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Warum der Krieg Israels ewigen Streit noch einmal verschärft

Israel debattiert über die Wehrpflicht für Ultra-Orthodoxe – mal wieder: Der Streit ist seit Jahrzehnten ungelöst, aber der Krieg hat ihn noch angeheizt. Nun urteilte das Hohe Gericht, doch eine Lösung ist nicht in Sicht.
Von Sandro Serafin

Der Hamas-Überfall vom 7. Oktober hat vieles verändert in Israel. Wie weggeblasen schienen unmittelbar nach den Massakern die vielen Streitereien, die die israelische Gesellschaft in den Monaten zuvor von innen zerrüttet hatten. Auch der große Graben zwischen weiten Teilen der Bevölkerung und den ultra-orthodoxen Juden wurde etwas kleiner.

Seit Jahrzehnten hatte es Streit darum gegeben, ob auch die „Gottesfürchtigen“ (Haredim) zur Armee gehen müssen, was bislang nicht der Fall ist. Nun machten Pressemeldungen die Runde, wonach sich Haredim unter dem Eindruck der Ereignisse zum Dienst in der Armee meldeten. Sogar ein Sohn Arje Deris, des ultra-orthodoxen Chefs der Schass-Partei, tauchte in Armeeuniform auf. Hoffnung wurde laut, dass sich tatsächlich etwas ändern könnte.

Mittlerweile sind diese Erwartungen wieder weitgehend verflogen – und die scharfen Debatten um die Wehrpflicht für Ultra-Orthodoxe endgültig mit voller Wucht in die israelische Innenpolitik zurückgekehrt. Es ist ein Beispiel dafür, wie alte, vorübergehend verschüttete Konflikte ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn wieder mehr und mehr zum Vorschein kommen. Aber von vorne.

Alles fing mit 400 Männern an

Der Streit um die Wehrpflicht für die Strenggläubigen ist ein „Klassiker“ der innerisraelischen Auseinandersetzungen. Er geht zurück bis auf die Zeit der Staatsgründung, als Staatsgründer David Ben-Gurion entschied, eine Gruppe Haredim für das Studium der religiösen Schriften vom Wehrdienst zu befreien. Dem Sozialdemokraten war daran gelegen, alle Bevölkerungsteile in den neuen Staat einzubinden.

Eine große Sache war das zunächst nicht: Die Regelung betraf anfangs etwa 400 Männer. Mit der Zeit aber nahm der Anteil der Strenggläubigen an der Gesamtbevölkerung zu und damit auch unter den potentiell Wehrpflichtigen. Je länger Ben-Gurions Präzedenzentscheidung zurücklag, desto mehr wurde sie zum Problem.

„Tora ist ihr Handwerk“

Mittlerweile ist laut Israelischem Demokratieinstitut, das sich auf Armeeangaben bezieht, jeder vierte potentielle Rekrut ultra-orthodox. 2021 gingen aber nur 12 Prozent der haredischen Männer im wehrfähigen Alter tatsächlich zur Armee; darunter sind wiederum viele, die sich selbst gar nicht als Haredim verstehen. Über 10.000 Ultra-Orthodoxe erhielten hingegen die Anerkennung, dass „ihre Tora ihr Handwerk“ ist – und sie deswegen nicht eingezogen werden.

Um die Haredim geht es in den Koalitionsverhandlungen bei potentiellen Konfliktthemen wie dem Schabbat oder der Wehrpflicht für Ultra-Orthodoxe Foto: Israelnetz/mh
„Tora ist ihr Handwerk“: Ultra-orthodoxe Juden in Israel (Archivbild)

Das entspricht unter dem Strich 17 Prozent aller potentiellen Rekruten. Nach Erwartung des Demokratieinstituts könnte diese Zahl 2050 bis auf 40 Prozent gestiegen sein. Entsprechend tiefe Zukunftsängste sind mit dem Thema verbunden: Viele fragen sich nicht nur, ob sie irgendwann in einem ultra-orthodoxen Zwangsstaat leben, sondern auch, wie dieser dann noch wirtschaftlich lebensfähig sein und militärisch verteidigt werden soll.

Ein ewiges Hin und Her ohne Lösung

Bereits 1970 ging in der Angelegenheit die erste Klage bei Gericht ein. 1998 kam es dann zu einem wegweisenden Urteil: Das Hohe Gericht entschied, dass die Befreiung von der Wehrpflicht nicht einfach durch den Verteidigungsminister gewährt werden dürfe; vielmehr müsse die Knesset als demokratisch stärker legitimierte Institution ein Gesetz verabschieden. Die Richter begründeten das damit, dass das Grundrecht auf Gleichbehandlung berührt sei.

