Die Atmosphäre ist gespannt, die Galerie der Knesset gut gefüllt. David Ben-Gurion tritt ans Rednerpult. Es ist der 13. Dezember 1949. „Für den Staat Israel hat es und wird es immer nur eine Hauptstadt geben – Jerusalem, die Ewige“, wird das Nachrichten-Bulletin der „Jewish Telegraphic Agency“ den Premierminister am folgenden Tag zitieren und gleichzeitig mitteilen: „Das Büro des Premierministers wird nach Jerusalem verlegt und das israelische Parlament wird in ungefähr zehn Tagen in der Heiligen Stadt zusammenkommen“. Die Stadt, die seit Tausenden Jahren im Mittelpunkt jüdischer Sehnsüchte steht, ist nun die Haupstadt des gerade einmal anderthalb Jahre alten modernen Judenstaates.
Aus Sorge davor, die Vereinten Nationen zu brüskieren, haben Israels Anführer lange gezögert, diesen Schritt zu gehen. Im UN-Teilungsplan vom 29. November 1947, der die israelische Staatsgründung international legitimierte, war für Jerusalem ein besonderer Status festgelegt worden. Aus der Stadt der drei Weltreligionen soll ein „Corpus seperatum unter einem internationalen Sonderregime“ werden, heißt es in einem Teil des Plans, der sich ausschließlich mit Jerusalem befasst. Ein Treuhandrat würde dann im Namen der UN die Verwaltungsaufgaben wahrnehmen.
Ben-Gurion will die Teilung
Die Idee ist nicht ganz neu. Bereits 1937 hat sich die Peel-Kommission der britischen Mandatsmacht dafür ausgesprochen, Jerusalem keinem Staatsgebiet zuzuschlagen. Die zionistischen Führer lehnten ab und schlugen stattdessen eine Teilung vor, wobei sie die heiligen Stätten unter britischer Gewalt sehen wollten. Mindestens ein Teil Jerusalems sollte aber in jedem Fall israelische Hauptstadt werden. „Ben-Gurion war bereit, die Altstadt und ihre Umgebung zu opfern, damit Stadtteile im Westen die Haupstadt des Judenstaates werden konnten“, erklärt der Tel Aviver Historiker Motti Golani. „Erstmals kam die Idee der Teilung Jerusalems auf die internationale Agenda – als eine ‚zionistische Idee‘, nicht eine britische oder arabische“, merkt er an. Doch Briten und Araber lehnten ab.
Als der Plan des neutralen Jerusalems 1947 von den UN wiederaufgegriffen wird, beugt sich die Jewish Agency als Vertretung des Jischuw, also der im Lande lebenden Juden, dem internationalen Willen zunächst. Zu diesem Zeitpunkt leben etwa 100.000 Juden in Jerusalem, mehr als Muslime und Christen zusammen. „Es war der Preis, der für unsere Eigenstaatlichkeit gezahlt werden musste“, rekapituliert Ben-Gurion die Entscheidung später im Rückblick. „Wenn die Araber den Plan akzeptiert hätten, hätten wir uns daran gehalten.“
UN-Resolution befeuert israelische Entscheidung
Doch es kommt anders. Unmittelbar nach der israelischen Staatsgründung greifen die arabischen Armeen den jüdischen Staat an. Die UN bleiben jedoch weiterhin bei ihrer Haltung, dass Jerusalem nicht israelische Hauptstadt werden könne. Die israelische Staatsführung bleibt zunächst vorsichtig in ihrem Vorgehen. Sie strebt eine Aufnahme in die UN an und will die internationale Staatengemeinschaft nicht vor den Kopf stoßen. Immerhin: der Oberste Gerichtshof wird bereits im September 1948 in der Heiligen Stadt installiert. Im Februar 1949 kommt auch die Knesset das erste Mal und als Ausnahme in Jerusalem zusammen. Als sich im Herbst 1949 – inzwischen ist Israel bereits UN-Mitglied – abzeichnet, dass die Vereinten Nationen in einer weiteren Resolution die Pläne zur Internationalisierung Jerusalems bekräftigen könnten, zieht Ben-Gurion die Reißleine.
Am 5. Dezember 1949 tritt er in einer kurzfristig einberufenen Sitzung vor die Knesset und sagt sein Land offiziell vom UN-Teilungsplan los, den die arabische Seite so offensichtlich gebrochen hatte. „Die UN haben nichts getan, als Nationen, die UN-Mitglieder sind, der Resolution vom 29. November 1947 den Krieg erklärten“, kritisiert der Premierminister. „Daher sind wir nicht länger an die UN-Resolution gebunden, aus unserer Sicht ist sie null und nichtig.“
Am Standpunkt der Vereinten Nationen ändert das nichts mehr. Am 9. Dezember nehmen 38 Staaten der Generalversammlung eine von Australien eingebrachte Resolution an und bekräftigen damit ihre ständige Haltung zu Jerusalem. 14 stimmen dagegen, 7 enthalten sich. Überzeugte Unterstützer der Resolution sitzen vor allem im Vatikan, den Staaten Lateinamerikas und der Sowjetunion. Die israelische Regierung reagiert am 11. Dezember mit der Entscheidung, Jerusalem zur faktischen Hauptstadt zu machen. Ausgerechnet die UN hatten dem jüdischen Staat damit die Gelegenheit gegeben, die israelische Souveränität auf Jerusalem auszuweiten, bemerkt Historiker Golani.
Schnelle Forderung nach Verlegung der US-Botschaft
Zwei Tage nach der Kabinetts-Entscheidung steht Ben-Gurion dann am Rednerpult der Knesset. Die Entscheidung der UN weist er als „absolut undurchführbar“ zurück. Dennoch lädt er – zum Leidwesen mehrerer Oppositionspolitiker, darunter Menachem Begins – die Organisation ein, die Heiligen Stätten zu beaufsichtigen. Eines aber ist für ihn unverrückbar: Seit 3.000 Jahren sei Jerusalem Israels Hauptstadt gewesen – „und so wird es sein bis zum Ende der Zeit“. Am 23. Januar 1950 ruft auch die Knesset mit einem Beschluss Jerusalem als Hauptstadt aus.
Bereits wenige Tage nach Ben-Gurions Rede fordert der Präsident der Zionistischen Organisation Amerikas die US-Regierung dazu auf, ihre Botschaft nach Jerusalem zu verlegen. Fast 70 Jahre später soll seine Bitte erhört werden – wiederum gegen den Willen einer überwiegenden Mehrheit der internationalen Staatengemeinschaft, die Jerusalem bis heute nicht als israelische Hauptstadt anerkennt.
Von: Sandro Serafin