Dass die aktuelle Regierung ein Bündnis von höchst unterschiedlichen Strömungen ist, hat sich inzwischen herumgesprochen. Und auch, dass ein Mosaikstein der bunten israelischen Gesellschaft dort nicht mehr vorhanden ist: Die Ultra-Orthodoxen finden sich seit Juni in der Opposition wieder. Und manche Politiker sehen nun die historische Chance, Reformen anzupacken, die die strenggläubigen Juden seit Jahren und Jahrzehnten verhindern konnten.
Vergleichsweise harmlos muten die Pläne für die Schulbildung an, die die Vorsitzende des Erziehungsausschusses in der Knesset, Scharren Haskel, am 11. Oktober verkündete. Die Politikerin der konservativen Partei „Neue Hoffnung“ will eine Regelung erreichen, „um das richtige Format zu finden, damit haredische Kinder ihr Potential nach eigener Wahl verwirklichen können“.
Das Schulsystem der aschkenasischen Ultra-Orthodoxen erhält zwar Staatsgelder, untersteht aber nicht der Regierungsaufsicht. Das Problem: Jungen in diesen Schulen lernen, im Gegensatz zu den Mädchen, keine Kernfächer wie Mathematik, Naturwissenschaft, Computertechnik oder Englisch. Entsprechend haben sie später Schwierigkeiten in der Ausbildung oder auf dem Arbeitsmarkt. Da die Gruppe der Ultra-Orthodoxen wächst, wird das auch zu einem Problem für ganz Israel. Der Ökonom Dan Ben-David sagt voraus, dass der Bevölkerungsanteil der Haredim von aktuell 9 Prozent bis zum Jahr 2065 auf 35 Prozent wachsen wird.
Haskel sieht nun ein Momentum, diese Problematik anzugehen: „Bislang war das Thema ein heißes Eisen, das niemand anfassen wollte. Doch nun, in der gegenwärtigen Regierung, haben wir die Chance für notwendige Veränderungen, die sogar die Vertreter der haredischen Öffentlichkeit wollen, aber nicht herbeiführen können.“
Eine Pflicht für alle
Tatsächlich hatte ein anderes „heißes Eisen“ mit für die politische Krise der vergangenen Jahre gesorgt: Ende 2018 löste sich die Knesset wegen des Streits um ein Gesetz zur Regelung der Wehrpflicht für Ultra-Orthodoxe auf. „Jesch Atid“-Chef Jair Lapid, damals in der Oppostion, befürchtete, der Likud mache mit den Ultra-Orthodoxen einen Deal: Demzufolge würden Wehrpflichtverweigerer unter der Hand entschädigt werden für Sanktionen, die sie laut dem damals geplanten Gesetz bekommen hätten. Daher verkündete Lapid, seine Partei werde gegen das Gesetz stimmen. Wegen des Rücktritts des damaligen Verteidigungsministers Avigdor Lieberman (Israel Beiteinu) einen Monat zuvor hatten die Regierungsparteien ohnehin nur noch eine knappe Mehrheit und gaben damit den Weg für für Neuwahlen frei.
Zweieinhalb Jahre und drei weitere Wahlen später gehören sowohl der Likud des bisherigen Premiers Benjamin Netanjahu als auch die ultra-orthodoxen Parteien der Opposition an. Und eine kleine Reform ist inzwischen auf den Weg gebracht: Die neue Regierung stimmte Ende August dafür, das Alter für Ausnahmen vom Wehrdienst von 24 auf 21 zu senken. Denn viele Ultra-Orthodoxe ziehen ihr Bibelstudium in die Länge, bis sie das nötige Alter erreicht haben, um dem Dienst zu entgehen. In dieser Zeit stehen sie weder der Armee noch dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Ziel ist es nun, diese Menschen zu einer der Alternativen zu bringen. Künftig soll das Alter wieder angehoben werden – verbunden mit der Möglichkeit, nur Wehrersatzdienst zu leisten, wenn die betreffende Person einer Ausbildung oder einer Arbeit nachgeht. Die Knesset muss diesem Plan allerdings noch zustimmen.
Politische Existenzdebatten
Während bei diesem Thema schon hart gestritten wird, tobt auch in einem anderen Bereich ein Kulturkampf: Am 20. Juli kündigte Religionsminister Matan Kahane (Jamina) die Reform des Kaschrut-Systems an, also der Vergabe von Koscher-Lizenzen für Restaurants, Hotels und Geschäfte. Selbstbewusst sprach er von einer „Revolution, die ich anführe“. Einen wichtigen Sieg hat er in der ersten Novemberwoche errungen, als die Knesset den Plänen zustimmte.
Dabei waren die Widerstände im Vorfeld groß: Das Oberrabbinat sprach von einem „Krieg gegen religiöse Angebote, dessen Fernziel die Abschaffung der jüdischen Identität Israels ist“. Ähnlich äußerte sich der Schass-Vorsitzende Arje Deri. Aus der ebenfalls ultra-orthodoxen Partei „Vereinigtes Tora-Judentum“ hieß es, Kahane wolle „das Judentum auslöschen“.
