Das israelische Presseamt hatte 1986 zum Empfang Demjanjuks auf dem Flughafen jedem Journalisten eine gelbe Ausweiskarte an die Brust geheftet. „Die sieht aus wie der gelbe Fleck, den Juden tragen mussten“, ulkte eine Fotografin. Begleitet von Polizeibeamten verließ Demjanjuk in Handschellen die „El Al“-Boeing.
Elijahu Rosenberg überlebte Treblinka: “Dieser Ukrainer vergnügte sich damit, Menschen zu quälen, vor allem Frauen. Mit einem Dolch stach er den Frauen in die Schenkel und Geschlechtsteile, als sie nackt in die Gaskammern geführt wurden. Älteren Juden, die ihm besonders unsympathisch waren, schnitt er Nase oder Ohren ab.“
Die Zelle
Die gelbe Farbe im Sondertrakt des Ajalon-Gefängnisses bei Ramle stinkt frisch. In seiner Zelle – 3 mal 3,5 Meter groß – befinden sich ein einfaches Bett, ein winziger Holzstuhl, ein Tisch und ein Waschbecken. Auf seinem Bett liegen drei graue Wolldecken, orangefarbene Hemden und braune Hosen. Alles ist mit den hebräischen Buchstaben für „Gefängnis“ gekennzeichnet – auch Strümpfe der Größe 12, billige schwarze Schuhe und Plastik-Pantoffeln in Originalverpackung. In einem Stacheldraht-bewehrten Innenhof kann er 12 Schritte in eine und 8 Schritte in die andere Richtung gehen. Der Nazi-Mörder Adolf Eichmann saß in diesem Gefängnis bis zu seiner Hinrichtung 1963.
Reaktionen
Demjanjuks Prozess entspreche dem Bestreben nach “absoluter Gerechtigkeit“, sagt Außenminister Jitzhak Schamir. Professor Jehoschua Arieli meint: “Diese Art von Tribunal ist ungeeignet, das seelische Gleichgewicht der israelischen Gesellschaft wiederherzustellen.“ Professor Jeschaja Leibowitz argwöhnt: “Die Regierung bringt Demjanjuk her, um die Bevölkerung von Israel ihre Probleme vergessen zu lassen.“ Beim Holocaust-Überlebenden Naftali Lavi klingt Rache heraus: “Das jüdische Volk soll das Privileg genießen, über einen Mann Recht zu sprechen, der Juden ermordet hat.“
Der Prozess
Am 3. März 1987 sitzt Premierminister Schamir im überfüllten Gerichtssaal und blickt auf den Angeklagten. Der amerikanische Verteidiger, Marc O’Connor, fragt den Zeugen Elijahu Rosenberg, ob er den nackten Menschen auf ihrem Weg zur Gaskammer geholfen habe. O’Connor hatte die delikateste aller Fragen gestellt: Was haben Juden getan, um den Massentod im Holocaust zu verhindern? Warum verdingten sie sich als Leichenträger der Nazi-Mörder? Ohne sie hätte der industrielle Genozid nicht „funktioniert“. Rosenberg hatte als „Totenjude“ die Aufgabe, die Leichen der frisch ermordeten Menschen aus den Gaskammern herauszuholen und in Verbrennungsgruben zu werfen. „Weil Babys besser brennen, dienten sie als Zündstoff bei der Verbrennung der Erwachsenen-Leichen.“ Iwan der Schreckliche hätte ihn lebendigen Leibes in eine blutgefüllte Grube geworfen, wenn er den Menschen in der so genannten „Himmelsstraße“ auf ihrem Todesgang geholfen hätte. „Ata Schakran“ (Du bist ein Lügner), murmelt Demjanjuk auf Hebräisch. Es klang, als habe er sich verraten. Demjanjuk hat im Ramle-Gefängnis ein wenig Hebräisch gelernt.
Das Publikum
Das Publikum besteht zur Hälfte aus frommen Juden und auffällig vielen Jugendlichen orientalischer Herkunft. „Es waren unsere Brüder, unser Volk, das von den Nazis umgebracht worden ist.“ Die aus Marokko stammende Vered, 16, fragt, ob es „gerecht ist, einen Mann vierzig Jahre nach begangenen Verbrechen abzuurteilen“. Ihr kurdischer Freund Ofer, 18, meint, dass es schade um das Geld sei, das Israel in diesen Prozess stecke. Nachdem der angeklagte John Demjanjuk von Überlebenden „eindeutig“ als „Iwan der Schreckliche“ wiedererkannt worden sei, hätte man ihm einen „kurzen Prozess“ machen und ihn aufhängen sollen.
