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Herzog und Steinmeier prangern Vertuschung an

In der Ukraine gedenken der israelische und der deutsche Präsident an ein besonders brutales Massaker der Nazizeit. Sie sind sich einig: Nicht nur die Erschießung Zehntausender Juden selbst war ein Verbrechen, sondern auch die anschließende Leugnung.
Sprach ein Gebet im Gedenken an die Opfer des Massakers: Jitzchak Herzog

KIEW (inn) – Der israelische Staatspräsident Jitzchak Herzog hat am Mittwochabend in der Ukraine ein Gebet für Juden gesprochen, die vor 80 Jahren von den Nationalsozialisten ermordet wurden. Anlass war das internationale Gedenken an das zweitägige Massaker von Babi Jar bei Kiew, dem im September 1941 mehr als 30.000 Menschen zum Opfer fielen.

Herzog sagte in seiner Ansprache, er bete für die „Seelen unserer Brüder und Schwestern. Babys, Kinder, Frauen, Männer und Alte“. Das Staatsoberhaupt ergänzte: „Sie wurden hier kaltblütig erschossen, massakriert und ermordet.“ Damals habe niemals das Jiskor-Gebet für sie sprechen können. Es beginnt mit den Worten „Jiskor Elohim Nischmat“ – „Möge Gott gedenken an die Seele von“. Demzufolge sprach Herzog: „Möge Gott der Seelen unserer Brüder gedenken, der Kinder Israels, der Opfer der Scho’ah und ihrer Helden, der Seelen der sechs Millionen von Israel, die getötet, ermordet, erstickt und lebendig begraben wurden.“

Weiter sagte der Politiker laut Mitteilung des israelischen Präsidialamtes: „Ich komme hierher als Präsident des Staates Israel, des Nationalstaates des jüdischen Volkes. Ich komme hierher von Jerusalem, unserer ewigen Hauptstadt. Im Herzen Jerusalems, im israelischen Parlament – der Knesset – auf der Regierungsetage ist ein Bild des Malers Joseph Kuskivsky.“ Dieser stammte aus der Ukraine und studierte in Kiew Kunst. Das Bild trägt den Titel: „Zum Schlachter geführt – Babi Jar“.

Herzog beschrieb das Gemälde: „Es zeigt Männer, Frauen und Kinder, die schweigend gehen, in tödlicher Finsternis, die Kampfstiefel des Naziteufels – und örtliche Polizeioffiziere richten ihre Waffen auf sie, hetzen scharfe Hunde auf sie. In der Mitte des Gemäldes – das niemand, der es gesehen hat, je vergessen kann –, ist eine Frau, die ihre kleine Tochter an der Hand hält und mit der anderen ihr Baby an ihre Brust drückt. Umgeben von Eltern und Kindern, Brüdern und Schwestern, alle miteinander, auf dem Weg zu ihrem furchterregenden Tod.“

Das Gemälde illustriert das Grauen auf dem Weg zum Massaker Foto: Knesset
Das Gemälde illustriert das Grauen auf dem Weg zum Massaker

Er selbst sei Tausende Male die Stufen hinaufgestiegen und habe das Bild angesehen, ergänzte der Staatspräsident. „Ich dachte daran, wie am Ende des Weges diese Juden nackt ausgezogen, in dieses Tal des Todes geworfen und in einem Kugelhagel massakriert wurden, hier in Babi Jar.“

Drei große Verbrechen

In seiner Ansprache zitierte Herzog den letzten bekannten Überlebenden des Massakers, Michael Sidko, der damals sechs Jahre alt war: „Wir gingen, meine Mutter, mein Bruder Grischa, meine Schwester Clara, dreieinhalb Jahre alt, und mein kleiner Bruder, erst vier Monate alt. Meine Mutter stand da mit dem Baby in ihren Armen. Clara klammerte sich an ihren Rock. Der Polizist packte Clara und schlug ihr auf den Kopf. Er trat auf ihre Brust und erstickte sie. Meine Mutter wurde ohnmächtig. Das Baby fiel herunter. Der Polizist trat mit seinem Stiefel darauf und erschoss meine Mutter. Sie packten alle an den Füßen und warfen sie ins Tal.“

Michael Sidko und sein Bruder Grischa wurden bei dem Massaker von Babi Jar „verschont“; offenbar waren sie für Zwangsarbeit oder medizinische Experimente ausgewählt. Später wurden die beiden gerettet, weil ein polnischer Nachbar die Jungen als seine Söhne ausgab.

In Babi Jar seien drei große Verbrechen begangen worden, betonte Herzog: das Massaker selbst, die Vertuschung und die Leugnung. Es gebe keine materielle Erinnerung an Zehntausende Opfer. Deren Leichen seien verbrannt und zu Asche zermahlen worden.

