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Wenn Spiritualität den Materialismus ersetzt

Noch mehr als der Schabbat markiert der Versöhnungstag Jom Kippur einen Einschnitt in das Alltagsleben von Juden. Im Mittelpunkt steht dabei die Vergebung.
Kinder nutzen an Jom Kippur die autofreien Straßen für Ausflüge

Zehn Tage der Buße und Umkehr läuten das jüdische Jahr ein. Sie münden am 10. Tischrei in den Großen Versöhnungstag Jom Kippur, der in diesem Jahr am Abend des 15. September beginnt. Aus diesem Anlass befasst sich die Nachrichtenseite „Algemeiner“ mit der Bedeutung der Zahl Zehn im Judentum.

Besonders bekannt sind die Zehn Gebote. Doch bevor das Volk Israel sie am Berg Sinai erhielt, erlebte es die ägyptische Sklaverei – und die Ägypter erlitten zehn Plagen. Ebenfalls auf diese Zahl bezogen ist der Zehnte, also der Anteil am Einkommen, den Juden Gott zur Verfügung stellen sollen. Viele Christen haben diese Tradition übernommen. Der Beitrag nennt auch die zehn Söhne des Judenhassers Haman, der den persischen König Ahasveros dazu aufstachelte, ein Massaker an der jüdischen Bevölkerung zuzulassen. Doch die jüdische Königin Esther stimmt ihren Mann um. Das Purimfest erinnert an diese Begebenheit.

Dass für einen Gottesdienst zehn religionsmündige Juden anwesend sein müssen, leitet sich aus der Geschichte des Erzvaters Abraham ab: Vor der Zerstörung der sündigen Städte Sodom und Gomorrha verhandelte er mit Gott und bat ihn, sie zu verschonen, wenn sich dort 50 Gerechte fänden. Gott willigte ein und ließ sich auf zehn Gerechte herunterhandeln, danach wandte er sich ab (1. Mose 18,22–33). Die Zahl der zehn Gottesdienstteilnehmer heißt auf Hebräisch „Minjan“.

Ninive als Vorbild

Jom Kippur gilt als der Schabbat schlechthin. Von Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang fasten die meisten Juden an diesem Tag. In der Synagoge wird das Buch Jona gelesen. Der biblische Prophet widersetzte sich Gottes Auftrag, den Menschen in Ninive eine Bußpredigt zu halten. Stattdessen bestieg er ein Schiff, das ihn möglichst weit in die westliche Gegenrichtung bringen sollte – nach Tarsis in Spanien. Doch Gott brachte ihn zur Umkehr, er predigte den Menschen in Ninive das Gericht, und sie taten Buße. Die Stadt im heutigen Irak wurde nicht zerstört, weil Gott mit Gnade auf die Bußbereitschaft der Bewohner reagierte.

In 3. Mose 23,26–32 steht geschrieben: „Und der HERR redete mit Mose und sprach: Am zehnten Tage in diesem siebenten Monat ist der Versöhnungstag. Da sollt ihr eine heilige Versammlung halten und fasten und dem HERRN Feueropfer darbringen und sollt keine Arbeit tun an diesem Tage, denn es ist der Versöhnungstag, euch zu entsühnen vor dem HERRN, eurem Gott. Denn wer nicht fastet an diesem Tage, der wird aus seinem Volk ausgerottet werden. Und wer an diesem Tage irgendeine Arbeit tut, den will ich vertilgen aus seinem Volk. Darum sollt ihr keine Arbeit tun. Das soll eine ewige Ordnung sein bei euren Nachkommen, überall, wo ihr wohnt. Ein feierlicher Sabbat soll er euch sein und ihr sollt fasten. Am neunten Tage des Monats, am Abend, sollt ihr diesen Ruhetag halten, vom Abend an bis wieder zum Abend.“

Bitte um Vergebung als Akt der Nächstenliebe

Die zehn Bußtage bieten Juden Gelegenheit, Gott und ihre Mitmenschen für Verfehlungen um Vergebung zu bitten. „The Algemeiner“ bringt dies in Zusammenhang mit dem Gebot aus 3. Mose 19,18: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Zudem verweist die Nachrichtenseite auf den antiken Gelehrten Hillel den Älteren, der sagte: „Tu deinem Nächsten nichts an, was dir selbst verhasst ist. Das ist die Grundlage der Tora, der Rest ist Kommentar.“ (Babylonischer Talmud, Schabbat 31a).

Im Hebräischen gibt es drei Wörter für Vergebung: slicha, mechila und kappara. Im täglichen Leben ist in Israel oft „slicha“ zu hören, wenn jemand etwa um Verzeihung bittet für ein versehentliches Anrempeln im Gedränge. Das Wort „mechila“ kann neben der Vergebung auch das Graben eines Tunnels bedeuten, wenn beispielsweise Häftlinge auf solche Weise aus einem Gefängnis entfliehen. Übertragen heißt das: Wer einem Menschen vergibt, dass dieser ihn verletzt hat, ist von der damit verbundenen Last befreit. Der Ausdruck „kappara“ wiederum ist mit „kippur“ verwandt. Die Betonung liegt hier auf der Reinigung. Durch die Vergebung ist es so, als wäre die Tat nie geschehen. Das macht Versöhnung möglich.