In der Montur ultraorthodoxer Juden war Zvi, 24, erschienen. Zvis Vater war der einzige Überlebende seiner Familie. „Seit Prozessbeginn hat sich mein Vater geöffnet. Er erzählt seine eigenen Erlebnisse.“ Der Holocaust sei „eine Strafe Gottes für das jüdische Volk“ gewesen. Durch Mischehen mit „Gojim“ (Nicht-Juden) hätten sich die Juden versündigt. „Stünde Demjanjuk vor einem rabbinischen Gericht, hätte er keine Todesstrafe zu erwarten, denn die jüdische Religion kennt keine Rache. Gott wird das Blut der Unschuldigen rächen.“
Kritik an dem Verteidiger
Oberrichter Levin kritisiert: „Herr O’Connor, ich weiß zwar, dass alle Ihre Fragen äußerst wichtig sind. Doch vielleicht könnten Sie die unwichtigen Fragen streichen, damit wir schneller vorankommen.“ O’Connor schwebt noch mit fliegendem Talar wie ein Advokat aus amerikanischen Filmen über die Jerusalemer Bühne. Der barsche Ton des Richters schreckt ihn kurz auf. Mit einer elegant gespielten Fingerbewegung drückt er sich den Kopfhörer aufs Ohr, durch den ihm mit einer gewissen Zeitverschiebung der Dolmetscher die hebräische Bemerkung des Richters ins Englische überträgt. O’Connor hält kurz inne, lächelt, zuckt mit den Augenbrauen und sagt dann dem Richter: „Hochwürdiges Gericht, danke für die Erleuchtung. Sie wissen, dass wir dieses hochwürdige Gericht hoch einschätzen und ihm niemals widersprechen. Ihre Weisheit ist großartig, und wir würden es keinesfalls wagen, anderer Meinung zu sein, aber haben Sie, hochgeehrtes Tribunal, bitte Verständnis für die Bedeutung meiner Fragen…“
Grotesk ist auch das Thema des Prozesses. Es geht nicht um die Schuld oder Unschuld des Angeklagten, im Vernichtungslager Treblinka jüdische Opfer geschlagen, verstümmelt und ermordet zu haben. Die Verbrechen von „Iwan dem Schrecklichen“ hat die Verteidigung schon am ersten Tag eingestanden. Es geht allein um die Frage, ob der Mann auf der Anklagebank mit „Iwan dem Schrecklichen“ identisch ist. Wochenlang geht es um die Echtheit eines Dienstausweises eines gewissen „Demjanjuk“. Laut Verteidigung sei das Dokument eine KGB-Fälschung.
Edna Robertson, eine ältliche Amerikanerin mit toupiertem Haar und enervierendem texanischen Akzent, wird als erste Expertin der Verteidigung in den Zeugenstand gerufen, um den Dienstausweis „in Stücke zu reißen“. Was kam, war eine erbärmliche Mischung aus Dilettantismus, Hochstapelei und Naivität. Punkt für Punkt offenbarte Staatsanwalt Michael Schaked die sachlichen Fehler der alten Dame. Robertson begründete die Fälschung mit Rostflecken, Knicken, Druckfehlern und Verfärbungen der Stempel. Kleinlaut gestand sie, dass sie von Chemie, Papier oder Tintenverfärbung nichts verstehe. Anstatt winzige Proben des Originalausweises aus dem Jahr 1942 zu verlangen, habe sie (amerikanisches) „Butterbrotpapier von Schulkindern“ aus dem Laden nebenan in ihrem Dorf in Florida benutzt, „weil es ganz ähnlich aussah“. Zur Frage, ob die angeblichen KGB-Fälscher das Ausweisphoto mit Lösemittel entfernt hätten, erklärte Schaked der alten Dame den Zusammenhang zwischen Nagellack und Azeton. Sie zeigte ihre Fingernägel und raunte mit verzerrter Miene: „So etwas benutze ich nicht.“ Die alte Dame rechtfertigte ihr „Expertentum“ mit Lektüre in Enzyklopädien, dem Besuch in einer Papierfabrik und mit ihrem „gesunden Menschenverstand“. Oberrichter Levin wurde ungehalten: Einen solchen „Quatsch“ lasse er sich nicht bieten.
Demjanjuks Leben
„Haben Sie in der russischen Armee einen Rang erhalten?“, fragt Verteidiger John Gill. Demjanjuk stockt, denkt nach und sagt: „Ich habe die Frage nicht verstanden.“ Oberrichter Dov Levin rät: „Könnte der Verteidiger die Frage so stellen, dass der Angeklagte sie auch versteht?“ Neun Jahre ist Demjanjuk zur Schule gegangen, hat aber nur vier Schuljahre geschafft. Im Winter musste er oft schwänzen, wenn sein Vater ausging: „Mein Vater und ich teilten uns ein einziges Paar Schuhe.“ Nach 30 Jahren in den USA lernte er nicht einmal genügend Englisch, um alleine im Supermarkt einzukaufen. „Ich musste Mitglied der sowjetischen Jugendorganisation Komsomol werden, wurde aber abgewiesen, weil ich keine Unterhosen besaß.“
Demjanjuk erzählt, dass es keinerlei Religionsunterricht gegeben habe. „Religion war in der Sowjetunion verboten. Mein Vater hat mir nichts über Gott erzählt, denn wenn er das Gegenteil von dem erzählt hätte, was in der Schule gesagt wurde, wäre er verhaftet worden.“ Demjanjuk wuchs während Stalins Agrarreform auf. „Es herrschte eine große Hungersnot in der Ukraine. Man nahm den Bauern alles weg, was sie besaßen. Die Leichen lagen überall herum. Niemand begrub sie.“ Demjanjuk habe als junger Mann Ratten, Mäuse, Hunde und Vögel gegessen. „Sogar unsere Hauskatze habe ich aufgegessen, um zu überleben.“