Die Entscheidung setzte eine Kaskade aus Diskussionen, Kommissionen und Gesetzentwürfen in Gang. Letztere wurden teils tatsächlich verabschiedet, teils aber auch wieder gerichtlich oder durch neue Regierungen kassiert. Nimrod Schafer, einstiger Stabschef der israelischen Luftwaffe, brachte das Gefühl vieler säkularer Israelis jüngst in einem Kommentar für das Nachrichtenportal „Mako“ auf den Punkt: „Mehr als 25 Jahre sind verstrichen, seit das Oberste Gericht die Nichtrekrutierung von Jeschiva-Schülern für ungültig erklärte. Seitdem wechselten sich die Regierungen ab und die Politiker taten alles dafür, uns wieder und wieder für dumm zu verkaufen – und das Gericht ließ es zu und normalisierte es.“

Alte Regelung ist ausgelaufen

Dass die Debatte gerade jetzt wieder hochkocht, hat zunächst damit zu tun, dass der bislang letzte Regelungsversuch von 2015 zwei Jahre später zunächst ebenfalls für rechtswidrig erklärt wurde und im Sommer 2023 auslief. Die Regierung verlängerte die Ausnahmen für Ultra-Orthodoxe de facto noch einmal bis zum 31. März 2024, konnte sich aber in der Zwischenzeit nicht auf einen neuen Konsens verständigen. Aus rechtlicher Perspektive unterliegen Ultra-Orthodoxe aktuell daher genauso der Wehrpflicht wie alle anderen israelischen Juden und müssten eigentlich auch eingezogen werden.

Zusätzlich angeheizt wird die Diskussion durch den Krieg: Nicht nur fürchtet ein Großteil der Bevölkerung täglich um angehörige Soldaten im Gazastreifen. Im Februar machte die Armee auch noch ihr Ansinnen öffentlich, die allgemeine Wehrpflicht und den Reservedienst angesichts der veränderten Sicherheitslage für die Gesamtbevölkerung zu verlängern: So sollen Männer künftig 36 Monate dienen anstatt wie bisher 34. Einfache Reservisten müssen nach dem Plan künftig 42 Reservetage pro Jahr nachweisen; bislang waren es 54 in drei Jahren.

Das Unverständnis für die ultra-orthodoxe Ausnahme ist vor diesem Hintergrund umso größer. Es reicht bis weit in die nationalreligiöse Gesellschaft hinein, die den Haredim noch am nähesten steht: „Nicht logisch, nicht moralisch – und vor allem nicht jüdisch“ sei die Verweigerung der Strenggläubigen, konnte man jüngst in der religiös-zionistischen Zeitung „Makor Rischon“ lesen. Insgesamt sind laut einer Umfrage des Demokratie-Instituts zwei von drei Israelis dafür, die Ausnahme für die Ultra-Orthodoxen zu ändern.

Angst vor dem „Schmelztiegel“ Armee

Das Gros der ultra-orthodoxen Führung sperrt sich jedoch weiterhin vehement dagegen, mit verschiedenen Begründungen. Jehoschua Eichenstein etwa, ultra-orthodoxer Leiter einer Jeschiva, warf der Armee jüngst in einem Brief vor, sich als „Schmelztiegel“ für die Jugend Israels zu verstehen, „sie mit dem Säkularismus zu vermischen und sie abzubringen von unserem Vater im Himmel“.

Haredim demonstrieren in Jerusalem gegen Wehrpflicht für Ultraorthodoxe. (Archivbild) Foto: Israelnetz/mh
Haredim demonstrieren im März 2014 in Jerusalem gegen Wehrpflicht für Ultra-Orthodoxe (Archivbild)

Der eigentliche Punkt aber sei, dass „auch im Königreich des Hauses David“ der Stamm Levi nicht in den Krieg gezogen sei, sondern sich mit der Tora beschäftigt habe: „Die Jeschiva-Schüler sind diejenigen, die den ewigen Fortbestand der Tora im Volk Israel sichern. Ihre Mobilisierung für die Armee bedeutet, die Zukunft des Volkes Israel zu zerstören!“ Eichenstein verglich die Rolle der Ultra-Orthodoxen zudem mit jenen Israelis, die ihren Dienst etwa in den Geheimdiensten verrichteten: Diese würden ja auch nicht an der Front stehen „und trotzdem behauptet niemand, dass das eine Ungleichbehandlung ist“.

