Seit 20 Jahren sind Israelis, die im Grenzgebiet um den Gazastreifen leben, Raketenangriffen ausgesetzt. Anfangs gab es weder Alarm noch Schutzräume. Das Abwehrsystem „Iron Dome“ wurde erst zehn Jahre nach dem Beginn der Angriffe installiert. Besonders hart getroffen ist die Kleinstadt Sderot, wo viele Bewohner unter posttraumatischen Störungen leiden.
In der Nähe von Sderot schlug auch am 16. April 2001 die erste Kassamrakete aus dem Gazastreifen ein. Die Bewohner wussten damals mit dem Geräusch nichts anzufangen. Heute ist es ihnen nur allzu vertraut.
Erste Todesopfer: Ein Großvater und ein vierjähriges Kind
Drei Jahre nach dem ersten Angriff gab es die ersten Todesopfer: Eine Rakete schlug am 28. Juni 2004 neben einem Kindergarten in Sderot ein. Der 49-jährige Mordechai Josepow und der vierjährige Afik Sahavi kamen ums Leben. Bei Afiks Trauerfeier sagte der damalige Staatsminister Natan Scharanski (Likud): „Dieser Junge Afik hatte Träume. Er wollte bestimmt ein Soldat und ein Held werden. Und jetzt ist er im Tod sowohl ein Soldat als auch ein Held geworden.“
Josepow war aus Usbekistan eingewandert, er konnte kaum Hebräisch. Beim Kindergarten wartete er auf einen Cousin, der ein Enkelkind dorthin bringen wollte. Josepows Enkelin Ilanit war fünf Jahre alt und hielt sich zur Zeit des Angriffes in einem Gruppenraum des Kindergartens auf. Die heute 22-Jährige erzählte der Zeitung „Ha’aretz“: „Ich erinnere mich, dass ich ihn auf dem Weg zum Kindergarten sah. Kurz darauf hörten wir eine Explosion, die allen Kindern Angst machte. Später erfuhr ich, dass die Explosion meinen Großvater getötet hatte.“
Zwei Jahre später erlebte Ilanit bei einem Besuch in Tel Aviv die Folgen ihrer traumatischen Erfahrung: Ein lauter Knall war plötzlich zu hören, er kam von einem geplatzten Autoreifen. „Wir wurden verrückt“, sagte sie. „Wir begannen zu rennen, ich war damals sieben und erinnere mich daran, wie die Bewohner von Tel Aviv uns anschauten. Sie verstanden nicht, warum wir uns so verhielten.“
Vier Splitter im Kopf und ein Trauma
Sieben weitere Todesopfer hat der Beschuss aus dem Gazastreifen seither gefordert. Doch auch wer einen Angriff überlebt hat, trägt nicht nur körperliche Narben davon. Ein Beispiel ist die Familie Aragon aus Sderot, deren Haus am 15. Januar 2008 direkt getroffen wurde. Die Mutter Gaot war allein mit ihrem vierjährigen Sohn zu Hause. Ihr Mann arbeitete im Café, der ältere Sohn Itzik war bei einer Jugendorganisation.
„Wir saßen in Nirs Zimmer“, erinnerte sich die Mutter im Gespräch mit der Zeitung „Yediot Aharonot“ an den Vorfall vor über 13 Jahren. „Wir spielten zusammen, es war Winter und draußen fiel Sturzregen. Plötzlich gab es Alarm, den wir nicht hörten. Eine Rakete traf das Hausdach, drang in das Zimmer ein, wo wir saßen, und explodierte in einem anderen Zimmer.“
Teile des Daches hätten sich gelöst und seien auf die beiden gefallen, Rauch habe das Haus erfüllt. „Nir stand direkt am Eingang zum Zimmer.“ Er habe Glück gehabt und sei nur leicht von einem Splitter verletzt worden, sagte Gaot Aragon. „Ich wurde schwerer verletzt, Splitter trafen meinen Kopf und viel Blut floss. Nir sah alles, das ist bis heute gut in sein Gedächtnis eingeprägt.“
Auf dem Weg zum Krankenhaus fotografierte ein Mitarbeiter der „Yediot Aharonot“ die Frau, deren Kopf voller Blut war. Das Bild des Fotografen Gadi Kablo erschien am nächsten Tag in der Zeitung. „Dieses Bild erzählte die unfassbare Geschichte der Bewohner von Sderot, die unter Raketenangriffen lebten, fast ohne Schutz“, heißt es in dem Artikel zum 20. Jahrestag der ersten Rakete.
Vier Splitter waren in Gaots Kopf eingedrungen, drei konnten die Ärzte herausoperieren. Bei dem vierten wäre der Eingriff zu riskant gewesen. Die Israelin muss regelmäßig zur ärztlichen Kontrolle gehen. Das Trauma hat seine Spuren hinterlassen: „Es begleitet mich jeden Tag, es wird mich mein ganzes Leben begleiten. Bis heute bin ich empfindlich für Explosionsgeräusche, für das Zuschlagen von Türen. Ich bin die ganze Zeit angespannt, lebe in fortgesetzter Furcht, aber ich versuche, weiterzumachen.“
Am 7. April 2011 fing das Abwehrsystem „Iron Dome“ erstmals eine Rakete ab. Die Alarmanlage funktioniert, in jedem Gebäude gibt es einen Schutzraum. Nir Aragon wird im kommenden Jahr seinen Wehrdienst antreten, vermutlich in einer Kampfeinheit. Doch seine Mutter bleibt skeptisch: „Leider sehe ich bei allem, was mit der Sicherheitslage zusammenhängt, keinen Horizont. Das ist traurig. Uns geht es allerdings heute besser.“
Wenn Raketenalarm ertönt, haben die Menschen 15 Sekunden Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen. Und die Angriffe dauern an, mit unterschiedlicher Intensität und nicht regelmäßig. Donnerstagabend, nach dem Ende des israelischen Unabhängigkeitstages, schlug eine Rakete bei Sderot auf offenem Gelände ein. Niemand kam zu Schaden. Die israelische Luftwaffe reagierte mit Beschuss auf militärische Ziele der Hamas im Gazastreifen. Denn sie macht die Terrorgruppe für jeden Angriff verantwortlich, der von dem Gebiet ausgeht, das sie kontrolliert.
Militäroperationen gegen den Terror
Waren in den ersten Jahren die Kassamraketen noch sehr einfach konstruiert, hat die Hamas ihre Geschosse mittlerweile verbessert. Nun können sie auch Tel Aviv erreichen. Deutlich zugenommen hat die Zahl der Angriffe nach dem israelischen Abzug aus dem Gazastreifen im August 2005.
In drei Operationen hat das Militär seitdem versucht, gegen die Terrorinfrastruktur in Gaza vorzugehen: zur Jahreswende 2008/2009 mit der Operation „Gegossenes Blei“, im November 2012 mit der Operation „Wolkensäule“ und im Sommer 2014 mit der Operation „Starker Fels“. Dennoch geht der Beschuss weiter. Bislang haben Palästinenser mehr als 20.000 Raketen und Granaten auf israelische Ziele im Grenzgebiet abgefeuert. Ein Ende der Angriffe scheint auch nach 20 Jahren nicht in Sicht zu sein.
Von: eh