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Schoa-Überlebender: „Sie sollen wissen, was Israel für uns bedeutet“

In Stuttgart erzählt ein Überlebender von seiner Deportation nach Auschwitz. Dass er mit israelischen Schülern in der KZ-Gedenkstätte über seine Erfahrungen spricht, hat einen besonderen Grund.
Von Elisabeth Hausen

STUTTGART (inn) – Bei einer Veranstaltung einen Tag nach dem Internationalen Holocaust-Gedenktag in Stuttgart hat der Auschwitz-Überlebende Arie Pinsker von seinen Erfahrungen als 13-Jähriger erzählt. Er lebt in Israel. Das Thema der Veranstaltung am Dienstag, bei der auch Politiker zu Wort kamen, war: „80 Jahre nach Auschwitz: Verantwortlich handeln heute und morgen“.

Foto: Israelnetz/Elisabeth Hausen
Zu der Veranstaltung im Neuen Schloss waren Führungskräfte von Unternehmen und Politiker eingeladen

Arie Pinsker wurde 1930 in einem Teil von Rumänien geboren, der später zu Ungarn gehörte. Anfang 1944 kam seine Familie in ein Ghetto, wo sie auf engstem Raum leben musste. Als seine Mutter eine Reise nach Nordungarn angekündigte, freute sich der Junge auf die Abwechslung: „Ich war 13, aber naiv.“ Sein Vater hingegen hatte Angst – die polnischen Verwandten „waren schon vernichtet worden“.

Fünf Tage war die Familie in einem vollen Waggon ohne Fenster unterwegs, für etwa 100 Deportierte gab es zwei Eimer – einen mit Wasser und einen als Toilette. Als er in Auschwitz-Birkenau die Häftlinge in der Sträflingskleidung sah, hielt er sie für Gefängnisinsassen. Dass es Juden sein könnten, kam ihm nicht in den Sinn. Lautsprecherdurchsagen kündigten einen „vorübergehenden Aufenthalt, Desinfektion und Duschen“ an.

Nach vier Monaten wurde er von Auschwitz in ein Außenlager von Dachau gebracht, Kaufering 1 bei Landsberg. Zudem überstand er einen „Todesmarsch“ Richtung Österreich, er wurde im Mai 1945 befreit. Bis auf Arie und zwei ältere Brüder wurde die Familie Pinsker im Vernichtungslager ermordet. Arie Pinsker wanderte nach Israel aus – und wollte nie wieder nach Deutschland zurück.

Besuche in Auschwitz mit israelischen Schülern

Auschwitz hat er hingegen bereits 78-mal besucht. Er erzählt israelischen Schülern, die vor dem Militärdienst stehen, von seinen Erlebnissen während der Schoa: „Sie sollen wissen, was das Land Israel für uns bedeutet.“

In Stuttgart schilderte Pinsker seine Erfahrungen auf Deutsch, suchte mitunter nach Worten und Formulierungen. Immer wieder ließ er auch hebräische Ausdrücke einfließen. Die übersetzte dann der Leiter des Erholungsheims für Holocaust-Überlebende in Nordisrael, Schmuel Bayer. Das Heim betreibt das christliche Hilfswerk Zedakah.

Auf seiner Deutschlandreise wurde der Überlebende von seinen Söhnen Ilan und Jehuda Pinsker begleitet, die kein Deutsch sprechen. Viele Jahre lang habe ihr Vater ihnen nichts von seinen Erlebnissen erzählt, sagten sie gegenüber Israelnetz.

Überlebende schwiegen gegenüber ihren Kindern

Diese Erfahrung machten die meisten Kinder von Überlebenden der Judenvernichtung. Davon weiß der 1947 geborene Arzt Fredy Kahn aus Nagold im Schwarzwald zu berichten. Der Vater stammte aus dem nahegelegenen Baisingen. Er war viereinhalb Jahre in insgesamt sechs Konzentrationslagern interniert und verlor seine schwangere Frau. 1946 heiratete er eine Überlebende aus Stuttgart, die dreieinhalb Jahre in Lagern verbracht hatte.

Kahn selbst ahnte als Kind nur, dass seine Eltern etwas Schlimmes erlebt hatten, berichtete er bei der Gedenkveranstaltung. In einem Gedenkbuch mit den Namen der rund 10.000 baden-württembergischen Juden, die im Holocaust ermordet wurden, habe der Vater die Namen der Verwandten markiert. Außerdem hinterließ er seinem Sohn eine Widmung mit der Aufforderung, Deutschland zu verlassen, falls wieder eine böse Zeit komme – und nicht seinen Fehler zu wiederholen.

