Die Erinnerungen Charlotte Knoblochs an die so genannte „Kristallnacht“, den großen Pogrom gegen Juden vor 86 Jahren, sind es wert, an nachfolgende Generationen vermittelt zu werden. Die frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland (2006–2010), die von 2005 bis 2013 auch Vizepräsidentin des Jüdischen Weltkongresses war, ist seit 1985 Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Eine moderne Anwendung für „Virtuelle Realität” (VR) erlaubt nun einen Blick darauf, wie Knobloch als sechsjähriges Mädchen die Pogromnacht erlebte.
Dass dies nicht nur für einen historischen Blick auf die Vergangenheit wichtig ist, sondern für jeden Mitbürger unserer Zeit bedeutsam, zeigt der neueste Bericht der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS): Der Überfall palästinensischer Terroristen auf Israel am 7. Oktober 2023 und der anschließende Krieg in Gaza haben weltweit eine antisemitische Mobilisierung ausgelöst.
„Für Juden war der Angriff eine tiefgreifende Zäsur”, heißt es im Bericht. „Die Gefährdung jüdischer Einrichtungen und als solche erkennbarer Jüdinnen*Juden hat seitdem objektiv zugenommen.” Die Hetzjagden auf Juden, wie zuletzt Mitte November nach einem Fußballspiel zwischen Maccabi Tel Aviv und Ajax Amsterdam, zeigen: die Vergangenheit ist nicht tot.
Über Mikrofon Knoblochs Avatar Fragen stellen
Weil Antisemitismus und Israelfeindlichkeit im Jahr 2024 einen historischen Höchststand erreichten, hat die „Conference on Jewish Material Claims Against Germany” ein „immersives XR-Erlebnis” ins Leben gerufen. Die VR-Anwendung „Inside Kristallnacht” erlaubt dem Nutzer einen noch nie dagewesenen Einblick in die grausamen Angriffe auf Juden und Synagogen am 9. und 10. November 1938, die unter dem Namen „Kristallnacht” bekannt sind.
Die Claims Conference hat gemeinsam mit der „USC Shoah Foundation”, der Social-Media-Plattform Meta, dem Entwicklerstudio „makemepulse” und der UNESCO die kostenlose VR-Anwendung ins Netz gestellt. Unter den Adressen www.Insidepogromnacht.org oder www.InsideKristallnacht.org kann das Erlebnis gestartet werden. Es läuft im normalen Browser eines Desktop-Computers, ist aber vor allem als dreidimensionales Erlebnis für die VR-Brille „Meta Quest 3” gedacht.
Der Zuschauer tritt in einen interaktiven Dialog mit der Holocaust-Überlebenden Charlotte Knobloch. Sie berichtet, wie sie die „Kristallnacht“ als sechsjähriges Mädchen in München erlebte. Der Zuschauer kann der heute 92-Jährigen zudem Fragen stellen – entweder per Spracheingabe über das Mikrofon oder per Text. Das funktioniert zwar nicht perfekt, ist aber für das restliche Erleben der Anwendung nicht von zentraler Bedeutung.
Publikum auf persönliche Weise erreichen
„Diese Technologie bietet nicht nur ein beeindruckendes Erlebnis, sondern auch Lernmöglichkeiten, die ein Publikum auf sehr persönliche Weise erreichen können”, sagte der Präsident der Claims Conference, Gideon Taylor, beim Start der Website. „Wenn man den Menschen das Gefühl gibt, sie wären nach der ‚Kristallnacht‘ auf der Straße gewesen, können sie nicht nur erfahren, was zu Beginn des Zweiten Weltkriegs geschah, sondern es auch auf sehr eindringliche Weise verstehen.” Diese neuartige Art von Bildung sei notwendig, um „auch zukünftige Generationen zu erreichen”.
Zum interaktiven Angebot gehört ein kostenloser Lehrplan. Darin erhalten Lehrer Hintergrundinformationen zu Charlotte Knobloch und dem VR-Projekt, aber auch zum Holocaust und zur Pogromnacht, so dass Unterrichtsstunden daraus problemlos erarbeitet werden können. Fertige Unterrichtseinheiten gehören zum Informationsmaterial dazu.
