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Rückkehr zum „wahren Islam“

Ob Anschläge islamistischer Terroristen wie am 11. September 2001, Initiativen arabischer Staaten zur Islamisierung der UN-Menschenrechte oder bundesweite Koranverteilaktionen und gewaltsame Proteste gegen Muhammad-Karikaturen in Bonn – viele aktuelle Ereignisse und Entwicklungen kann man kaum verstehen, wenn man sich nicht mit den ideologischen Hintergründen beschäftigt. Wahhabiten und Salafisten wollen zurück zum „wahren Islam“. Sie dominieren heute die innerislamischen Diskurse in der islamischen Welt und sogar in vielen westlichen Ländern.
Im 18. Jahrhundert begannen die Wahhabiten ihre Herrschaft über Mekka.

Der Wahhabismus ist im 18. Jahrhundert auf der Arabischen Halbinsel entstanden und geht auf das Wirken Ibn Abd al-Wahhabs (1703-1791) zurück. Abd al-Wahhab betonte in seinen Schriften vor allem die „Einsheit“ (tauhid) Gottes und forderte die buchstabengetreue Nachahmung des prophetischen Vorbilds Muhammads sowie die Reinigung des Islam von allen „unislamischen Neuerungen“. Dabei richtete er sich sowohl gegen schiitische Lehren als auch gegen sufische und volksislamische Praktiken wie den weit verbreiteten Gräberkult, das Aufsuchen von Heiligen als Fürsprechern bei Gott oder die Feier von Muhammads Geburtstag. Muslime, die solche Dinge taten, machten sich aus seiner Sicht der Vielgötterei und damit der schlimmsten Sünde schuldig.
Während Abd al-Wahhab und seine Anhänger von ihren Gegnern als Wahhabiten bezeichnet wurden, nannten sie sich selbst „al-muwahhidun“, das heißt „diejenigen, die Gott zu einem machen“. Statt sich auf den traditionellen Konsens der Gelehrten zu berufen, wollte Abd al-Wahhab seine Überzeugungen allein auf der Grundlage des Korans und der Gewohnheit (sunna) Muhammads und seiner Gefährten und Nachfolger entwickeln.
Durch eine enge Anbindung an den mächtigen arabischen Stamm der Banu Saud stiegen die Wahhabiten 1746 zur dominanten Strömung auf der Arabischen Halbinsel auf. Die anderen arabischen Stämme wurden zuerst zu Ungläubigen und in der Folge zu legitimen Zielen eines gewaltsamen Dschihad erklärt. Nach der Eroberung mehrerer Fürstentümer etablierten die Banu Saud 1773 die erste wahhabitische Herrschaft und eroberten 1805 und 1806 schließlich auch Mekka und Medina. 1818 folgte ein Rückschlag, als ägyptische Truppen das wahhabitische Territorium eroberten. Erst im Jahre 1902 konnten sich die Wahhabiten unter Abd al-Aziz Ibn Saud endgültig durchsetzen. Nach der Eroberung Riads kam es 1902 zur Gründung des heutigen Saudi-Arabiens mit dem Wahhabismus als offizieller Staatsreligion und dem Koran und der islamischen Überlieferung als „Verfassung“.
Die Entstehung des Salafismus
Während der Wahhabismus als innerislamische Reformbewegung entstanden ist, entwickelte sich der Salafismus im 19. Jahrhundert in unterschiedlichen Regionen als Reaktion auf den Kolonialismus – in einer Zeit, in der Muslimen die Überlegenheit des „christlichen“ Westens in wissenschaftlicher, technologischer und militärischer Hinsicht deutlich vor Augen stand. Die stand für führende islamische Denker dieser Zeit im schmerzlichen Widerspruch zur koranischen Feststellung, dass der Islam die abschließende, vollkommene und damit allen anderen Weltanschauungen und Systemen überlegene Religion sei.
Die wichtigsten Vordenker salafistischer Ideologie wie der Journalist und Aktivist Dschamal ad-Din al-Afghani und der Intellektuelle und spätere Obermufti von Ägypten Muhammad Abduh bedauerten die Erstarrung ihrer muslimischen Zeitgenossen. Aus ihrer Sicht hatten die Gelehrten den Bezug zum muslimischen Alltag in der Moderne verloren. Gleichzeitig beklagten die frühen Salafisten die „blinde Nachahmung und Anbetung Europas“. In ihren in der islamischen Welt weit verbreiteten Zeitschriften „Al-Urwa al-Wuthka“ („Das feste Band“) und „Al-Manar“ („Der Leuchtturm“) idealisierten sie die islamische Urgemeinde von Medina und der ersten drei Generationen nach Muhammad, der so genannten „frommen Altvorderen“ (as-salaf as-salih), und wandten sich wie die Wahhabiten scharf gegen jede „unislamische Neuerung“. Indem sich Muslime auf ihre eigenen Fundamente zurückbesannen, würden sie zur alten Vormachtstellung des „Goldenen Zeitalters“ der Frühzeit zurückkehren können.
Aus Sicht der frühen Salafisten war der Islam eine „reine Vernunftreligion“ mit Antworten auf alle Fragen der menschlichen Natur und des menschlichen Zusammenlebens. Demnach war nicht der Islam selbst, sondern lediglich seine vorherrschende Auslegung rückständig. Mithilfe der eigenständigen Rechtsfindung (ijtihad) sollte die Vereinbarkeit von Islam und Moderne bewiesen werden. Durch eine radikale Selbstreinigung sollten Muslime weltweit ihre inneren Spaltungen überwinden und sich langfristig unter der Herrschaft eines Kalifen und der Geltung islamischer Rechtsbestimmungen vereinen.
