Sandra ist nicht das erste Mal zur Wallfahrt, meist verbindet sie es mit einer Urlaubswoche auf der Touristeninsel. Ihre Familie und die ihres Mannes stammen ursprünglich aus Tunesien. Doch eine Wallfahrt nach Dscherba sei viel mehr, als an den Ort der Kindheit zurückzukommen, meint die jüdische Mutter. „Hier schlägt mein Herz, das ist meine Kultur“, erzählt sie.
In der Synagoge angekommen, kauft Sandra in der benachbarten Karawanserei eine Flasche Bucha, tunesischen Feigenschnaps, Mandeln und Trockenfrüchte sowie Hühnereier. Dann erst geht sie in die Synagoge.
Die Synagoge La Ghriba – die Wunderbare – ist eine der interessantesten Sehenswürdigkeiten der tunesischen Touristeninsel. Das heutige Gebäude wurde 1920 auf alten Überresten errichtet. Von außen wirkt es schlicht, doch innen ist die Synagoge prachtvoll ausgestaltet: bemalte Majolikakacheln, blau-weiß strahlende maurische Bögen, filigranes Schnitzwerk zieren Türen, Fenster, Bänke. In die Schlagzeilen kam die Synagoge, als am 11. April 2002 bei einem Anschlag 21 Menschen, darunter 14 Deutsche, starben.
In einer Ecke warten drei Rabbiner auf die Pilger. Schnell packen Sandra und ihr Mann die gekauften Sachen aus, schenken jedem einen Plastikbecher voll Feigenschnaps ein und verteilen die Mandeln auf einem Plastikteller. Gegen eine kleine Spende liest einer der Rabbiner einen Segensspruch vor, danach teilen sie sich Schnaps und Früchte. Es dauert keine fünf Minuten, dann ist die Zeremonie vorbei.
Nach dem Segen vollzieht Sandra noch ein anderes Ritual. Dazu geht sie in den Nebenraum, das Tabernakel, in dem ungewöhnlich versteckt die Torahrolle aufbewahrt wird. Sandra zieht ihre Schuhe aus und setzt ein Kopftuch auf. An der hinteren Wand befindet sich eine kleine Grotte. Bevor Sandra hineinklettert, beschriftet sie die mitgebrachten Eier mit den Namen der Personen, für die sie beten möchte. Der Tradition zufolge legen vor allem unfruchtbare Frauen oder diejenigen, die heiraten wollen, ein ungekochtes Ei in die Grotte. Die Eier bleiben die ganze Nacht in der Grotte und sollen durch die Hitze der Kerzen gekocht werden. Sieben Eier hat Sandra mitgebracht: für sich eines, für ihren Mann, ihre drei Kinder und kranke Freunde. In diesem Jahr betet Sandra vor allem für die Geburt ihres ersten Enkels und dass ihre beiden Söhne bald Ehefrauen finden. Die jüdische Mutter glaubt fest daran, dass die Wünsche, die sie hier äußert, in Erfüllung gehen. Auch viele muslimische Tunesier kommen, um dieses Ritual zu pflegen.
Traditionsreicher Ort
Für die Juden Nordafrikas ist die Wallfahrt zur La Ghriba seit Generationen ein wichtiger Treffpunkt. Bereits im 6. Jahrhundert vor Christus sollen die ersten Juden nach der Eroberung Jerusalems durch König Nebukadnezar auf die Insel gekommen sein. Die Flüchtlinge sollen Steine vom zerstörten Tempel mitgebracht haben, die sie dann in die Synagoge einbauten. Die ersten Ankömmlinge ließen sich im Dorf Hara Seghira (Kleines Ghetto) nieder und bauten dort die Synagoge. Heute trägt der Ort den arabischen Namen Erriadh. Im 14. und 15. Jahrhundert kamen weitere Flüchtlinge aus Spanien und gründeten den Ort Hara Kebira (Großes Ghetto), in dem bis heute viele Juden als Gold- und Silberschmiede leben.
Die Wallfahrt findet jedes Jahr rund um den jüdischen Feiertag Lag Ba‘Omer statt, 33 Tage nach Pessach. An diesem Feiertag gedenken Juden weltweit an den Tod der beiden kabbalistischen Rabbiner, Rabbi Meyer Baal Nich und Rabbi Schimeon Bar Jochai.