Jordana Cutler von Meta für die Region Israel betonte, der Konzern, zu dem auch die Plattform Facebook gehört, sei „sehr stolz darauf, bei diesem unglaublichen und einzigartigen Erlebnis mit Charlotte Knobloch zusammenzuarbeiten”. Cutler erklärte weiter: „Studien haben ergeben, dass VR die Lernergebnisse positiv verbessern kann, und dieses Projekt ist ein entscheidender Schritt zur Umgestaltung der Holocaust-Aufklärung.”
Wie ein interaktives Buch
Die Mindestanforderung für „Inside Kristallnacht” ist die VR-Brille „Quest 3”. Leider gibt es die Anwendung nicht als Standalone-Anwendung, so dass sie auch auf VR-Brillen anderer Hersteller verwendbar wäre. Auch im Bowser eines Desktop-Computers ist das Erlebnis zu sehen – dann allerdings nicht als 360-Erlebnis. Gelbe Hotspots sind an vielen Stellen zu finden, um den Benutzern zusätzlichen Kontext zu bieten.
Alle Szenen sind als schlichte Schwarz-weiß-Animationen gestaltet. Die triste Grafik soll wohl die Stimmung wiedergeben, in der sich die Juden in jener Nach befunden haben müssen. Lediglich traurige Klaviermusik ist im Hintergrund zu hören. Charlotte Knobloch berichtet unter anderem, dass sie als Kind gar nicht wusste, was „Jude” eigentlich bedeutet. Noch weniger verstand sie, warum die Nachbarkinder plötzlich nicht mehr mit ihnen spielen durften.
Die junge Charlotte kam bei einer Bauernfamilie unter. Ihre einzigen „Freunde” waren die Tiere, im Dorf musste sie sich permanent verstellen. Sie hatte großes Heimweh und wusste nicht, wer aus ihrer Familie noch am Leben war. Kleine Videoclips geben andere Zeitzeugenberichte wieder. Im letzten der vier Kapitel geht es um die Eröffnung der neuen Ohel-Jakob-Synagoge am 9. November 2006 in München.
Knobloch selbst tritt für den virtuellen Besucher in Form eines Avatars auf, dem man direkt Fragen stellen kann. Die Initiatoren geben zwar im Begleitheft einige mögliche Fragen auf Englisch und Deutsch an, die man stellen kann. Aber das System versteht leider ab und zu die Fragen nicht. Dennoch funktioniert dieses „interaktive Buch” sehr gut, und der Nutzer spürt der Panik in Charlottes Familie angesichts der Jagd auf unbescholtene jüdische Bürger nach, sowie dem Überleben unter falscher Identität.
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Die Bedienung ist sehr einfach gehalten. Kritisieren kann man allenfalls, dass der Nutzer nicht direkt Kapitel anwählen oder im Zeitstrahl springen kann. Jedes Mal, wenn jemand der virtuellen Charlotte Knobloch eine Frage gestellt, hat, beginnt zudem danach das letzte Kapitel von vorne zu spielen – das ist auf Dauer etwas zeitaufwändig. Dennoch ist diese Form der modernen Wissensvermittlung von unschätzbarem Wert. Die moderne, interaktive VR-Technik zieht den Nutzer ins Geschehen hinein, er fordert dazu auf, sich einzudenken und sich selbst mit Fragen einzubringen.
Am Ende der VR-Anwendung landet der User im Jahr 2024, und Knobloch mahnt: „Man muss auch heute vorsichtig sein. Hitler brauchte zwölf oder 13 Jahre, um an die Macht zu kommen, er fing das auf dieselbe Art und Weise an wie der Rechtsextremismus heute. Solche Dinge passieren nicht aus heiterem Himmel.” Sie denke daher sehr oft an die kommenden Generationen. „Wir dürfen die Pogromnacht von 1938 nicht vergessen. Wir müssen daran erinnern, was passieren kann.”
2 Antworten
Charlotte Knobloch. Eine wunderbare Frau.
Frau Knobloch, es sind nicht nur Rechte oder Islamisten Anhänger, sondern wegsehende Gesellschaft wie 1934/44.
Ich höre nur noch Sätze von Deutschen, über Muslime sage ich nichts, die kommen mit Clan.
Keine Courage. Kirchentag hatte sich auch unterworfen gegen Juden.