„Geistliche Gefahr“

Ischai Cohen, Kommentator bei der ultra-orthodoxen Nachrichtenseite „Kikar HaSchabbat“, hat zuletzt eine Verhärtung des Diskurses wahrgenommen: „Im letzten Monat wurde klar, dass die ultra-orthodoxe Führung einen Schritt zurück gemacht hat und den Politikern klare Stoppschilder aufgestellt hat. Zuerst hieß es nur, dass aktive Jeschiva-Studenten nicht rekrutiert werden sollen. Nun sagen hochrangige Rabbiner, dass selbst jene, die nicht studieren, von der Rekrutierung ausgeschlossen bleiben sollen.“

Unter den Ultra-Orthodoxen insgesamt geben laut einer bei „Kikar HaSchabbat“ veröffentlichten Umfrage allerdings 55 Prozent an, klar für die Rekrutierung von Haredim zu sein, die nicht studieren. Eine große Mehrheit ist demnach zudem grundsätzlich offen dafür, eine neue Regelung zu finden. Gleichzeitig meinen aber 78 Prozent, dass der „Gijus“, also die Rekrutierung, eine „geistliche Gefahr“ darstelle.

Große Gräben zu überbrücken

Diese Aussage zeigt, wie groß die Gräben sind, die es zu überbrücken gilt. Mit der aktuellen Regierung ist das kaum möglich. Zwar fordern auch in der Partei von Premierminister Benjamin Netanjahu vermehrt Stimmen, die Ultra-Orthodoxen stärker in die Pflicht zu nehmen. Allerdings hängt die Regierungsmehrheit von drei strengreligiösen Parteien ab. Sämtliche Einigungsversuche für eine neue Regelung sind bislang gescheitert.

Befriedigung verschaffte einigen Israelis nun immerhin ein weiterer Urteilsspruch des Hohen Gerichts am 28. März. Mit Wirkung vom 1. April verbot das Gericht dem Staat per einstweiliger Anordnung, „Geld an religiöse Studieneinrichtungen zwecks Unterstützung von Studenten zu überweisen, die keine Befreiung vom oder einen Aufschub des Militärdienstes erhalten haben“. Da die Befreiung von der Wehrpflicht zum 1. April mangels Ersatzregelung ausgelaufen ist, drohen den Talmud-Tora-Schulen nun erhebliche finanzielle Einbußen.

Obwohl das eigentliche Urteil in der Sache noch aussteht, feierten einige nicht-haredische Beobachter die Entscheidung als großen Erfolg. Am Problem selbst wird sich jedoch erst einmal wenig ändern: Dass Haredim demnächst massenhaft einberufen werden, ist kaum vorstellbar. Der Konflikt um die Wehrpflicht für ultra-orthodoxe Israelis geht also weiter. Er hat das Potential, die Einheit der Israelis mitten im Krieg empfindlich zu untergraben.

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12 Antworten

  1. Die Gräben sind tief, aber gegenüber dem weltweiten Antisemitismus und den anderen Problemen wie Putin-Krieg, China etc. sollte dieses Problem zu lösen sein. Am Besten mit einer Kompromisslösung.
    Schließlich gibt es ja in der IDF eine Gruppe Ultra-Orthodoxer Juden, deren 25-jähriges Jubiläum gefeiert wurde.
    Ich glaube, es ist gewaltige, größere Probleme als das der Regelungen der Wehrpflicht für Ultra-Orthodoxe.

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  2. Wenn die “ streng gläubigen“ in der Regierung von Netanjahu die Mehrheit inne haben, dann wird es zu keiner Lösung kommen. Und dass die Ultra Orthodoxen zunehmen, liegt auch daran, dass sie in der Regel mehr Kinder bekommen als die übrigen Israelis. Wenn sie aber partout nicht zur Wehrpflicht eingezogen werden möchten, könnten sie ja trotzdem als Rettungssanitäter helfen oder dort arbeiten, wo Hilfe benötigt wird. Denn wer zum Skiurlaub in die Schweiz reisen kann, sollte auch in dieser Krisenzeit bereit sein mitzuhelfen.

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  3. Wehrpflicht für Ultra-Orthodoxe? Nein. Wer will soll zur Armee gehen dürfen und für Israel kämpfen.

