Seit Gründung des Staates Israel waren die Menschen daran gewöhnt, dass das mit der Jesus-Geschichte verbundene Nazareth die größte arabische Stadt des Landes ist. Doch vor nicht allzu langer Zeit trotzte die beduinisch-muslimische Negev-Stadt Rahat dem galiläischen Nazareth den Rang als „arabische Hauptstadt Israels“ ab.
Von der Wüste in die Stadt
Rahat wurde Anfang der 1970er Jahre als Planstadt zur Ansiedelung von Beduinen angelegt. Beduinen, die bereits seit osmanischer Zeit nur noch ein halbnomadisches Leben führten, blickten damals auf wechselhafte Jahrzehnte zurück. Als vor der Staatsgründung wegen Flucht und Vertreibung die arabische Bevölkerung im zukünftigen Israel schrumpfte, betraf das auch beduinische Stämme. Von ihnen unterstützten einige die jüdischen Staatsgründer, während andere auf arabischer Seite kämpften oder Neutralität wahrten.
Im Negev sank die Zahl der Beduinen von 100.000 auf 11.000. Im Zuge der Militärverwaltung, die zwischen 1949 und 1966 über alle arabischen Einwohner Kriegsrecht verhängte, wurden Israels badawī – Arabisch für Wüstenbewohner – in ein Reservat zwischen den Städten Beˈer Scheva, Dimona, Jerucham und Arad umgesiedelt.
Obwohl dieses Gebiet von 1.000 Quadratkilometern auch Weideland umfasst, wurden Beduinen ihrer traditionellen Erwerbsquellen beraubt. Ihnen standen nur noch 10 Prozent des Negev offen. Zudem waren die Landesgrenzen geschlossen, sodass Beduinen von Ländereien und Verwandten im Sinai sowie in Jordanien abgeschnitten waren.
Zur wirtschaftlichen Not trug außerdem bei, dass Beduinen kaum schulisch gebildet und beruflich ausschließlich landwirtschaftlich orientiert waren. Die Auflagen der Militärverwaltung, darunter die Einschränkung der Bewegungsfreiheit, erschwerten ihr Leben zusätzlich. Trotz vieler widriger Lebensumstände verdreifachte sich die beduinische Negev-Gesellschaft in nur knapp 20 Jahren.
Die Spannungsfelder einer beduinischen Planstadt
Nur wenige Jahre nach der Militärverwaltung gründete Israel die ersten Planstädte. Inzwischen bestehen sieben solche Städte, in denen die große Mehrheit der Negev-Beduinen lebt, die heute rund 300.000 Angehörige zählen. Rahat wurde für zirka 10.000 Personen gegründet, damals rund ein Drittel der beduinischen Bevölkerung des israelischen Südens.
Wie in anderen Planstädten vernachlässigte die politische Führung auch in Rahat, das zunächst einer jüdischen Regionalverwaltung angegliedert war, dann eigenständig wurde und 1994 Stadtstatus erhielt, jahrzehntelang viele strukturelle Probleme. Strom und fließend Wasser, leicht erreichbare medizinische Dienste sowie Schulen waren kein Thema mehr, dafür aber die in den Anfangsjahrzehnten vollkommen vernachlässigte Schaffung von Arbeitsplätzen.
Heute betonen die Einwohner stolz, dass Rahat sogar die größte beduinische Stadt der Welt ist. Sie verweisen damit zum einen auf den Widerspruch zwischen nomadischer Kultur und urbaner Ansiedlung und somit auf das allgegenwärtige Spannungsfeld zwischen Traditionen und neuen Gepflogenheiten.
Ein kleines Beispiel: Steuern jedweder Art sind für die ehemaligen Bewohner der Wüste ein zumeist unbekanntes Konzept. Wenn Rahat früher damit rang, dass im besten Fall 50 Prozent der Einwohner Stadtabgaben entrichteten, so führt es inzwischen die Statistik an. In keiner arabischen Stadt Israels liegt der Prozentsatz der eingenommenen Stadtsteuern mit über 70 Prozent so hoch wie in Rahat.
Zum anderen deuten die Einwohner eine Erfolgsgeschichte an, zumindest in gewissen Bereichen. Noch vor 30 Jahren fehlte es in Rahat an allem, vom Geldautomaten bis hin zu Geschäften, von Industrie ganz zu schweigen. Zwar sind die Schulklassen weiterhin überfüllt, es mangelt an Freizeitbeschäftigung für Minderjährige und an Ausbildungschancen für junge Erwachsene.
