JERUSALEM (inn) – Der israelische Staatspräsident Reuven Rivlin hat das Mandat für die Regierungsbildung am Donnerstag an die Knesset übergeben. Sie hat dafür 21 Tage Zeit. Um Mitternacht war eine Frist abgelaufen, die er Blau-Weiß-Chef Benny Gantz für die Verhandlungen gewährt hatte. Es handelte sich um eine Verlängerung der eigentlichen Frist um 48 Stunden.
Zwei Stunden nach Ablauf der Frist für den politisch unerfahrenen Ex-Generalstabschef Gantz unterbrachen die Verhandler mit dem Team von Übergangspremier Benjamin Netanjahu ihre erfolglosen Gespräche. Sie wollten sie am Donnerstag fortsetzen. Die Blau-Weiß-Partei von Gantz hat sich inzwischen fast aufgelöst und wirft Netanjahu vor, auf einen vierten Wahlgang seit dem 9. April 2019 hinzuarbeiten.
Netanjahu will Gesetze verhindern, die ihm verbieten könnten, nach Beginn eines Prozesses wegen Veruntreuung und Bestechung weiterhin Premierminister zu bleiben. Eine Anklageschrift wurde schon eingereicht. Aber weil alle Gerichte in Israel wegen der Corona-Krise geschlossen worden sind, konnte sie noch nicht verlesen und von einem Richter angenommen werden. Netanjahu ist also noch nicht formal angeklagt worden.
Staatshaushalt von 2018 berücksichtigt Coronavirus nicht
Seit über einem Jahr steht er an der Spitze einer Übergangsregierung. Das hat den Vorteil, von keinem parlamentarischem Ausschuss überwacht zu werden. Er kann sich jegliche politische Fehler leisten, weil er zur Zeit „unstürzbar“ ist. Damit hat er mehr Vollmachten als ein regulär gewählter Regierungschef. Gleichzeitig bedeutet aber dieser Zustand, dass seine Regierung keinen neuen Staatshaushalt vorbereiten und vom Parlament absegnen lassen kann. So kann er jeden Monat nur ein Zwölftel des 2018 entstandenen Staatshaushaltes für 2019 zur Finanzierung der notwendigen Ausgaben verwenden.
Doch 2018 gab es noch nicht das Coronavirus, das auch in Israel zugeschlagen hat. Die meisten Arbeitnehmer im Land sind inzwischen arbeitslos oder befinden sich im „unbezahlten Urlaub“. Um Gelder freizumachen, hat Netanjahu zum Beispiel den israelischen Diplomaten in aller Welt die Spesen gestrichen. Das hat auch Folgen für die Koalitionsverhandlungen. Niemand reißt sich mehr um den Posten des einst so prestigereichen Außenministers und selbst Netanjahu ist bereit, auf diesen inzwischen „überflüssigen“ Job zu verzichten.
Nun müssen sich die 120 Abgeordneten auf einen Kandidaten aus ihren Reihen einigen. Wenn das nicht gelingt, würde wahrscheinlich am 27. Mai das Parlament aufgelöst, was Neuwahlen im August nach sich ziehen würde – auch diesmal mit geringer Aussicht auf eine klare Wählerentscheidung. Netanjahu würde wohl erneut als Wahlsieger hervorgehen, ohne jedoch die notwendige Mehrheit von 61 Stimmen für die Bildung einer Regierung zu erreichen. Die derzeitige Pattsituation – auf Hebräisch „Plonter“ genannt – dürfte sich fortsetzen.
Gestoppt und gelähmt wäre dann auch das Bemühen, einen Weg aus der derzeitigen Krise zu finden, eine Erneuerung der wirtschaftlichen Aktivitäten und eine Erneuerung des Schulsystems für über eine Million Schüler und Studenten im Lande. Diese sitzen derzeit in häuslicher Quarantäne, während einer fast kompletten landesweiten Ausgangssperre.
Drei Wahlgänge ohne klares Ergebnis
Wegen der Notsituation angesichts der Corona-Krise erklärte Gantz Ende März, er wolle eine Regierung mit Netanjahu bilden. Wahlen für die 23. Knesset gab es am 9. April und am 17. September 2019 sowie am 2. März 2020. In keinem Fall erlangte eines der großen Lager die erforderliche Mehrheit von 61 Sitzen.
Von: Ulrich W. Sahm / eh