Manche schlachten angesichts des Jom Kippur einen Hahn. Dieser geht quasi stellvertretend für den Menschen in den Tod. Die Zeremonie trägt den Namen „Kapparot“.

Zu der Wortwurzel gehört auch die Bezeichnung „kaporet“, wie „The Algemeiner“ anmerkt. Damit ist die Bedeckung der Bundeslade im Heiligtum gemeint. Das davon abgeleitete Wort „kofer“ wiederum bezieht sich auf die Bedeckung der Arche Noah und des Altars im Tempel. Daher rühre eine Art geistliche Bedeckung (Kuppel), sie trenne das Heilige vom Alltäglichen: den Versöhnungstag vom Alltag, die Spiritualität vom Materialismus. Die Kopfbedeckung jüdischer Männer, bekannt als „Kippa“, spiegelt demnach eine geistliche Kuppel wider.

Ein Land steht still

Die meiste Zeit des Versöhnungstages verbringen Juden im Gebet. Jom Kippur ist der einzige Tag, an dem sie fünf vorgeschriebene Gebete sprechen. Ohnehin üblich sind das Abendgebet (Aravit oder Ma’ariv), das Morgengebet (Schacharit) und das Nachmittagsgebet (Mincha). Wie auch an anderen Festtagen gibt es spezielle Zusatzgebete, die unter dem Begriff „Mussaf“ zusammengefasst werden. Einzigartig ist das Ne’ila-Gebet, das nach Mincha gesprochen wird. Es verdeutlicht unter anderem, dass der Mensch sich für ein Leben nach Gottes Geboten entscheiden kann.

Bis zur Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahr 70 nach der Zeitrechnung betrat der Hohepriester am Jom Kippur das Allerheiligste. Er opferte einen Ziegenbock und schickte einen zweiten in die Wüste, nachdem er ihn symbolisch mit den Sünden des Volkes Israel beladen hatte. Nach dem Verlust des Heiligtums in Jerusalem ersetzten jüdische Gelehrte das Opfer durch Gebete. Viermal wirft sich ein Jude am Versöhnungstag zu Boden, sonst wird im Stehen gebetet.

Wie in der Bibel geboten, steht das öffentliche Leben in Israel an Jom Kippur still. Deutlich mehr noch als an einem gewöhnlichen Schabbat verzichten Juden auf das Autofahren, außer in Notfällen. Selbst viele Juden, die sich als weltlich einstufen, fasten und beten am Jom Kippur.

Richtlinien zur Vermeidung von Unfällen

Die freien Straßen bevölkern Kinder mit Fahrrädern, Skateboards und Rollschuhen. Doch dabei kommt es immer wieder zu Unfällen. Die Organisation „BeTerem“ sorgt sich um die Sicherheit von Jungen und Mädchen. Nach ihren Angaben wurden von 2010 bis 2016 an den Versöhnungstagen in Israel 470 Kinder verletzt. Vor zwei Jahren starb der achtjährige Itaj Margie, als er von einem Auto überfahren wurde. Den Fahrer verurteilte ein Gericht zu neun Jahren Haft.

Um die Zahl der Unfälle einzudämmen, hat das Wirtschaftsministerium in diesem Jahr Richtlinien für Jom Kippur veröffentlicht. Da heißt es laut der Zeitung „Jerusalem Post“, auf Fahrrädern, Rollern, Inlinern und Skateboards müsse ein Warnhinweis zum zulässigen Höchstgewicht angebracht werden. Außerdem sind Schutzhelme Pflicht. Wenn Kinder auf den Straßen unterwegs sind, muss ein Erwachsener Aufsicht führen.

Das traditionelle Widderhorn, der Schofar, verkündet das Ende des Feiertags. Dieses hat viele symbolische Bedeutungen. So gilt es als moralischer Weckruf. Es steht für Optimismus, Bestimmung oder Demut. In der Bibel ist zu lesen, wie Abraham statt seines Sohnes Isaak einen Widder opferte (1. Mose 22). Und als das Volk Israel am Sinai die Zehn Gebote empfing, war der Schofar zu hören. Das Instrument erinnert auch an die Eroberung Jerichos unter Josuas Führung (Josua 6) und an Gideons Sieg über die zahlenmäßig übermächtige midianitische Armee (Richter 7).

Nach jüdischer Auffassung besiegelt Gott am Ende des Jom Kippur, wenn der Schofar ertönt, sein Urteil über das weitere Leben der Betenden. Deshalb wünschen Juden einander vor dem Versöhnungstag „Gmar chatima tova“ – eine gute Einschreibung in das Buch des Lebens. Wie auch am Schabbat kennzeichnet das Havdala-Gebet, das zwischen Heiligem und Weltlichem trennt, den Beginn des Alltags. Nun beginnen die Fastenden wieder mit Essen und Trinken. Manche fangen schon an, die Laubhütte für das bevorstehende Sukkot-Fest zu bauen.

1973: Überraschungsangriff am Fastentag

Ein schmerzliches Kapitel ihrer Geschichte verbinden Israelis mit dem Jom Kippur vor 48 Jahren: Am 6. Oktober 1973 griffen arabische Truppen während des hohen Feiertages Israel an. Trotz der Überraschung konnten die Israelis den Krieg am Ende für sich entscheiden. Er ging als Jom-Kippur-Krieg in die Geschichte ein, Araber nennen ihn „Oktoberkrieg“.

Von: Elisabeth Hausen

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