75 Jahre Israel sind nicht nur ein Dreivierteljahrhundert Geschichte des modernen jüdischen Staates selbst. Es sind auch 75 Jahre deutsch-israelischer Beziehungen – wenn es sich zu Beginn auch eher um eine Nicht-Beziehung handelte, die erst mit den Jahren zu den vollwertigen diplomatischen Kontakten seit 1965 hinwuchs.
Der deutsch-israelische Historiker Michael Wolffsohn hat das Jubiläum dieses Jahres zum Anlass genommen, seinen 1988 erstmals veröffentlichten Klassiker „Ewige Schuld?“ zu den „deutsch-jüdisch-israelischen Beziehungen“ neu auf den Markt zu bringen. Wobei das Prädikat „neu“ hier tatsächlich angemessen ist.
Denn der 76-jährige emeritierte Professor – Selbstbezeichnung: „ein mit Israel stark verbundener, kosmopolitisch-westlich deutschjüdischer Patriot“ – hat umfassende Ergänzungen vorgenommen. Zum einen, indem er in bestehenden Kapiteln einzelne Wörter, Sätze oder Absätze neu einfügte. Zum anderen, indem er neue Kapitel hinzufügte. Sie spiegeln die einfache Fortentwicklung der Geschichte (etwa Kapitel zu Gerhard Schröder und Angela Merkel), aber auch das Aufkommen neuer Debatten, wie die in den vergangenen Jahren immer stärker von postkolonialistischer Seite betriebene Vereinnahmung des Holocaust.
Wolffsohn kommentiert sich selbst
Herausgekommen ist damit ein schon methodisch ziemlich einzigartiges Buch. Denn Wolffsohn hat seine Ergänzungen nicht so eingefügt, dass man nicht wüsste, wo er nochmal Hand angelegt hat. Im Gegenteil: Alles Neue ist blau hervorgehoben. Das ist ein interessantes Experiment, weil das Buch so nicht ein bloßer Essay bleibt, sondern auch zu einer Quelle dafür wird, wie sich die Einschätzungen eines Historikers innerhalb von 35 Jahren verändern.
Das bedeutet aber auch, dass dem Leser einiges abverlangt wird: Er muss sich die verschiedenen Ebenen immer vor Augen halten und darf sich nicht irritieren lassen, wenn im (alten, aber so belassenen) Text etwa von der noch existierenden DDR die Rede ist. Es liegt in der Natur der Sache, dass sich das Buch nicht wie aus einem Guss liest, sondern Wolffsohns Selbst-Kommentierung vielfach den laufenden Text unterbricht.
Wenn der Autor dann dort auch noch Literaturhinweise unterbringt, dürfte das für den gemeinen Leser bisweilen eher trockene Kost sein. „Wiedergutgemacht“ – um in der Diktion des Themas zu bleiben – wird das durch scharfzüngige Formulierungen an vielen anderen Stellen, die an Klarheit nichts zu wünschen übrig lassen.
Eine alternative Deutung
Inhaltlich dürfen Leser keine umfassende, gar abschließende Gesamtdarstellung der deutsch-jüdisch-israelischen Beziehungen erwarten. Das meiste, was Wolffsohn schreibt, ist für den mit der Geschichte des deutsch-jüdisch-israelischen Verhältnisses vertrauten Leser nichts Unbekanntes – das gilt auch für die neuen Teile nach 1988.
Eine Gesamtdarstellung will Wolffsohn aber auch gar nicht bieten. Er versteht sein Buch vielmehr als Versuch, „zeithistorisch-politische Skizzen mit Essays zu verbinden, einen Interpretationsrahmen zu liefern“. Neudeutsch könnte man sagen, dass Wolffsohn die Geschichte der deutsch-jüdisch-israelischen Beziehungen auf seine Weise „framet“.
Und genau darin liegt seine Stärke: Der Autor zeichnet eine andere, von der allgemeinen Deutung abweichende Interpretation der deutsch-jüdisch-israelischen Beziehungen; die geht nämlich ungefähr so: Deutschland hat große Schuld auf sich geladen, ist aber Weltmeister in der Schuldbewältigung und Demut und daher heute besonders gut zu den Juden und zum Staat Israel.