Antisemitismus sei bis heute gegenwärtig, fügte der Präsident hinzu. Dies zeige etwa ein Vorfall, bei dem vor ein paar Tagen judenfeindliche Graffiti in Auschwitz versprayt worden seien. Dabei sei der Mensch laut Bibel (1. Mose 1,27) zum Bilde Gottes erschaffen worden, nahm er Bezug auf den jüdischen Wochenabschnitt des vergangenen Schabbat (1. Mose 1,1–6,8). Gleichzeitig erinnerte Herzog daran, dass die Ukraine vor 30 Jahren ein unabhängiger Staat geworden sei und Beziehungen mit Israel aufgenommen habe.

Steinmeier: Leid, das verstummen lässt

Bei der Gedenkzeremonie sprach auch der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Er begann seine Rede mit Zeilen aus einem Gedicht des Ukrainers Jewgenij Jewtuschenko: „Über Babi Jar, da redet der Wildwuchs, das Gras. […] Das Schweigen rings schreit. Ich nehme die Mütze vom Kopf, ich fühle, ich werde grau. Und bin – bin selbst ein einziger Schrei ohne Stimme. […] Nichts, keine Faser in mir, vergisst das je!“

Steinmeier kommentierte die Verse mit den Worten: „Welcher Schmerz. Welche Qualen. Welches Leid. Ein Leid, das uns verstummen lässt.“ Jewtuschenko habe mit seinem Gedicht 1961 das Tabu des Schweigens gebrochen, „das bis dahin über der Ermordung der Juden hier in der Ukraine und in der gesamten Sowjetunion lastete“. Er betonte: „Es waren Deutsche, die diese Gräuel begangen haben. Worte versagen vor dem Ausmaß ihrer Grausamkeit und Brutalität.“

Die Tat von Babi Jar sei keine Vergeltungsaktion gewesen, sagte der Bundespräsident weiter. „Der Massenmord an den Kiewer Juden war ein genauestens geplantes Verbrechen – geplant und begangen von SS, Sicherheitspolizei und Soldaten der Wehrmacht. Sie alle waren beteiligt.“ Das Menschheitsverbrechen des Holocaust habe nicht erst in den deutschen Todesfabriken begonnen: in Auschwitz, Treblinka, Sobibor, Majdanek, Belzec. „Es begann schon früher, auf dem Eroberungsfeldzug Richtung Osten, in Wäldern, am Rande von Ortschaften. Weit mehr als eine Million Juden fielen diesem Holocaust durch Kugeln in der Ukraine zum Opfer.“

Sprachen bei der Zeremonie: Herzog (l.) und Steinmeier Foto: Isaac Herzog, Twitter
Sprachen bei der Zeremonie: Herzog (l.) und Steinmeier

Steinmeier fragte laut Redemanuskript: „Wer in meinem Land, in Deutschland, weiß heute vom Holocaust durch Kugeln? Wer kennt sie, diese mit Blut getränkten Namen?“ Die Täter hätten versucht, alle Spuren beseitigen zu lassen, um ihre Verbrechen zu vertuschen. „Aber sie ließen sich nicht beseitigen. Die Verbrechen wirken nach. Die Schatten der Verbrechen, die Narben des Krieges – sie sind bis heute sichtbar. Das Leid, das dieser Krieg brachte, wirkt bis heute fort, in so vielen Familien, in so vielen Dörfern und Städten Ihres Landes, der Ukraine.“ Es mache ihn zornig, dass Antisemitismus auch in Deutschland wieder stärker werde.

Gedenkstätte eröffnet

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij nannte das Massaker eine „gemeinsame Tragödie des jüdischen und des ukrainischen Volkes“. Er fügte an: „Man kann an diesem Ort kaum atmen – Tausende Kinder nahmen hier ihren letzten Atemzug. Es ist hart, hier zu stehen – Tausende Kugeln warfen hier in Babi Jar Menschen nieder. Die Erde bebte von den Zuckungen der Menschen, die noch am Leben waren und zu entkommen versuchten.“

Ein Gruß zum Gedenken kam auch aus den USA. Außenminister Antony Blinken teilte mit, sein jüdischer Stiefvater habe fast alle seine Lieben im Holocaust verloren. Er wies in seiner Erklärung darauf hin, dass manche Opfer nach den Schüssen noch gelebt hätten und unter den Leichenbergen erstickt seien.

Ebenfalls am Mittwoch wurde in Kiew ein Gedenkzentrum eingeweiht. Es soll an 2,5 Millionen Juden aus Osteuropa erinnern, die in der Nähe ihrer Wohnhäuser ermordet und in Massengräbern verscharrt wurden. Unter ihnen waren 1,5 Millionen Ukrainer. Einem Bericht der Onlinezeitung „Times of Israel“ zufolge hat das Zentrum vorerst 159 Namen von Tätern veröffentlicht, die an den Massenerschießungen beteiligt waren.

Bei dem Massaker am 29. und 30. September 1941 in der Kiewer Schlucht Babi Jar (auch: Babin Jar) ermordeten die Nationalsozialisten etwa 33.700 Juden. Dies gilt als größte einzelne Mordaktion an jüdischen Menschen im Zweiten Weltkrieg. Bis November 1943 erschossen die Nazis dort zwischen 70.000 und 100.000 Juden, sowjetische Kriegsgefangene, Partisanen und Roma.

Von: eh

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