Freunde und Bekannte schrieben in den vergangenen Tagen besorgte Nachrichten: „Wie geht es dir? Bist du gesund? Es gibt Raketen in Jerusalem?“ Was ist in den letzten Wochen passiert, dass sich die Nachrichten zu überschlagen scheinen?
Die Eskalation der Lage hat am 12. Juni begonnen: Im Westjordanland wurden drei israelische Talmudschüler entführt und nach Angaben israelischer Ermittler von Mitgliedern der radikalislamischen palästinensischen Hamas-Partei ermordet. Trotz einer groß angelegten Suchaktion der israelischen Armee werden die Leichen der Jungs erst 18 Tage später, am Montag, dem 30. Juni, gefunden. Die Bevölkerung ist schockiert. Das WM-Spiel Deutschland gegen Algerien fällt an vielen öffentlichen Orten aus, das israelische Fernsehen überträgt es gar nicht. Einige schauen trotzdem Fußball via Internet. Im Gegensatz zum normalen Leben kann man diesen Sport wenigstens verstehen. Selbst wenn der Kommentator Portugiesisch spricht.
Im Zeichen der Vergeltung
Am 1. Juli findet die Beerdigung statt, die Mörder sind längst identifiziert, aber bis heute nicht gefasst. Am Abend nach der Beisetzung demonstrieren mehrere Hundert Israelis auf den Straßen. Sie fordern Rache und Vergeltung. Es sind überwiegend Kahanisten, Anhänger einer ultrarechten Gruppierung.
Einen Tag später wird ein 16-jähriger Araber aus Schuafat, einem palästinensischen Vorort von Jerusalem, ebenfalls entführt. Und er wird bei lebendigem Leib verbrannt. Innerhalb weniger Stunden formiert sich eine Demonstration friedenswilliger Israelis, die Besonnenheit auf allen Seiten verlangen. Sie fordern vor allem die israelische Regierung auf, nicht überzureagieren. „Es reicht“, ist einer der verbreiteten Slogans.
Die Lage verschärft sich
Drei Tage danach: Die Polizei fasst sechs israelische Jugendliche, drei von ihnen gestehen die Tat: Sie haben den Tod der entführten Teenager rächen wollen. Die folgenden Tage sind geprägt von Spannung in der Bevölkerung, vielen Demonstrationen, dem Warten auf Ergebnisse und Racheforderungen, die auf die Straße getragen und über soziale Netzwerke verbreitet werden. Seit dem Mord an dem jungen Palästinenser am 2. Juli herrscht in einigen Teilen Ostjerusalems Ausnahmezustand; Steine werfende junge Männer liefern sich mit der israelischen Armee Gefechte. In Schuafat wird die Straßenbahnhaltestelle niedergebrannt, so dass Teile der Stadt mit der Bahn nicht mehr zu erreichen sind. Dass seit zehn Tagen Ramadan ist, der Fastenmonat der Muslime, trägt zusätzlich zu den Spannungen und zum Nervenkrieg bei.
Parallel zu diesen Geschehnissen schlagen im südlichen Küstenstreifen am Mittelmeer unzählige Raketen aus dem Gazastreifen ein, die israelische Armee reagiert und nimmt Ziele wie Raketenabschussrampen ins Visier. Tausende Reservisten wurden und werden in den kommenden Tagen eingezogen.
Raketenalarm vor dem Anpfiff
Am Dienstagmittag erhalten wir von der Deutschen Botschaft eine Nachricht, wie man sich im Falle von Raketenalarm zu verhalten habe. Freunde aus Tel Aviv teilen mir telefonisch mit, es habe inzwischen auch dort Raketenalarm gegeben. Für Dienstagabend organisieren verschiedene messianische Gemeinden in Jerusalem ein Gebetstreffen. Nach dem gemeinsamen Gebet komme ich um 21:30 Uhr mit zwei deutschen Bekannten nach Hause. Wir wollen bei mir auf Freunde warten, um gemeinsam in die Altstadt zu gehen. Dort wollen wir um 23 Uhr das WM-Halbfinale Deutschland gegen Brasilien anschauen.
Es ist kurz vor 22 Uhr. Raketenalarm jetzt auch in Jerusalem. Das gab es zuletzt im November 2012. Meine Gäste, Mitbewohner und ich schauen uns kurz unsicher an. Wir einigen uns darauf, dass wir unter die Treppe zum Obergeschoss gehen – in unserem Haus gibt es keinen Luftschutzraum, aber im Falle eines Raketeneinschlages ist der Ort unter der Treppe wohl einer der sichersten überhaupt.
So sitzen wir etwa anderthalb Minuten. Wir hören die Sirene. Wenige Sekunden, nachdem sie abgeklungen ist, hören wir einen vierfachen dumpfen Einschlag. Wie ich später erfahre, sind die Geschosse etwa 14 Kilometer von uns entfernt eingeschlagen. Außerdem wird bekannt, dass die Raketen im gesamten Land flogen, bis hin nach Hadera, etwa 40 Kilometer nördlich von Tel Aviv, das ist eine Reichweite von rund 120 Kilometern. Meine Freunde, die auf dem Weg in unsere Wohnung sind, kann ich nicht anrufen. Nach einem Raketenanschlag soll man besser ein paar Minuten warten, damit die Raketenschützen anhand des verstärkten Datentransfers nicht erkennen, dass das Ziel nicht weit verfehlt war.
Gedämpfte Stimmung, ungewöhnliches Spiel
In der Altstadt warten Freunde auf uns und wir entschließen uns, trotz der Spannung zu dem Spiel zu gehen – eine gute Entscheidung, vor allem weil wir tolle Plätze bekommen, denn die Hälfte der Fans hat sich nach dem Alarm wieder auf den Heimweg gemacht. Es ist ein seltsames Erlebnis, in dieser gedämpften Stimmung und wirren Situation das ungewöhnliche Deutschland-Spiel zu sehen – die meisten der übrig gebliebenen Zuschauer sind für Brasilien und können deshalb zwar unser Erstaunen, nicht aber unsere Freude über das Spiel teilen.
Als wir uns auf den Heimweg machen, kommen uns junge Männer, teilweise in Uniform, entgegen. Sie sind einberufen worden und nun auf dem Weg zu ihrer Basis. Am nächsten Morgen geht es weiter. Die Raketenanschläge im Süden des Landes reißen nicht ab. Die Situation ist kompliziert. Was mich in den vergangenen Tagen zusätzlich nachdenklich und manchmal auch wütend macht, ist die überhebliche Einstellung vieler Europäer, die Lage hier vor Ort betreffend.
Der Fußballkommentator des israelischen Fernsehens rief in den Mauern des Davidturms begeistert aus: „4:3 oder 4:2 – das hätten wir erwarten können. Aber 7:1 – so etwas gibt es überhaupt nicht!“
Vor etwa drei Jahrtausenden hat der weise König, nach dem die Mauern heute benannt sind, dazu aufgefordert: „Bittet für den Frieden Jerusalems. Und es wird wohlgehen, denen, die dich lieben!“ Nachzulesen ist das im biblischen Psalm 122.