Mit Mythen aufräumen
Wolffsohn hingegen räumt auf mit dem Mythos der besonderen Israel-Freundlichkeit und Israel-Nachsichtigkeit der bundesrepublikanischen Deutschen insgesamt; die nämlich lässt sich etwa für die Regierungsebene aus den politischen Akten in der Tat kaum erhärten. Helmut Schmidt zum Beispiel war Großmeister darin, sich über Menachem Begins Siedlungspolitik zu echauffieren, ohne gleichzeitig den Terror der „Palästinensischen Befreiungsorganisation“ (PLO) zu geißeln, an deren Aufwertung gerade Bonn mit der sogenannten Venedig-Erklärung der Europäischen Gemeinschaft (EG) 1980 maßgeblich beteiligt war.
Oder nehmen Sie Willy Brandt, der im allgemeinen Verständnis (Kniefall von Warschau!) wohl als besonders historisch bewusst gelten dürfte. Es war gerade seine Regierung, die auf eine „Normalisierung“ der Beziehungen zu Israel „ohne Komplexe“ pochte, und er selbst, der beim ersten Besuch eines amtierenden bundesrepublikanischen Kanzlers in Israel 1973 durchaus selbstbewusst auftrat.
Einen „Denkmalsturz“ (O-Ton Wolffsohn) Brandts zu betreiben, scheint dem Autor ein Herzensanliegen zu sein. Er hat bereits in der Vergangenheit seine Erkenntnisse dazu publiziert und nun auch im neuen Buch gerade an dieser Stelle umfassend ergänzt. Wieder gilt: Wer seine Arbeiten kennt, wird hier nicht viel Neues finden. Allen anderen – gerade Politikern – sei die Auseinandersetzung damit nachhaltig ans Herz gelegt.
Unsere Politiker sollten das lesen!
Höchst relevant für die gegenwärtige Politik sind auch Wolffsohns Ausführungen zur Aktualität. So erwartbar wie richtig geht er unter anderem auf den mit der Massenmigration neu importierten Antisemitismus ein. Seine These, gerade der „vermeintliche deutsche Schutzengel“ Israels, Angela Merkel, habe mit seiner Migrationspolitik das Ende der besonderen Beziehungen zu den Juden und Israel eingeläutet, ist so beißend und vernichtend wie richtig.
Wolffsohn bleibt aber nicht dabei stehen, sondern macht der Politik auch ein geschichtspolitisches Lösungsangebot: Anstatt immer wieder die „alten Platten“ der deutschen Erinnerungskultur aufzulegen, müsse das bundesrepublikanische Erinnern angepasst werden an die Veränderung der Gesellschaft. Heißt zum Beispiel: Nicht nur über Hitler, Himmler und Göring sprechen, sondern auch über den mit Hitler kollaborierenden islamischen Großmufti von Jerusalem und über das islamische Judenpogrom im Irak 1941 („Farhud“).
Geschichte als Falle
Doch auch unabhängig von der Migrationsfrage beobachtet Wolffsohn ein zunehmendes Auseinanderdriften zwischen Deutschland und Israel. Die Geschichte, das sieht er heute noch mehr so als früher, werde zur „Falle“ für das deutsch-israelische Verhältnis, weil beide Seiten vollkommen konträre Schlüsse daraus gezogen haben: „Nie wieder Gewalt“ hier in Deutschland, „Nie wieder Opfer“ dort in Israel; nationale Selbstauflösung hier, nationale Wiedergeburt da.
Israelis und Deutsche verstehen einander nicht. Nur angedeutet wird von Wolffsohn, dass der Krieg in der Ukraine jedenfalls bezüglich der Gewaltfrage ein Umdenken in Deutschland (und eine Anpassung an Israel) bewirken könnte. Das gilt es weiter zu beobachten.
Wolffsohns Fazit im Nachwort fällt dann so aus: „Die jüdisch-israelische [Welt] betrachtet Deutschland und ‚die‘ Deutschen als echte Freunde. ‚Die‘ meisten Deutschen sind dieser Freundschaft mehr oder weniger überdrüssig […]. Irgendwann wird diese Wirklichkeit nicht mehr durch Worte zu überdecken sein. Wer will, wer kann angesichts dieser Entwicklungen zuversichtlich in die deutsch-jüdisch-israelische Zukunft blicken?“ Ein Ausblick so düster wie realistisch.
