Als der römische Feldherr Vespasian in den späten 60er Jahren des 1. Jahrhunderts mit der Zerschlagung des jüdischen Aufstandes befasst war, durchzuckte ihn ein zynischer Gedanke: Eigentlich reiche es, die zerstrittenen Juden sich selbst zu überlassen, sie würden sich schon selbst niederkämpfen. Tatsächlich konnten sich die jüdischen Fraktionen erst zur gemeinsamen Verteidigung Jerusalems aufraffen, als Vespasians Sohn Titus im Jahr 70 vor den Stadtmauern stand. Bekanntlich half es nichts mehr: Titus‘ Truppen zerstörten Stadt und Tempel; für die überlebenden Juden begann die Zeit der Diaspora.
An derartige historische Dimensionen erinnern israelische Politiker gerne, wenn der Streit im Land überhandnimmt. Zuletzt tat dies Staatspräsident Jitzchak Herzog zum Jerusalemtag am 18. Mai mit Blick auf die Justizreform. Bei der Debatte war in den vergangenen Monaten auch der Sicherheitsaspekt akut geworden: Viele Reservisten der Luftwaffe kündigten aus Protest gegen die Reform an, nicht mehr zu den regelmäßigen Übungen zu erscheinen. Die Kampffähigkeit der Armee schien beeinträchtigt.
Und so war es schließlich Verteidigungsminister Joav Gallant, der am letzten Samstag des März aus dem vermeintlichen Regierungskonsens ausscherte und zu einer Reformpause aufrief. Der Likud-Politiker sah die Sicherheit des Landes stark gefährdet. Zwei Wochen später konstatierte der Herausgeber der Nachrichtenseite „Times of Israel“, David Horovitz: „Unsere Feinde riechen Schwäche.“ Kurz zuvor hatten Terroristen Israel unter den heftigsten Raketenbeschuss aus dem Libanon seit 2006 genommen.
Späte Bremse
Als Gallant mit seinem Appell an die Öffentlichkeit trat, stand der Reformprozess vor einem Höhepunkt: In den Tagen darauf wäre es zur Verabschiedung eines hochumstrittenen Paketes gekommen – der Umgestaltung der Richterernennung. Die Gegner hatten deswegen bereits eine „Woche der Lähmung“ durch tägliche statt wöchentliche Proteste geplant.
Streitpunkt Richterernennung
Laut dem Entwurf, wie er Ende März vorlag, besteht das Ernennungsgremium aus elf Personen: Sechs Vertreter der Regierungsparteien (drei Minister, drei Abgeordnete), zwei Abgeordnete der Opposition und drei Richter. Für die Ernennung von Richtern am Obersten Gericht sind immer mindestens sechs Stimmen erforderlich. Hierbei gibt es nun Abstufungen: Ab der dritten Ernennung ist mindestens eine Stimme von der Opposition erforderlich, bei jeder weiteren Ernennung noch die eines Richters. Die Vertreter der Regierungsparteien haben bei den ersten beiden Ernennungen also die volle Kontrolle, bei weiteren Ernennungen dann nicht mehr. In der ursprünglich angedachten Version hätte die Regierung im Extremfall acht von neun Mitglieder des Ernennungsgremiums kontrolliert.
Die folgenden Tage waren Drama pur: Am Sonntag kündigte Regierungschef Benjamin Netanjahu (Likud) die Entlassung Gallants an (die letztlich aber nicht vollzogen wurde). Noch in derselben Nacht versammelten sich Hunderttausende auf den Straßen des Landes. Am Montag kam es zu weiteren Protesten auf den Straßen. Der Gewerkschaftsdachverband Histadrut rief einen Generalstreik für den Mittag aus. Die Koalition debattierte indes heftig über den Fortgang der Reform; Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir (Jüdische Stärke), der weiter vorpreschen wollte, soll Netanjahu regelrecht angeschrien haben.
Der Verfassungsausschuss der Knesset gab zwischenzeitlich den Gesetzesvorschlag zur Richterernennung für die beiden finalen Abstimmungen frei. Doch am Abend verkündete Netanjahu den vorläufigen Stopp der Reform. Ben-Gvir bekam als Trost eine neue Polizeigarde mit einer geplanten Stärke von 2.000 Mann. Er hatte sich diese wohl schon länger gewünscht.
Bekenntnis eines Justizministers
Der Plan der Koalition, den ersten Batzen der geplanten Reformpakete noch vor Pessach – das Anfang April begann – durchzubringen, war damit durchkreuzt. Die Reformpause hatte aber auch ein reinigendes Element: Anfang April wurde erstmals bekannt, dass selbst Justizminister Jariv Levin, gewissermaßen der Antreiber der Reform, Bedenken hatte. Sein ursprünglicher, inzwischen nicht mehr gültiger Ansatz bei der Frage der Richterernennung hätte nicht zu einer Demokratie gepasst, sagte der Likud-Politiker nun selbst. Die völlige Kontrolle einer Regierung über die Ernennung „hätte zu einer Situation geführt, in der alle drei Zweige der Staatsgewalten zu einem einzigen geworden wären“.