Bereits im Jahr 2017 hatte der damalige Staatsprüfer Josef Schapira Korruption und Vetternwirtschaft im aktuellen System angeprangert. So hatten etwa einige „Aufseher“, die vor Ort die Zertifikate vergaben, einen Lohn für 27 Arbeitsstunden pro Tag bekommen. Ein anderer Kritikpunkt ist das Kaschrut-Monopol und die damit verbundene Machtfülle des Oberrabbinats: Die Zeitung „Ha’aretz“ berichtete erst in diesem Sommer von einem Falafel-Imbiss, der wegen der Corona-Krise monatelang schließen musste und in dieser Zeit keine Gebühr für die Koscher-Lizenz zahlte. Als der Besitzer bei Wiedereröffnung eine neue haben wollte, sollte er für diese Monate nachzahlen, weigerte sich jedoch. Die Kaschrut-Behörde verteilte daraufhin Plakate mit Warnungen vor dem Imbiss.
Die Reform, die ab 2023 greifen soll, sieht nun vor, dass künftig private Behörden die Koscher-Lizenzen vergeben und nicht mehr nur die Rabbinate, die unter Aufsicht des Oberrabbinats stehen. Das Oberrabbinat selbst gibt nur noch die Regeln vor und überprüft, ob sich die privaten Behörden daran halten. Die dafür zuständige Person ernennt der Religionsminister. Ein Kritikpunkt aus Sicht der Ultra-Orthodoxen: Sofern drei lokale Rabbis dem zustimmen, kann eine Behörde die Vorgaben des Oberrabbinats auch „unterbieten“ und etwa ein Restaurant für „koscher“ erklären, wenn es am Schabbat öffnet.
Von dem entstehenden „Zertifikate-Markt“ erhofft sich Kahane nicht nur einen Rückgang der Korruption, sondern auch günstigere Lizenzen. Ein mittelgroßes Restaurant zahlt etwa 2.500 Euro pro Jahr für den „Koscher“-Stempel. Langfristig soll die Reform auch zu günstigeren Alltagspreisen führen.
Nicht minder kontrovers geht es bei der angestrebten Reform im Konversions-System zu. Die Pläne sind noch in der Schublade, aber auch hier geht es im Kern um Dezentralisierung. Bislang läuft ein Übertritt zum Judentum nur über das Oberrabbinat, auch wenn andere Strömungen, wie etwa das Reform-Judentum, auf diesen Schritt vorbereiten können. In Zukunft soll es jedoch auch städtischen Rabbis anderer Strömungen erlaubt sein, Konversionen vorzunehmen. Die Ultra-Orthodoxen befürchten auch hier eine Aufweichung der Kriterien. „Was die Reform- und konservativen Juden ‚Konversion‘ nennen, ist eine Fälschung des Judentums“, meldete sich etwa der sephardische Oberrabiner Jitzchak Josef zu Wort. Und sein aschkenasischer Amtskollege David Lau stellt klar: Wer so konvertiere, „ist kein Jude“.
Ein schmaler Grat
Äußerungen dieser Art zeigen, dass die Regierung gut beraten ist, bei ihren Vorhaben behutsam vorzugehen. Selbst eine verabschiedete Reform wie im Falle des Kaschrut-Systems will erst einmal umgesetzt werden. Dass einzelne Politiker das wissen, zeigt vielleicht die Haltung der Abgeordneten Haskel: Sie betonte bei der Vorstellung der Bildungsreform, dass dafür die Ultra-Orthodoxen auf die eine oder andere Weise mit ins Boot geholt werden müssten: „Wir werden dies in Zusammenarbeit mit dem haredischen Sektor im Bildungsministerium, mit dem Finanzministerium und mit führenden Figuren der haredischen Gesellschaft tun.“
Avigdor Lieberman, in der neuen Regierung der Finanzminister, zeigte hingegen weniger Feingefühl und zog damit auch den Unmut einiger Regierungsmitglieder auf sich. Drei Wochen nach der Regierungsbildung kündigte er Pläne an, denen zufolge es keine Subventionen mehr für die Tagesbetreuung der Kinder von Ultra-Orthodoxen geben wird, sofern nicht beide Elternteile einer Arbeit nachgehen. Es geht hier um monatliche Zahlungen von rund 270 Euro, betroffen wären 20.000 Familien. Ein ungenannter Minister erklärte gegenüber der „Times of Israel“, Lieberman gefährde so den erzielten Fortschritt: „Wir haben versprochen, den Ultra-Orthodoxen nicht zu schaden. Sowohl (Regierungschef Naftali) Bennett als auch Lieberman haben dies wiederholt.“
In der Geschichte Israels ist es nicht das erste Mal, dass keine Ultra-Orthodoxen der Regierung angehören – zuletzt war das zwischen 2013 und 2015 der Fall. Aber nun scheint doch ein anderer Wind zu wehen. Rückhalt hat die Regierung nicht zuletzt vom Obersten Gerichtshof, der in diversen Urteilen der vergangenen Jahre Reformbedarf angemeldet hat, von der Wehrpflicht über die Kaschrut-Gesetze bis hin zur Konversion.
Premierminister Bennett (Jamina) hat ein Kernziel seiner Regierung jedenfalls in seltener Offenheit formuliert: „Israel ohne den religiösen Aspekt wäre nicht das Israel, das ich will, denn wir sind ein jüdischer Staat. Ich bin froh, dass es die Haredim gibt, aber wir müssen ihren Einfluss begrenzen.“
Von: Daniel Frick
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