistisches Gebilde“ und findet kein gutes Wort für den jüdischen Staat. In seiner Darstellung gibt es viele Unstimmigkeiten, auf welche die Reporter in ihrem Buch hinweisen. So stimmt etwa das von ihm angegebene Datum für seinen Transport in ein jordanisches Krankenhaus nicht mit den Aufzeichnungen der israelischen Grenzpolizei überein. Sein damaliger israelischer Arzt erklärt zudem auf Nachfrage, dass die Verletzungen nicht von dem Vorfall im Gazastreifen stammen könnten. Vielmehr rührten sie von einer früheren Operation her. Ferner hätte der Palästinenser so schwere Verwundungen, wie er sie angeblich erlitten habe, auf keinen Fall überleben können, meint der Mediziner.
Die Reporter erleben Al-Durah als so sanft und freundlich, wie sein ehemaliger israelischer Arbeitgeber ihn geschildert hat. Dessen „Propagandasprache“ passe so gar nicht zu ihm. „Er sagt Sätze auf, politische Parolen, die auswendig gelernt klingen und wirkt dann wie ein schlechter Laienschauspieler.
Er bedient alle antijüdischen Klischees. Er erzählt uns von einer israelischen Radiosendung, in der zugegeben worden sei, dass Israel gezielt Kinder töte, ‚damit sich das palästinensische Volk nicht vermehrt‘.“
Viele Korrespondenten, aber keine differenzierten Informationen
Georg M. Hafner und Esther Schapira bringen viele weitere Beispiele für die schwierigen Bedingungen ihrer ausführlichen Recherchen. Diese haben sich durch die Alleinherrschaft der Hamas im Gazastreifen seit dem Juni 2007 noch verschärft: „Damit waren alle unseren palästinensischen Quellen versiegt.“ Die Autoren ergänzen: „Niemand wagte auch nur, mit uns zu reden oder gar für uns zu arbeiten. Sobald wir nur den Gegenstand unseres Filmes erwähnten, schlossen sich die Türen. Sowohl Jamal al-Durah als auch Talal Abu Rahme hatten einen Maulkorb bekommen, nicht nur durch die Hamas, sondern auch durch France 2. Aber auch France 2 selbst wiegelte ab, es gäbe keinen neuen Stand in der Sache und somit auch keinen Anlass für ein neues Interview.“
Immer wieder reflektieren die beiden Redakteure über die Macht der Bilder und die Rolle der Journalisten im „Medienkrieg“: „Dennoch wirft es einmal mehr die Frage auf, wie sehr die Medienpräsenz die Realität verändert. Hätte es die Bilder auch ohne Kamera gegeben? Würden die Steine und Brandsätze auch dann fliegen, wenn kein Journalist dabei wäre? Das mag eine abstrakte Frage sein, aber sie macht deutlich, wie sehr Journalisten im Medienkrieg Beteiligte sind, wie leicht sie instrumentalisiert werden können. Und wie sie zuweilen sogar aktiv die Seiten wechseln und nicht abbilden, sondern inszenieren, nicht berichten, sondern fälschen.“ An anderer Stelle heißt es: „Krieg findet nicht nur auf den Schlachtfeldern statt, sondern auch in den Medien, die über ihn berichten. Starke Bilder sind stärker als jede Munition und Bilder verletzter oder gar toter Kinder sind die stärkste Munition im Medienkrieg.“
Desillusioniert stellen die Autoren fest: „Israel ist das Land mit der mit Abstand größten Korrespondentendichte und ist doch nicht größer als das deutsche Bundesland Hessen. Nach Washington und Moskau ist Israel einer der größten Standorte für die ausländische Presse. Die Hoffnung, wir würden deshalb besonders differenziert und vielfältig über den Nahostkonflikt informiert, erfüllt sich leider nicht.“
Wörtliche Zitate der wichtigsten Protagonisten mit dem englischen Original in der Fußnote belegen die anschaulichen Ausführungen der Reporter. Das spannende und lesenswerte Buch macht deutlich, welche Auswirkungen eine tendenziöse Berichterstattung haben kann und welche Fragen zu Mohammed al-Durah bis heute nicht beantwortet sind. Dazu gehört die Frage, ob der Junge überhaupt getötet wurde, und wenn ja, durch wen. Enderlin und viele andere haben jedenfalls an der ursprünglichen Nachricht festgehalten, nach der Mohammed durch israelische Soldaten erschossen worden sei – trotz aller Widersprüche. Wer nach Argumenten für seine berechtigten Zweifel an dieser Darstellung sucht, hat mit dem Buch von Hafner und Schapira ein gutes Werkzeug in der Hand. (eh)
Georg M. Hafner/Esther Schapira: „Das Kind, der Tod und die Medienschlacht um die Wahrheit. Der Fall Mohammed al-Durah“, Edition Critic, 164 Seiten, mit 22 Abbildungen, 18 Euro, ISBN 978-3-9814548-7-1