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    1. Diese Ultra- Orthodoxen gehen ja meist auch keiner regulären Arbeit nach. Sie widmen ihre Zeit ausschliesslich dem Studium des jüdischen Glaubens. Dann frage ich mich, von was bestreiten sie ihren Lebensunterhalt?

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      1. Sie bekommen staatliche Unterstützug und in manchen Familien arbeiten die Frauen und tragen zum Lebensunterhalt bei.

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  4. Es ist ja n u r eine Gruppe Strengreligiöser, die nicht zum Militär gehen. Andere Ultra Religiöse
    verrichten Dienst und arbeiten im Leichenteilen sortieren, ihnen eine angemessene Beerdigung
    zu verrichten. Schwierige Arbeit.
    Es gibt wirklich größere Probleme in IL, aber es kommt immer wieder auf den Tisch.

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  5. „Nach Erwartung des Demokratieinstituts könnte diese Zahl 2050 bis auf 40 Prozent gestiegen sein.“

    Eine sehr erfreuliche Entwicklung. Gerade im Heiligen Land kann man die religiösen Schriften nie genug studieren.

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    1. Liebe Britta, was ist daran eine erfreuliche Entwicklung? Ich habe nichts gegen Gläubige die beten. Aber 40% die nichts anderes tun und sich dafür vom Staat unterhalten lassen? Dafür müssen alle anderen arbeiten, Wehrdienst leisten und Steuern zahlen. Israel hat durch den Krieg schon einen massiven wirtschaftlichen Einbruch erlitten. Überall fehlt es an Helfern.
      Ich sehe darin keine erfreulche Entwicklung. Und ich mache mir aufrichtige Sorgen um die Zukunft Israels.

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  6. Ein gescheiter Ersatzdienst könnte Bewegung in die verhärteten Fronten bringen. Das Thema Militär scheint ja für diese „Haredim“ ein rotes Tuch zu sein. Vielleicht lassen sie sich für einen Ersatzdienst auf einen Kompromiss ein. Das würde der inneren Spaltung entgegenwirken.

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  7. Als ich 1995 zum ersten Mal in Israel war, sah unsere Reisegruppe eine Demo. Es waren ultraorthodoxe Juden auf der einen und säkulare auf der anderen Seite. Unsere Reiseleiterin erklärte uns mit Träen in den Augen, was sie sich gegenseitig zuriefen.

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  8. Ich bin dafür, dass Israel dieses einzige Recht der Kriegsdienstverweigerung behält, aber die Privilegien der Orthodoxen beschneidet. Ein IDF Soldat riskiert sein Leben, deshalb muss er den besseren Lohn behalten. Außerdem würde ich die Orthodoxen in Kriegszeiten zu ehrenamtlicher Arbeit heranziehen, nebenbei machen sie Seelsorge und beten und lernen die Thora. Das ist eine Ausnahme?! Ich finde generell, dass priesterliche nicht zu viele Privilegien haben sollten, weil sie dann den Anschein erwecken, ihren Dienst nicht aus Begeisterung zu machen. Das braucht aber das Herz Volk! Der Cousin meiner Mutter aus Luxemburg wurde in die Wehrmacht zwangseingezogen, ein überfallenes Land, hätte er desertiert wären 10 Luxemburger erschossen worden – darunter Kinder -. Bevor er zu den Partisanen in Russland überlief hat er seine Erkennungsmarke gegen die eines toten deutschen Soldaten vertauscht. Er war bis 1945 verschollen, seine Familie dachte er sei tot, er kämpfte NUR gegen Hitler … die Route war Russland, Osteuropa, Griechenland, Italien und erst als die USA Luxemburg befreiten, tauchte er dort wieder auf. Er sagte du kannst so tun als würdest du kämpfen, was willst du machen? Ich habe gestunken wie ein Schwein und mir mehr als einmal in die Hosen gemacht trotz der vielen Ave Maria. Er war körperlich intakt als er das erzählte. Deshalb glaube ich nicht an erzwungenen Kriegsdienst. AM ISRAEL CHAI

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  9. Wodurch definieren sich die ultraorthodoxen Juden. Durch Studium der Tora – aber wie und wie lange, was ist, wenn er fertig studiert hat?
    Bei uns in Österreich gab es schon immer die Möglichkeit, den „Dienst mit der Waffe“ aus religiöser/ moralischer Überzeugung zu verweigern. Diese werden dann zu Zivildienstlichen Aufgaben, als Rettungsfahrer und Helfer, in Altenheimen usw verwendet und sind mittlerweile in der Öffentlichkeit sehr geachtet.

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