Michael Wolffsohn: „Ewige Schuld? 75 Jahre deutsch-jüdisch-israelische Beziehungen“, Langen Müller, 220 Seiten, 24,00 Euro, ISBN 978-3-7844-3651-7
Der Autor der Rezension studiert Zeitgeschichte in Potsdam und schreibt derzeit seine Masterarbeit über die bundesrepublikanische Palästinenserpolitik in den 1980er Jahren.
7 Antworten
Ohne den Gott der Bibel, ohne den Gott Israels, ohne den Gott der zur Rettung aller Menschen seinen Sohn in die Welt gesandt hat, gibt es in der Tat, keinen Anlass zu Optimismus.
Alleine in Jesus Christus besteht Grund zur Hoffnung, für alle Menschen.
Wie kostbar zu wissen, dass Jesus uns so sehr liebhat!
Lieber Gruß Martin
Das denke ich auch. Die Deutsch-Israelische- sogenannte Freundschaft ist längst brüchig und war oft künstlich. Wobei es tatsächlich wahre und ehrliche Israelfreunde gibt.
Christin schrieb mal vor einigen Jahren, als BDS damals IL boykottierten mit Waren nach Europa, dass Israel
weiß, dass EU nicht ihre Freunde sind. Du hattest es damals schon erkannt, Christin. Danke für deine Liebe zu unserem Volk. Du bist eine von uns. Shalom.
„Wolffsohn hingegen räumt auf mit dem Mythos der besonderen Israel-Freundlichkeit und Israel-Nachsichtigkeit der bundesrepublikanischen Deutschen insgesamt; die nämlich lässt sich etwa für die Regierungsebene aus den politischen Akten in der Tat kaum erhärten. Helmut Schmidt zum Beispiel…“
Brandt und Schmidt waren vor 50 Jahren Bundeskanzler. Es ist schon bezeichnend wenn Herr Wolffsohn so weit in die Geschichte zurück gehen muß, um Beweise für seine These zu finden.
@Klaus
Die Geschichte der Historiker beginnt nicht erst mit dem Gestern.
Ausserdem heisst es im Text: „Der Autor hat sein erstmals 1988 erschienenes Buch pünktlich zum 75. Staatsjubiläum Israels neu überarbeitet.“
Ein kluger Mann, der Herr Wolffsohn! Außerdem denke ich, daß Israel schon längst weiß, daß es sich auf Deutschland und natürlich auch die EU niemals verlassen kann. Ich paraphrasiere Dara Horn: „people, vor allem deutsche Politiker, love dead jews, aber sicherlich keine lebenden Juden“
„Nie wieder Gewalt“ hier in Deutschland, „Nie wieder Opfer“ dort in Israel“
Gewalt nur zu verurteilen wenn man selbst das Opfer ist, ist eben etwas zu kurz gedacht.
Ewige Schuld?
1963 geboren empfinde ich keine Schuld.
Für uns Spätgeborenen ist es die ewige Pflicht zu erinnern und nicht zu vergessen. Und Sorge zu tragen, dass sich dieses große Unheil nicht wiederholt.
Mit der historischen Rute regelmäßig unser politisches Establishment zu läutern, finde ich in Ordnung. Ein wahrer Freund Israels ist daran zu erkennen, wie er darauf reagiert.
Ein wahrer Freund Deutschlands ist daran zu erkennen, wie die Rute geschwungen wird.
Der Antisemitismus in der Migrationsfrage ist ein aktuelles Problem, dass man hier in unserem Land lösen muss. Die Kausalität dazu wird in der Außen- und Innenpolitik Israels zu finden sein.
Europa und darin Deutschland steht Israel als Freund zur Seite, Israel gehört zu Europa, aber nicht um jeden Preis.
Ich denke, dass ist uns allen seit Februar 2022 bewußt.
Vielleicht sollte sich Jerusalem auf dem Weg nach Brüssel machen. Wäre eine tolle Sache. Würden sich gut in dem europäischen Durcheinander wohl fühlen.
Schalom