Sie wollten wenigstens ein paar Stunden lang den Alltag vergessen, der damals von Anschlägen und von Gesprächen über Terror gesprägt war. Und so stellten sich israelische Jugendliche am 1. Juni 2001 in eine Warteschlange im Tel Aviver Dolphinarium-Komplex, um den Freitagabend in der Diskothek zu verbringen. Doch ihrer Vorfreude wurde jäh ein Ende gesetzt, als sich ein palästinensischer Attentäter inmitten der Wartenden in die Luft sprengte. Er riss 21 junge Israelis mit in den Tod, 132 weitere Menschen wurden verletzt. Zu dem Anschlag bekannte sich die Terrorgruppe Hamas.
Die meisten Opfer waren erst wenige Jahre zuvor aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion nach Israel eingewandert. Zu ihnen gehört auch Anja Kasaschkow, die neun Tage später ihren 16. Geburtstag gefeiert hätte. „Sie konnte ihren Geburtstag kaum erwarten“, erzählte die Mutter Anna Kasaschkow fast 20 Jahre später dem Sender „HaChadaschot 12“. Anja habe viele Freunde einladen wollen. „Und wir haben das getan. Der Geburtstag war der Tag, an dem wir nach der Trauerwoche auf den Friedhof gingen. Wir kamen dann nach Hause, alle Lehrer und Kinder, und wir feierten Anjas Geburtstag mit Kuchen und Getränken. Ich sagte, alle sollten das Gefühl haben, dass sie lebt.“
„Ich glaubte nicht, dass das meine Töchter waren“
Ella Nalimow hat bei dem Anschlag gleich zwei Töchter verloren: Jelena war 16 und Julia 18 Jahre alt. „Sie öffneten sich nach der Einwanderung wie Blumen, es war erstaunlich, sie zu beobachten“, erinnerte sie sich. „Jeden Freitag waren sie dort, in der Diskothek, im ‚Dolphi‘, sie schminkten sich und kauften neue Kleider, legten sich Perlenkettchen um die Beine. Julia machte ich zwei Rattenschwänze, Jelena lackierte ihre Nägel grün.“
In jener Nacht wurde die Mutter aufgefordert, nach Abu Kabir zu fahren. Sie verstand nicht gleich, dass es sich um das Institut für Rechtsmedizin handelte, dafür war sie noch nicht lange genug im Land. Dort musste sie die beiden Mädchen identifizieren: „Ich glaubte nicht, dass das meine Töchter waren. Ich bat die Mediziner, mir den Fuß mit dem Kettchen zu zeigen, mich die Rattenschwänzchen sehen zu lassen, und den Lack auf den Nägeln, an Jelenas Hand.“
Manchmal überlegt Nalimow, was wohl aus ihren Töchtern geworden wäre, wenn sie überlebt hätten. Ob sie verheiratet wären, Kinder hätten, im Ausland studiert hätten. „Ich verstehe immer noch nicht, wie ich weitermachen kann. Alle fragen: ‚Wie?‘. Ich weiß es nicht.“ Doch einen Lichtblick gibt es: „Ich lebe jetzt für meinen Sohn. In ein paar Monaten werde ich Großmutter. Ich bin jetzt etwas fröhlicher, aber die Töchter werden immer hier sein und nirgendwo hingehen.“ In ihrer Wohnung hängt ein Gemälde, das Jelena und Julia in Badeanzügen zeigt – zwei hübsche junge Mädchen, die anscheinend das Leben noch vor sich haben.
Neben den Jugendlichen, die in die Disko gehen wollten, wurde auch ein Wachmann zum Opfer des Attentats – Jan Blum. Wenn der Terrorist bis an den Eingang des Clubs gelangt wäre, hätte er ihn kontrolliert. Doch der Palästinenser sprengte sich draußen in die Luft, und der Wachmann wurde tödlich verwundet.
Seine Tochter Jana war damals drei Jahre alt. Als ihre Mutter von seinem Tod erfuhr, stand sie am Fenster. „Ich hörte sie einfach kreischen“, erinnerte sich die junge Frau im Gespräch mit dem Sender. Sie selbst habe darunter gelitten, dass alle Kinder zu jemandem „Papa“ sagten, nur sie nicht. Und sie habe es nicht fertiggebracht, an Gedenkveranstaltungen teilzunehmen – weil sie dann in Tränen ausbrach und hysterische Anfälle hatte. Als Erinnerung bleiben ihr die Armbanduhr und der Ehering ihres Vaters – und viele Bilder.