Vor dem Hintergrund, mit welcher Verve die Befürworter die Pläne verteidigt haben, mögen solche Sätze verwundern. Skepsis verbreiteten aber schon vor Levins Bekenntnis die Vordenker der Reform von der Organisation „Kohelet Forum“: Bereits Mitte Februar nannte deren Präsident Mosche Koppel die geplante Regelung zur Gesetzeskontrolle „dumm“. Laut den Reformplänen können Abgeordnete die Richter überstimmen, wenn diese ein Gesetz beanstanden.
Streitpunkt Gesetzeskontrolle
In dem Ergänzungsvorschlag zum Grundgesetz „Die Justiz“ wird erstmals überhaupt das Recht des Obersten Gerichtshofes für Gesetzeskontrolle festgelegt; bislang übte er diese Gewalt „informell“ aus. Laut dem Entwurf von Ende März können die Richter ein Gesetz beanstanden, wenn sie vollzählig sind und mindestens 12 der 15 Richter (80 Prozent) dafür sind. Bei der ersten Version des Vorschlags lagen die Hürden höher: Dort war noch ein einstimmiges Votum der Richter vorgesehen. Die Beanstandung ist außerdem nur dann erlaubt, wenn es einen „klaren Verstoß“ gegen ein Grundgesetz gibt oder Verfahrensfehler vorliegen.
Die Knesset darf umgekehrt ein Gesetz vor richterlicher Beanstandung schützen, auch wenn es gegen ein Grundgesetz verstößt. Die Schutzklausel muss explizit im Gesetz genannt werden. Das Gesetz muss in allen drei Lesungen die absolute Mehrheit von den Abgeordneten erhalten (mindestens 61 von 120 Stimmen). Außerdem muss die nächste Knesset diesen Schutzstatus bestätigen; er gilt dann ohne Begrenzung.
Vages Kriterium der „Angemessenheit“
Mit anderen Worten: Die zehntausenden Gegner der Justizreform, die sich in den Massenprotesten jeden Samstag zeigten, hatten selbst aus Sicht der Reformbefürworter legitime Einwände. In den vergangenen Monaten wurde jedoch auch deutlich, dass es umgekehrt ebenso gilt. Das zeigt der „Fall Arje Deri“: Das Oberste Gericht hatte die Ernennung des Schass-Vorsitzenden zum Innen- und Gesundheitsminister im Januar beanstandet. Die Richter führten an, Deri habe ein Jahr zuvor im Rahmen eines Gerichtsdeals zugesagt, in Zukunft kein politisches Amt mehr wahrzunehmen.
In diesem Februar erklärte nun der frühere Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit, der Gerichtsdeal habe einen dauerhaften Ämterverzicht nie zum Inhalt gehabt. Für die Reformbefürworter ist der Fall ein Beispiel für die beklagte Übergriffigkeit der Richter: Immerhin musste Deri infolge des Richterspruches zurücktreten. Umso dringlicher schien den Befürwortern das Anliegen, es in Zukunft einzig der Knesset zu erlauben, Minister-Ernennungen zu beanstanden.
Regeln für Absetzung eines Premiers festgelegt
Das bislang einzige verabschiedete Reformpaket betrifft die Absetzung eines Premierministers: Es besagt, dass kein Gericht dessen Amtsfähigkeit beurteilen darf. Diese Autorität liegt künftig vor allem in der Regierung selbst, und sie betrifft nur dessen geistige oder physische Fähigkeiten (Krankheit oder Entführungsfall). Demnach kann ein Premier seine Amtsunfähigkeit selbst erklären; dies muss von zwei Dritteln des zuständigen Geschäftsordnungsausschusses der Knesset bestätigt werden. Auch die Regierung kann einen Premier für amtsunfähig erklären, sofern drei Viertel der Minister dafür stimmen und der Knesset-Ausschuss dies bestätigt. Kritiker meinen, dass Premier Netanjahu aufgrund seines Korruptionsprozesses einer Absetzung wegen Interessenkonflikten entgehen wollte.
Die Richter hatten das Argument der „Angemessenheit“ ins Feld geführt: Sie sahen die Ernennung Deris sogar als „extrem unangemessen“. Staatspräsident Herzog bezeichnete in einer seiner Ansprachen zur Justizreform eben diese Art von Beurteilungen durch Richter als problematisch: „Eine uneingeschränkte Verwendung unter der Vorgabe der Angemessenheit könnte die Basis werden für ein unverhältnismäßiges Einschreiten der judikativen Autorität in das exklusive Feld, das dem exekutiven und legislativen Zweig vorbehalten ist“, sagte er etwas umständlich am 12. Februar.
Vorerst bleibt der Eindruck zurück, dass die Härte bei der Auseinandersetzung um die Justizreform in diesem Maße nicht nötig gewesen wäre. Die massenhaften Proteste und Gegenproteste wollten viele als Zeichen einer lebendigen Demokratie sehen. Das mag zutreffen. Dennoch bleibt die Frage, ob eine entgegenkommendere Haltung der Akteure deren Zielen nicht nützlicher gewesen wäre. Die ersten drei Monate dieses Jahres bieten jedenfalls weiteres Material für historische Lektionen.