JERUSALEM (inn) – Hannah Goslar wurde am 12. November 1928 in Berlin geboren. Ihr Vater Hans war Leiter der Pressestelle des Preussischen Staatsministeriums. Ihr Großvater mütterlicherseits war der Rechtsanwalt Alfred Clay und seinerzeit Leiter der Jüdischen Gemeinde in Berlin sowie Berater von Theodor Herzl.
Unmittelbar nach der Machtergreifung Adolf Hitlers wurde der Vater gezwungen, seine Tätigkeit aufzugeben. Die Familie zog nach England, doch weil der Vater keine Arbeit fand, die ihm ermöglichte, am Schabbat nicht zu arbeiten, zogen sie wenige Monate später nach Amsterdam.
Der Beginn einer lebenslangen Freundschaft
Über ihre erste Begegnung mit Anne Frank Ende 1933 berichtet Hannah Goslar gegenüber dem israelischen Nachrichtensender „Kan“ 2017: „Zum ersten Mal sah ich Anne in einem kleinen Tante-Emma-Laden. Ich war mit meiner Mutter dort. Und da war noch eine andere Frau mit einem kleinen Mädchen, die ebenfalls die Sprache nicht konnten. Einige Tage später kam ich in den Kindergarten. Auch Anne war da. Sie kam auf mich zugelaufen, nahm meine Hand und seitdem waren wir Freundinnen.“
Die Familien Goslar und Frank lebten Haustür an Haustür. Goslar berichtet, dass sie alles zusammen gemacht hätten. Sie seien gemeinsam zur Schule gegangen und ins Freibad. Manchmal seien weitere Freunde dabei gewesen. „Anne war immer im Zentrum des Geschehens. Eine besonders gute Schülerin war sie aber nicht, dafür haben wir zuviel geschnattert.“ Goslar zeigt auf ein Foto: „Das war zu Annes Geburtstag, im Juni 1939. Das Mädchen, das auf dem Foto neben Anne steht, kam ein Jahr später schon nicht mehr. Die Nazis marschierten im Mai 1940 in Holland ein. Die Eltern des Mädchens waren Nazis.“
Zwei Jahre nach dem Einmarsch der Nazis nahm Otto Frank seine Familie und versteckte sie. Verabschieden konnten sich die Freundinnen nicht: „Meine Mutter wollte Marmelade kochen. Ich klingelte bei Franks, um die Waage auszuleihen. Aber keiner öffnete.“ Die Nachbarn erzählten, die Franks seien in die Schweiz gefahren. Stattdessen versteckten sie sich in seinem Büro.
Im Eintrag vom 15. Juni 1942 berichtet Anne Frank in ihrem Tagebuch: „Hanneli und Sanne waren meine besten Freunde. Und wer immer uns zusammen gesehen hat, hat immer gesagt: ‚Schau mal, da kommen Anne, Hanne, Sanne.’“
Verletzt sei sie nicht gewesen, dass ihre Freundin sie ohne Benachrichtigung zurückgelassen habe, erzählte Goslar im „Kan“-Interview: „Das passierte ja auch vielen anderen. Wenn du zur Schule kamst und jemand war nicht da, wusstest du nicht, ob er krank war, sich versteckt hatte oder sie ihn abgeholt hatten. Das war unser Alltag.“
Die Wege der Freundinnen kreuzen sich ein letztes Mal
Im Juni 1943 wurde Anneli Goslar mit ihrem Vater, den Eltern ihrer inzwischen verstorbenen Mutter und ihrer kleinen Schwester Rachel (Rali) nach Westerbork gebracht, wo die Großeltern im November an einem Herzinfarkt starben. Drei Monate später wurde die Familie in das Konzentrationslager Bergen-Belsen deportiert, wo sie wegen ihrer Pässe aus Paraguay zu den privilegierten Häftlingen gehörten.