Doch seit 2018 verfügt Rahat über ein Sportzentrum mit Schwimmbad, was in einem Ort, dessen öffentliche Sphäre durch eine strikt muslimische Lebensweise geprägt ist, eine Besonderheit ist. Große Veränderungen brachte zudem das 2010 eingeweihte Industriegebiet, in dem sich eine so namhafte Firma wie SodaStream niederließ.
Demografische Rekorde
Trotz Neubaugebieten platzt Rahat jedoch aus allen Nähten. Israels beduinische Gesellschaft weist demografische Besonderheiten auf, die schwerlich Parallelen finden. Das mehr als 80.000 Einwohner zählende Rahat verfügt über kein Seniorenheim, was nicht nur mit den Kapazitäten in Zusammenhang steht, die beduinische Großfamilien zur Versorgung von Großeltern und Urgroßeltern einbringen.
Relevant ist, dass lediglich 2,2 Prozent der Einwohner Senioren und davon nur 0,8 Prozent über 75 Jahre alt sind. Erwachsene sind mit 44 Prozent der Einwohner ebenfalls in der Minderheit. Hingegen stellen Kinder und Jugendliche bis zum 19. Lebensjahr mit satten 54 Prozent die Mehrheit.
Laut Landesversicherungsanstalt ist eine weitere Besonderheit, dass fast 25 Prozent aller Familien der Stadt mehr als fünf Kinder haben. Nicht verzeichnet ist, dass es viele Väter mit einem Dutzend und mehr Kindern gibt, denn die beduinisch-muslimische Gesellschaft des Negev praktiziert Polygamie, wenngleich sie in Israel gesetzlich untersagt ist.
Nur ein kleiner Teil der Rahat-Einwohner ist erwerbstätig. Die 20- bis 60-Jährigen stellen 32.000 Personen, von denen 23.000 arbeiten, gerade einmal ein Viertel der Gesamteinwohner. Fast 60 Prozent der 22.000 Angestellten verdienen nur Mindestlohn. Die Arbeitslosenrate ist zwar niedrig, aber extrem viele Frauen waren niemals in ihrem Leben erwerbstätig, sind folglich also gar nicht in den Statistiken verzeichnet.
Rahat hat sich trotzdem gemausert, nicht nur infrastrukturmäßig, sondern auch bezüglich gelernter Facharbeiter und Studierter innerhalb von nur einer Generation – und das häufig sogar mit analphabetischen Vorfahren. Dennoch dümpelt es wirtschaftlich vor sich hin. Auf der nationalen Skala des sozioökonomischen Status rangiert Rahat auf dem niedrigsten Rang und ist laut aktueller Statistiken die zehntärmste Stadt des Landes, schneidet allerdings unter den beduinischen Städten am besten ab.
Bleihaltige Luft
Rahat mit seinen 99,8 Prozent arabischen und zu 100 Prozent muslimischen Einwohnern sorgt leider immer wieder auch für negative Meldungen. 2024 wurden in Israel 30 Frauen von Partnern oder Familienangehörigen ermordet. Obwohl sich der Anteil der arabischen Bevölkerung auf gut 21 Prozent beläuft, waren die Hälfte der Ermordeten Araberinnen. Kaum ein Jahr, in dem Rahat nicht wegen eines Femizids Schlagzeilen macht.
Ein weiterer allgemeiner erschreckender Rekord der israelisch-arabischen Gesellschaft ist die Mordrate, Morde verübt von Arabern an Arabern. Früher spielten dabei fast ausschließlich Familienfehden eine Rolle, da ein Mord entsprechend der Traditionen zu rächen ist, die Rache zu rächen ist und so weiter, auch wenn Täter vor Gericht stehen. Trotz Sulcha – gemeinschaftseigene Schlichtermechanismen – kostet das auch unter Beduinen immer wieder vielen Angehörigen verfeindeter Stämme das Leben, so auch in Rahat.
Längst jedoch wiegt die Blutspur schwerer, die die arabische Bandenkriminalität mit ihren massenhaft kursierenden illegalen Schusswaffen hinterlässt. Immer wieder werden auch in Rahat Schusswaffen entdeckt. 2023 geschah dies sogar im Haus des damaligen Bürgermeisters Ata Abu-Madighem. Die Waffen gehörten zwei seiner Söhne.
Einwohner der normativen Gesellschaft Rahats sagen häufig: Kaum ein Haushalt ohne Waffen, denn die einen expandieren mit Waffengewalt ihre kriminellen Machenschaften, die anderen wollen sich davor schützen können. 2023 war für Israels arabische Gesellschaft mit 244 ermordeten Männern, Frauen und Kindern ein trauriges Rekordjahr. 2024 brachte fast genauso viele Mordtaten, von denen 28 im Negev verübt wurden. Diesbezüglich sticht Rahat wieder einmal hervor, denn nicht weniger als zwölf Morde wurden in dieser facettenreichen beduinischen Stadt verübt.