Doch einer Legende zufolge gibt es noch einen anderen Grund für die Wallfahrt: In dem Ort, in dem heute die Synagoge steht, soll eine hilfsbereite, aber merkwürdige Frau gelebt haben. Eines Tages brannte ihre Hütte nieder, doch der Leichnam der Frau blieb unversehrt. Seitdem glaubten die Menschen, dass von der Frau wundersame Kräfte ausgehen. Daher der Name La Ghriba – die Wunderbare, die Fremde.
Auch Muriel Melloul und ihr Mann Dov aus Paris kommen immer wieder zur Wallfahrt nach Dscherba. „Eine Wallfahrt nach La Ghriba ist wie Sushi essen. Wenn du es noch nicht gemacht hast, denkst du, was ist das denn?! Aber sobald du es einmal gemacht hast, möchtest du es immer wieder haben“, erklärt sie.
Am Nachmittag kommen immer mehr Pilger und einheimische Gemeindemitglieder zur Synagoge. Singend und betend zieht die Schar die Menara, eine sechseckige Pyramide aus Silber, in die die Namen der zwölf Stämme Israels und renommierter tunesischer Rabbis eingraviert sind, durch das Eingangstor. Die Menara soll eine Braut, die auf ihren Bräutigam wartet, symbolisieren. In früheren Jahren wurde die Menara von der La Ghriba durch den ganzen Ort bis zu einer der kleinen Synagogen oder Jeschivas von Hara Seghira geführt. Doch in diesem Jahr geht der Pilgerzug lediglich aus dem Synagogengelände heraus und wieder zurück – aus Sicherheitsgründen.
Vor der tunesischen Revolution kamen bis zu 5.000 Pilger aus Nordafrika, Frankreich, Israel, den USA und Kanada. Im Revolutionsjahr 2011 waren fast nur Einheimische da. In diesem Jahr sind es schätzungsweise einige Hundert. „Unsere Freunde konnten nicht verstehen, warum wir hierher reisen“, meint Muriel Melloul aus Paris. Nach den Anschlägen von Toulouse hätten viele französische Juden Angst zu kommen. Auch in Israel wurde vor Reisen gewarnt.
Dabei habe sich im Alltag für die Juden in Tunesien durch die Revolution nichts verändert, meint Perez Trabelsi, Präsident der La Ghriba und zuständig für die jüdische Gemeinschaft auf Dscherba. Im Gegenteil, heute könne man viel offener sprechen. Dass in Tunis Salafisten im Januar während eines Besuchs eines palästinensischen Politikers aus Gaza „Tod den Juden“ gerufen haben, irritiert Trabelsi nicht. Die Salafisten redeten zwar, so der Gemeindevorsteher, aber niemandem sei irgendetwas passiert.
Minister erfreut über gutes Miteinander von Juden und Moslems
Gegen Abend stattet Tunesiens Tourismusminister Elys Fachfach den Pilgern einen Besuch ab. Der Muslim ist zum ersten Mal in der Synagoge und zeigt sich beeindruckt von der fröhlichen Stimmung und dem guten Miteinander von Juden und Moslems vor Ort. „Die Tunesier jüdischen Glaubens sind genauso Tunesier wie alle anderen auch“, betont der Minister. Durch die Revolution hätten sie auch mehr Freiheiten. Er hoffe nicht, dass sie sich durch die Salafisten irritieren lassen. „Ich hoffe, die Juden bleiben hier. Und vielleicht kommen auch wieder welche zurück“, so der Minister.
Der Besuch hat vor allem die einheimischen Juden sehr gestärkt. Weggehen komme überhaupt nicht in Frage, meint Perez Trabelsi. Die Juden lebten seit Generationen in Nordafrika. Kaum ist der Minister weg, ertönt der benachbarte Muezzin. Die Pilger stört das nicht, den ganzen Abend feiern sie weiter. Später am Abend wird es sogar noch eine Hochzeit in der altehrwürdigen Synagoge geben. Gemäß der jüdischen Tradition dürfen am Lag Ba‘Omer erstmals nach Pessach wieder Hochzeiten stattfinden. „Wir sind so etwas wie Botschafter“, meint Muriel. Es sei ihr Auftrag, zuhause wieder allen zu erzählen, wie schön es hier war. Vielleicht kommen im kommenden Jahr wieder mehr Pilger – so wie früher.