Im August 1944 entdeckten die Nazis die Familie Frank in ihrem Versteck und brachten sie ebenfalls nach Bergen-Belsen. Wenige Monate später hörte Hanneli, dass ihre Freundin Anna im weniger privilegierten Teil des Lagers sei. Goslar erzählt: „Ich bin ausgeflippt vor Freude. Abends ging ich an den Zaun. Vorsichtig rief ich sowas wie ‚Hallo hallo’ und plötzlich antwortete mir etwas sehr Schwaches. Es war Anne. Wir haben beide geweint. Sie fragte mich, ob ich ihr etwas zu Essen bringen könnte. Aus unserem Teil des Lagers gab mir jeder etwas; einen Socken, eine Pflaume, etwas Kleines. Wir trafen uns zwei Tage später. Ich warf alles über den Zaun. Doch eine andere Frau fing die Sachen auf und rannte damit davon. Anne weinte und war wütend. Ich sagte ihr: ‚Anne, wir versuchen es noch einmal!‘ Beim nächsten Mal hat es geschafft. Wir haben uns noch ein drittes Mal gesehen, das war das letzte Mal. 1945 im August habe ich Otto Frank, Annes Vater, wiedergesehen. Ich habe ihm erzählt, dass ich Anne noch im Februar getroffen habe.“
Goslar fasst ihre besondere Freundschaft zusammen: „Wichtig ist, dass durch Anne viele Leute Bescheid wissen. Das Tagebuch ist sehr schön geschrieben, und nicht gewalttätig. In einem Satz schreibt sie, dass sie an das Gute im Menschen glaubt. Das war aber noch vor Auschwitz.“
„Was ist der Unterschied zwischen uns beiden?“
Im Fernsehinterview seufzt Goslar: „Anne schrieb: ‚Hanneli, wenn ich über dich nachgrübele, denke ich immer daran, was mir hätte passieren können. Warum bin ich zum Leben erwählt und sie musste sterben? Was ist der Unterschied zwischen uns beiden?‘“ Goslar schaut nachdenklich: „Das war eine gute Frage. Denn es ist ja gerade andersherum gekommen.“
Erst im vergangenen Jahr brachte Netflix den Film „Meine beste Freundin Anne Frank“ heraus. Ebenso berichten mehrere Bücher auf Hebräisch über die außergewöhnliche Freundschaft zwischen Hanna Goslar und Anne Frank. Ebenfalls gibt ein Interview in englischer Sprache einen guten Überblick über das Leben von Hanna Goslar.
Hanneli Goslar und ihre zwölf Jahre jüngere Schwester Rachel waren insgesamt 14 Monate im Lager Bergen-Belsen inhaftiert. Zusammen mit den Mithäftlingen wurden sie am 23. April 1945 mit dem letzten „Verlorenen Zug“ gerettet, der in der Endphase des Zweiten Weltkrieges beim Nahen der britischen Truppen die Inhaftierten in das Konzentrationslager Theresienstadt bringen sollte. Der Zug mit 2.400 Häftlingen hielt jedoch im brandenburgischen Tröbitz auf offener Strecke und die Häftlinge konnten von der Roten Armee befreit werden. 200 hatten nicht überlebt, die restlichen Häftlinge waren unterernährt, weitere 320 Menschen starben an den Folgen.
Abschied von der großen Schwester
Vor der Bestattung am Samstagabend wendet sich die 82-jährige Schwester Rachel an ihre große Schwester: „Für mich warst du immer meine große Schwester. Anderen Leuten hast du mich immer als deine kleine Schwester vorgestellt. Seitdem unsere Mutter gestorben ist, warst du mir eine Mutter. Ich war gerade mal zwei Jahre alt und du 14. In den Lagern Westerbork und Bergen-Belsen hast du alles dafür getan, damit wir überleben. Am Ende sind nur wir beide übriggeblieben. Du warst immer großartig. Eine tolle Mutter und Großmutter. Du hast es geschafft, nach der Hölle eine tolle Familie zu gründen, die Werte vertritt und eine große Liebe zum Land Israel hat, so wie es unser Vater sich gewünscht hatte.“
Am 30. Mai 1947 wanderte Goslar ins britische Mandatsgebiet Palästina aus. Sie absolvierte eine Ausbildung zur Kinderkrankenschwester und arbeitete im Jerusalemer Krankenhaus Bikkur Holim. Ihre kleine Schwester folgte zwei Jahre später.
Goslar heiratete Walter Pinchas Pick. Im Beisein der Familie wurde die Wahljerusalemerin in der Nacht auf Sonntag auf dem Ölberg in Jerusalem zu Grabe getragen. Sie hinterlässt drei Kinder, elf Enkel und 31 Urenkel.
Vor der Trauergemeinde erzählt Rali weiter: „Kein Schmerz und keine Trauer haben verhindern können, dass du dich für deine Familie und andere eingesetzt hat. Du hast viel Grund zur Freude in deinem Leben gehabt, aber auch viel Schweres durchgemacht. Geliebte große Schwester, passe weiterhin auf uns auf. Und berichte unseren Eltern, dass ich nach deinem Vorbild gelebt habe und auch ich eine wunderbare Familie gründen durfte.“ (mh)
3 Antworten
@ Redaktion
DANKE.
Danke für den eindrucksvollen Bericht. Hannah Pick (Goslar) war mir seit vielen Jahren eine persönliche wunderbare Freundin. Ich werde sie sehr vermissen, aber ihr Geist wird allzeit in und mit uns leben. R.I.P. liebe Hannah!
Ich habe mir gerade den Spielfilm angesehen und bin doch etwas sprachlos. Mich freut es, das Hannah und Gabi diese gefährliche Zeit überstanden haben. Ja sogar ein schönes alter erreicht haben mit Familie.
Ja Gabi lebt noch und ich hoffe für sie noch sehr lange . Ich habe das Internet durchwühlt weil ich mehr wissen wollte .
Mich hat dieser Film sehr bewegt.
26.01.2023
Mario aus Deutschland