Superlative im Schatten des 7. Oktober
Rahat ist eine Welt für sich, bei deren Entdeckung Außenstehenden beduinische Tourguides, in traditionellen Beduinenzelten eingerichtete Gastzentren und Veranstaltungen zu Ramadan helfen. Nach dem 7. Oktober 2023 blickte Israel sehr intensiv nach Rahat. Die Stadt war jedes beduinische Zentrum, das von der Hamas ermordete Polizisten ebenso wie Zivilisten beklagte, nachfolgend um gefallene Soldaten trauerte.
Der an Rahat angeschlossene beduinische Stamm Al-Sijadne durfte zwei freigelassene Geiseln in die Arme schließen, musste aber zugleich lange Zeit um zwei weiterhin im Gazastreifen festgehaltene Angehörige bangen.
Als nach rund 460 Tagen des nervenzerrüttenden Wartens die Nachricht kam, dass Jussef al-Sijadnes Leiche im Gazastreifen geborgen wurde, senkte sich große Trauer über Rahat und die beduinische Gesellschaft des Landes. Noch großer wurde die Trauer, als einen Tag später auch die Leiche von Jussefs 23-jährigem Sohn Hamsa identifiziert war.
Bislang weiß man nur, beide wurden lebend am 7. Oktober 2023 in den Gazastreifen entführt. Die zwei freigelassenen Kinder von Jussef, Bilal und Aischa, berichteten, dass sie unter alles andere als akzeptablen Bedingungen gefangen gehalten wurden, wenngleich sie zumindest anfänglich besser mit Nahrung versorgt wurden. In den Trauerzelten fanden sich Tausende Israelis als Zeichen der Anteilnahme und Solidarität ein.
Rahat brachte an diesem „schwarzen Schabbat“ Helden, die selbstlos andere Menschen retteten, sowie ein aufsehenerregendes jüdisch-arabisches Hilfszentrum hervor. Doch zugleich war Rahat ebenfalls das einzige israelische Bevölkerungszentrum, in dem einige Einwohner zwei Hamas-Terroristen Unterschlupf gewährten.
Archäologische Sensationen
Nur wenige wissen, dass Rahat mit archäologischen Sensationen aufwartet. Als vor wenigen Jahren Neubaugebiete erschlossen wurden, kamen unerwartet Gebäudeüberreste zutage. Die Archäologen der Israelischen Altertumsbehörde entdeckten 2019 eine ländliche Moschee und 2022 nur wenige Kilometer entfernt ein landwirtschaftliches Gut mit Gebetsraum, das ebenfalls in die frühe muslimische Zeit datiert. Somit ist Rahat Fundort gleich zwei der ältesten jemals entdeckten Moscheen in einem ländlich geprägten Gebiet.
Natürlich arbeiteten sich die Archäologen noch weiter in die Tiefe vor. Dabei kam zutage, dass dieses rund 1.200 Jahre alte Gut auf einem Komplex errichtet wurde, der in die byzantinische Zeit datiert. Archäologen beschreiben ihn als eine Art Palast mit Wohn- und Repräsentationsanlagen, Lagerräumen, einem Wärterhaus sowie zwei Brunnen.
Sehr ungewöhnlich für Israels Negev-Wüste, doch es wird noch außergewöhnlicher. In Israels größter arabischer Stadt wurde eine Kirche aus frühchristlicher Zeit entdeckt. An dieser ersten Station nach ihrer Seereise ritzten byzantinische Pilger Schiffe in die Mauern, die eine Besonderheit für sich sind, aber erst recht in einer heute beduinisch-muslimisch geprägten Stadt mit Wüstenumgebung.
Antje C. Naujoks studierte Politologie an der FU Berlin und an der Hebräischen Universität Jerusalem. Die unter anderem freischaffende Übersetzerin lebt seit fast 40 Jahren in Israel, davon mehr als ein Jahrzehnt in Be‘er Scheva.
2 Antworten
Rahat: Nur 0,8 Prozent über 75 Jahre alt sind. Kinder und Jugendliche bis zum 19. Lebensjahr 54 Prozent.
Sollen wir uns eine Scheibe abschneiden? Ja.
Aber nur eine kleine Scheibe ! Die Demographie kann ein Problem sein, wenn es zu wenig Geburten gibt, sie ist mit Sicherheit eines, wenn die Geburtenrate galopiert.