Kahn merkte an: „Nicht alle Deutschen waren Nazis. Aber die meisten haben sich dem Verbrecher angeschlossen.“ Mit Bezug auf die aktuelle Lage betonte er: „Antisemitismus ist nicht nur rechts, sondern auch links, und zwar sehr gravierend.“

Generalkonsulin: Radikalisierte Muslime besonders gefährlich

Vor einer einseitigen Zuschreibung von Antisemitismus warnte auch die israelische Generalkonsulin in München, Talya Lador-Fresher. Den ständigen Polizeischutz habe sie nicht wegen Skinheads, Aufrufe gegen die AfD seien nicht ausreichend. Es gebe auch links geprägten Judenhass. Für am gefährlichsten halte sie aber radikalisierte Muslime. Der Schütze, der im September einen Anschlag auf das Generalkonsulat versuchte, sei einer von ihnen gewesen.

Als wichtiges Mittel gegen Antisemitismus nannte die Diplomatin in einem Podiumsgespräch die persönliche Begegnung. Leider habe der deutsch-israelische Jugendaustausch wegen Corona und wegen des Krieges fünf Jahre verloren. „Deutsche haben Angst, Israel zu besuchen. Israelis haben Angst, Deutschland zu besuchen.“ Israelis sage sie: „Es ist wichtig. Es ist nicht so gefährlich hier.“

Foto: Israelnetz/Elisabeth Hausen
Begegnung als wichtiges Mittel: (v.l.) Moderator Clesle, Generalkonsulin Lador-Fresher, Bildungsministerin Schopper und der Landtagsabgeordnete Hagel

Auch die baden-württembergische Kultusministerin Theresa Schopper (Die Grünen) sprach sich für persönliche Treffen aus. Damit deutsche Schüler jüdisches Leben konkret kennenlernen könnten, sei etwa das Programm „Meet a Jew“ (Triff einen Juden) nützlich. Dabei erzählen Juden in Schulklassen, was ihre jüdische Identität ausmacht.

Weiter sagte die Politikerin, wenn Schüler von Zeitzeugen deren Geschichte hörten, seien das für sie eindrückliche Momente. Dadurch verändere sich auch ihr Israelbild. Angesichts einer Zunahme an antisemitischen Vorfällen müssten auch Kirchen und Zivilgesellschaft in die Aufklärung einbezogen werden.

Der CDU-Fraktionsvorsitzende im Landtag Manuel Hagel plädierte für Konsequenz bei Judenfeindlichkeit: „Antisemitismus ist keine Meinung, er ist Menschenhass.“ Strafrechtliche Mittel seien hier nötig. Persönliche Begegnungen könnten eine gesellschaftliche Resilienz gegen Anfänge des Antisemitismus schaffen.

Hagel äußerte seine Verwunderung über regelmäßige Demonstrationen gegen den Staat Israel in Stuttgart. Diese würden ausgerechnet vor der jüdischen Grundschule abgehalten.

Wanderausstellung „Holocaust gezeichnet“

Bei der Veranstaltung für Führungskräfte konnten die Teilnehmer auch eine interaktive Wanderausstellung besichtigen. Sie steht unter dem Titel „Holocaust gezeichnet“.

Zu sehen sind 19 Bleistiftzeichnungen der Holocaust-Überlebenden Ella Liebermann-Shiber (1923–1998). Da geht es unter anderem um das Leben und Sterben im Konzentrationslager. Zur Ausstellung gehören ferner Audioaufnahmen, Fotografien und Videoclips. Schulen, Gemeindezentren und Begegnungsstätten können sie einsetzen.

Foto: Israelnetz/Elisabeth Hausen
Ella Liebermann-Shiber hat auch das Sterben im Konzentrationslager festgehalten

Die Initiative „Papierblatt“ hat die Schau erstellt. Ihr Name stammt vom Überlebenden Mordechai Papirblat, der 2022 starb. Von ihm hat sie ein Buch herausgegeben: „900 Tage in Auschwitz. Tagebuch eines Holocaust-Überlebenden“.

Die Mitarbeiter des Projektes archivieren Zeitzeugenberichte digital. Dazu gibt es ein begleitendes Bildungsprogramm. Verantwortlich sind Frank Clesle vom Hilfswerk Zedakah, Timo Roller vom Medienunternehmen Morija und der Calwer Schuldekan Thorsten Trautwein. Papierblatt und Zedakah waren die Organisatoren der Veranstaltung in Stuttgart.

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  1. Generalkonsulin in München, Talya Lador-Fresher: „Es gebe auch links geprägten Judenhass. Für am gefährlichsten halte sie aber radikalisierte Muslime.“ Hat sie Recht? Ja.

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