Das Buch Micha schreibt in Kapitel 7,20 Jakob die Wahrheit und unserem Vater Abraham die Gnade zu. Warum Abraham die Gnade zugeschrieben wird, ist leicht verständlich. In seiner Lebensgeschichte, die in Bereschit, dem 1. Buch Mose, aufgeschrieben ist, lesen wir von einigen Situationen, in denen sich Abraham anderen gegenüber gnädig und freundlich verhielt.
Als Gott plant, Sodom zu zerstören, bittet Abraham ihn darum, den Menschen von Sodom gnädig zu sein. Er spricht positiv über Sodom, um das Gericht abzuwenden: „Abraham blieb stehen vor dem HERRN und sprach: Willst du denn den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen?“ (1. Mose 18,23). Zu Beginn des Kapitels demonstriert Abraham zum ersten Mal in der Bibel in umfänglicher und hingebungsvoller Weise die Mitzva – das Gebot – der Gastfreundschaft, die für die folgenden Generationen beispielhaft wurde.
„Du wirst an Jakob Wahrheit und an Abraham Güte erweisen, wie du unsern Vätern vorzeiten geschworen hast.“
Micha 7,20
Die Zuschreibung der Wahrheit für Jakob ist aber weniger klar. Im Laufe seines Lebens gibt es viele Situationen, die das Gegenteil von Wahrheit bezeugen. Jakob verkleidete sich als Esau und erhielt so auf betrügerische Weise den Segen, der für seinen älteren Bruder bestimmt war, wie Isaak ihm sagte: „Dein Bruder ist gekommen mit List und hat deinen Segen weggenommen“ (1. Mose 27,35). Selbst als Jakob das Haus seines Schwiegervaters verlässt, geht er nach einer Täuschung – mit Beute aus Labans Herde.
Doch auch Jakob gegenüber gab es Fälle von Betrug. Der größte und bedeutsamste war, dass man ihm zu seiner Hochzeit nicht Rahel gab, die Frau, die er heiraten wollte, sondern Leah, die Braut, die ihm Laban zugedacht hatte. „Warum hast du mir das angetan? Habe ich dir nicht um Rahel gedient? Warum hast du mich denn betrogen?“ (1. Mose 29,25). Eigentlich trifft eher das Wort „Betrug“ auf ihn zu; wie ein roter Faden zieht es sich durch seine Lebensgeschichte. Warum also wurde ihm die Wahrheit, also das Gegenteil, zugedacht?
Innere Achse dreht sich um die Wahrheit
Ich erinnere mich, dass mein Vater einmal diese Frage mit uns diskutierte. Er sagte, dass Jakob vielleicht nicht das beste Beispiel für die Wahrheit sei, aber er immer der Wahrheit gegenüberstand und mit ihr konfrontiert war. Ihm dieses Kennzeichen zuzuschreiben, bedeutet nicht, dass er alle Herausforderungen und Prüfungen gemeistert hat. Es kann vielmehr von dem Weg und dem Prozess zeugen, den er an den verschiedenen Stationen seines Lebens gegangen ist. Die Handlung mag sich dabei ändern, aber es gibt eine innere Achse, die sich immer um die Wahrheit dreht, eine Achse, die der Wahrheit begegnet. Manchmal erfolgreich und manchmal nicht.
Bei meiner Arbeit als Lehrerin treffe ich viele Kinder in unterschiedlichen Situationen. Ich denke, dass mich mein Vater in der Deutung dieses Verses, aber auch in der Art, wie er lebte und lehrte, geprägt hat. Er lehrte mich, Menschen nicht nur unter einem bestimmten Aspekt anzuschauen, sondern sie in ihren Herausforderungen zu verstehen – selbst wenn sie diese nicht immer erfolgreich bestehen. Wenn ein Mensch seinen Weg geht, ist diesem eine Schönheit und Kraft zu eigen. Das gilt auch, wenn nicht immer alles gelingt.
Hinter uns liegen die Jamim nora‘im, die sogenannten furchterregenden Tage, das Neujahrsfest Rosch HaSchanah und der große Versöhnungstag Jom Kippur. Es sind Meilensteine, an denen wir Juden aufgefordert waren, als Menschen zu beten, die in unserem Dienst für Gott erfolgreich sind, aber auch scheitern.
Es ist die Zeit, in der wir uns für Erfolge bedanken dürfen und um Vergebung für Misserfolge bitten sollten. Das neue Jahr hat begonnen. Aus meiner Sicht ist das ein ausgezeichneter Zeitpunkt, um ehrlich und mit gutem Auge Entscheidungen zu treffen und unsere Seele zu prüfen.
(Übersetzung aus dem Hebräischen: Merle Hofer)
Rivka Schloss lebt in Jerusalem. Neben ihrer Anstellung als Grundschullehrerin, in der sie unter anderem Bibelkunde unterrichtet, ist sie Schauspielerin.
2 Antworten
Wahrheit ist Kenntnis von Dingen, wie sie waren, wie sie sind und wie sie sein werden.
Da gibt es nur eine Wahrheit.
Wer dagegen verstößt, wird einmal scheitern, da sie der Wirklichkeit zu wieder läuft.
Erst wenn der wahrgenommen Wahrheit jegliche Bewertung entzogen wird, wird diese zur Erkenntnis.
Erkenntnis kann sehr bitter oder auch höchst erfreulich sein.
Letztendlich bildet Erkenntnis das Fundament für Authentizität, wenn man sich diese denn zugesteht.