Islamismus des 20. Jahrhunderts
Der Widerspruch zwischen der Verachtung des westlichen Wertesystems einerseits und der Aneignung moderner westlicher Errungenschaften andererseits führte anfangs zu heftigen innermuslimischen Auseinandersetzungen um den „wahren Islam“. Im 20. Jahrhundert setzten sich die rückwärtsgewandten Kräfte durch, die eher die Moderne islamisieren als den Islam modernisieren wollten. Mit der 1928 in Ägypten vom Volksschullehrer Hassan al-Banna gegründeten Muslimbruderschaft entstand die einflussreichste islamische Massenbewegung der Gegenwart mit einem weltweiten Netzwerk sozialer und karitativer Einrichtungen und Ablegern in über hundert Ländern.
In Zeiten der britischen Kolonialherrschaft in Ägypten propagierten die Muslimbrüder den Islam in Anknüpfung an wahhabitisch-salafistische Ideen als „die Lösung“ für alle politischen, sozialen und wirtschaftlichen Probleme – und nicht zuletzt als Bollwerk gegen die zunehmende Verwestlichung islamischer Staaten. In der zunehmenden Konfrontation mit der ägyptischen Regierung kam es zu einer weiteren Radikalisierung vieler Anhänger, die fortan den gewaltsamen Dschihad nicht mehr als letztes, sondern als erstes Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele propagierten und dafür zuvor – ganz ähnlich wie die Wahhabiten – ihre Gegner exkommunizierten. Dieser Dschihad richtete sich nicht nur gegen den „ungläubigen“ Westen, sondern auch gegen die eigenen Machthaber und deren Unterstützer.
Trotz aller Unterschiede zwischen beiden Strömungen fanden viele salafistische Islamisten Zuflucht in den Golfstaaten und wirkten dort am Aufbau islamischer Bildungsinstitutionen mit. 1962 wurde in Mekka die Islamische Weltliga gegründet und 1969 im Zuge der Reislamisierungsbewegung und als Reaktion auf die vernichtende Niederlage arabischer Staaten gegen Israel im Sechstagekrieg (1967) ein Zusammenschluss islamischer Staaten (OIC), dem heute 57 Staaten angehören. Vor allem mit Ölgeldern sponsern besonders die Golfstaaten weltweit die Errichtung von Moscheen, Koranschulen und islamischen Studienzentren zur Verbreitung ihrer Ideologie. Auch in vielen muslimischen Verbänden im Westen dominiert heute eine mehr oder weniger „gemäßigte“ wahhabitisch-salafistische Auslegung des Islam, die in der Regel auch Juden und Christen als „Ungläubige“ betrachtet und nicht selten Verschwörungstheorien des europäischen Antisemitismus koranisch legitimiert.
In bekannten salafistisch inspirierten islamischen Menschenrechtserklärungen erscheint der Islam als Botschaft der Befreiung für eine im Materialismus gefangene Menschheit. Die umfassende Aufrichtung der Scharia – auch mit ihren zahlreichen diskriminierenden Vorschriften für Frauen und Nicht-Muslime – gilt als Voraussetzung für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt. Menschenrechte wie die Glaubens- und Meinungsfreiheit stehen daher unter dem Vorbehalt der Scharia. Kritik an den Quellen und dem Vorbild Muhammads ist unter Androhung eines gewaltsamen „Dschihad der Verteidigung“ ausgeschlossen. Gottes Gesetze dürfen demnach niemals durch menschengemachte Gesetze aufgehoben werden. Damit steht der Salafismus in einem prinzipiellen Gegensatz zum modernen freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat.
Salafisten in Deutschland
In Deutschland und anderen westlichen Ländern richten sich die wahhabitisch-salafistischen Gruppen vor allem an orientierungslose und innerlich zerrissene Migranten, die auf der Suche nach ihrer Identität sind, sowie an Nicht-Muslime, die in einer zunehmend individualistischen und relativistischen Gesellschaft ein neues Gemeinschaftsgefühl und einfache Antworten suchen. Besonders anziehend ist der islamische Überlegenheitsanspruch für diejenigen, die sich als Verlierer und Opfer der Gesellschaft wahrnehmen. Ausgerechnet über das im Westen erfundene Internet sowie über Islamseminare in Moscheen und Straßenstände in Stadtzentren wettern die Salafisten gegen den „ungläubigen Westen“ und propagieren die Rückkehr zu den Werten und Rechtsnormen Muhammads und seiner Zeitgenossen aus dem siebten Jahrhundert.
Sicherheitsbehörden warnen vor den fließenden Übergängen zwischen den scheinbar gemäßigten und kompromissbereiten Gruppen einerseits und den radikalen und militanten Strömungen andererseits. Die Geschichte des Wahhabismus und des Salafismus gibt ihnen Recht. Da radikale und gemäßigte Vertreter dieselben ideologischen Grundannahmen teilen, hängt es eher von ihrer Situationsanalyse und der bevorzugten Taktik ab, ob sie sich gerade auf Menschenrechte und Demokratie berufen oder Gewalt anwenden, um ihre Ziele durchzusetzen. Will man Radikalisierung besser verstehen und ihr effektiv vorbeugen, braucht es daher dringend ein stärkeres Bewusstsein für die ideologischen Zusammenhänge und geschichtlichen Wurzeln dieser beiden Strömungen.

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