„Lo nischkach we-lo nisslach“ – „wir werden weder vergessen noch vergeben“. Dieser Satz ist oft von Juden zu hören, wenn es um das millionenfache Morden während der Scho’ah geht. Und er stößt Christen zuweilen bitter auf. Das zeigt sich bei der aktuellen Debatte um eine Äußerung des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro, die in Israel auf scharfe Kritik stieß. Vor Pastoren sagte er vergangene Woche, der Holocaust könne vergeben, aber nicht vergessen werden. Dass die Israelis den Vorschlag nicht freudig aufgenommen haben, können viele Christen nicht nachvollziehen.
Dabei ist auch die Vergebung von Christen keine Selbstverständlichkeit. Natürlich identifizieren sie sich gern mit Petrus, der stolz auf seine Bereitschaft war, seinem Bruder siebenmal zu vergeben (Matthäus 18,21). Doch eine solche tatsächlich gelebte Großmütigkeit ist auch bei Christen eher selten. Und wenn es vorkommt, ist das ein Medienereignis. Als Beispiel, wo bei dem ein Christ Menschen vergeben hat, die ihm Leid zugefügt haben, sei Susanne Geske genannt. Deren Ehemann Tilmann wurde 2007 im türkischen Malatya mit zwei weiteren Christen brutal ermordet. Dass sie den Tätern öffentlich vergab, war nicht nur in der Türkei eine Sensation.
Vorbild für Menschen wie Susanne Geske ist Jesus, der am Kreuz angesichts seiner Peiniger ausrief: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (Lukas 23,34) An ihm sollten sich Christen orientieren, keine Frage. Doch können wir das auch von Juden erwarten? In den vergangenen Jahrhunderten haben Menschen im Namen des Christentums zahlreiche Taten begangen, die für Juden alles andere als eine Einladung zum christlichen Glauben darstellten. Während des Nationalsozialismus schwiegen viele zu dem Unrecht, das den Juden Europas zugefügt wurde. Manche Kirchenvertreter waren sogar aktiv daran beteiligt. Es gab natürlich auch Christen, die ihr Leben riskierten, um Juden zu retten. Aber es waren Einzelne.
Keine Überheblichkeit gegenüber Juden
Nichtbetroffene können leicht Überlebende des Massenmordes und deren Angehörige zur Vergebung auffordern. Für einen echten Dialog ist es jedoch nötig, sich in den anderen hineinzuversetzen. Paulus schreibt im 1. Brief an die Korinther (9,20): „Den Juden bin ich wie ein Jude geworden, damit ich die Juden gewinne.“ Wer sich in solcher Weise auf seinen Gesprächspartner einlässt, wird auch feststellen, dass Vergebung im Judentum eine andere Bedeutung hat als im Christentum – und wird so vor einem vorschnellen Urteil bewahrt. Aus jüdischer Sicht kann allein Gott Sünden vergeben. Wenn ein Holocaust-Opfer sich aus persönlichen Beweggründen dazu entschließt, seinen Peinigern zu verzeihen, ist das eine Entscheidung, die nicht auf die Allgemeinheit übertragen werden darf.
Juden, die nicht an Jesus als Messias glauben, orientieren sich nun einmal nicht an ihm und seiner Lehre. Das gilt es zu akzeptieren. Manche Belehrungen wirken vor allem überheblich, aber bestimmt nicht einladend. Das Neue Testament fordert Christen an keiner Stelle auf, sich hochmütig gegenüber Gottes auserwähltem Volk zu verhalten. Vielmehr ist es unsere Aufgabe, uns so zu verhalten, dass Juden eifersüchtig auf unsere Gottesbeziehung werden. In Römer 10,19 zitiert Paulus aus 5. Mose 32,21: „Ich will euch eifersüchtig machen auf ein Nicht-Volk; über ein unverständiges Volk will ich euch zornig machen.“ Wer mit dieser Einstellung einem jüdischen Gesprächspartner gegenübertritt, findet sicher auch einen einladenden Weg, das Thema Vergebung anzusprechen.