Deutscher Außenminister Fischer als Vermittler
Der Knall der Explosion war seinerzeit bis ins 12 Kilometer entfernte Rischon LeZion zu hören. Die aufgeregte Stimmung nach dem Anschlag bekam ein deutscher Politiker vor Ort mit, der infolgedessen in eine Art Vermittlerrolle gedrängt wurde: der damalige Bundesaußenminister Joschka Fischer. Er hielt sich seit dem 31. Mai in Israel auf. Nach dem Attentat pendelte der Grünen-Politiker zwischen dem israelischen Regierungschef Ariel Scharon (Likud), Israels Außenminister Schimon Peres (Avoda) und Palästinenserführer Jasser Arafat (Fatah) und bemühte sich um Diplomatie.
„Außenminister Fischer ist quasi zufällig in eine Vermittlerrolle zwischen beiden Konfliktparteien gedrängt worden“, schrieb dazu am 5. Juni 2001 die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. „Als der Anschlag, der sich in der Nacht nach seiner Ankunft ereignete, drohte, die Situation abermals eskalieren zu lassen, setzte er auf Deeskalation.“ Damit bezog sich das Blatt auf die „Al-Aqsa-Intifada“, die Ende September 2000 begonnen hatte.
Der „Tagesspiegel“ merkte bereits zwei Tage nach dem Attentat an: „Ariel Scharon hatte eine einseitige Feuerpause beschlossen und durchgehalten, in die hinein der Anschlag kam. Das ist, so sagt Fischer in den zahlreichen Interviews, die er hier gibt, für eine demokratische Regierung fast nicht auszuhalten. Trotzdem sind seit dem vergangenen Freitag Abend bereits sechzig Stunden vergangen, weitgehend friedlich. Friedlich jedenfalls für nahöstliche Verhältnisse. Fischers Vermittlerrolle, seine Pendeldiplomatie hat dazu einiges beigetragen.“ Auch in den folgenden Tagen reagierte das israelische Militär nicht auf den Dolphinarium-Anschlag.
EU-Gesandter bei Gedenken: Entschlossen gegen Terror
Am 1. Juni 2020, 19 Jahre nach dem Attentat, traf sich der EU-Gesandte Emanuele Giaufret mit einer Überlebenden. Die damals 15-jährige Alona Sportowa war durch die Explosion sehr schwer verletzt worden: Eine Metallkugel war durch ein Auge in ihr Gehirn eingedrungen. Als sie im Oktober 2002 auf eigenen Füßen das Krankenhaus verlassen konnte, sprachen Ärzte von einem „Wunder“. Ihre beste Freundin Katrin, mit der sie die Diskothek besuchen wollte, kam hingegen bei dem Anschlag ums Leben.
Giaufret versicherte der Israelin laut der Zeitung „Yediot Aharonot“: „Unsere Entschlossenheit, den Terror zu bekämpfen, war nie größer und sie bleibt aus Sicht der Europäischen Union von höchster Priorität.“ Der Diplomat ergänzte: „Die Terror-Organisationen, die in den Anschlag beim Dolphinarium und in andere Anschläge während der 2. Intifada verwickelt waren, befinden sich auf unserer Liste der Sanktionen.“
Ein Mahnmal und ein Gedicht
An die Opfer erinnert ein Mahnmal mit der Aufschrift: „Wir werden nicht aufhören zu tanzen“. Dass Randalierer das Monument zwischenzeitlich teilweise zerstört haben, deutet die israelische Nachrichtenseite „Mako“ so: „Das bezeugt, wie zerbrechlich die Erinnerung ist.“ Bei den Hinterbliebenen sei sie hingegen seit dem 1. Juni 2001 präsent: „Seitdem und bis heute, 20 Jahre lang, halten die Angehörigen der Ermordeten jenes Anschlags jeden Tag, jede Stunde den Schmerz aus, der nicht abnimmt, und den Verlust, für den es kein Heilmittel gibt.“
Nach dem Attentat schrieb ein Schüler der 10. Klasse der Tel Aviver Allianz-Schule ein Gedicht zu Ehren der Opfer. Zu dem Zeitpunkt gab es erst 20 Tote, deshalb trägt es den Titel: „Zwanzig“.
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Zwanzig
Zwanzig Geburten
Zwanzig Kinderwagen
Zwanzig erste Schritte
Zwanzig Kindergärten
Zwanzig Bleistifte
Zwanzig Schulhefte
Zwanzig erste Bücher
Zwanzig Prüfungen
Zwanzig geflüsterte Geheimnisse
Zwanzig freudige Ereignisse
Zwanzig erste Lieben
Zwanzig Enttäuschungen
Zwanzig Hoffnungen
Zwanzig Grabsteine
Zwanzig Gedenkkerzen
Und sie waren noch keine Zwanzig …
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Von: Elisabeth Hausen