„Vorsichtig optimistisch“: So beschreibt Paul Charney seinen Gemütszustand, als Israelnetz ihn nach Keir Starmer, dem neuen Chef der britischen Labour-Partei, fragt. Charney ist Leutnant der Reserve der israelischen Armee und Vorsitzender der Zionistischen Vereinigung Großbritanniens und Irlands, die nach eigenen Angaben die führende pro-zionistische Organisation des Landes ist. Starmer hingegen unterstützt die Palästina-Freundesgruppe seiner Partei und hat sich in der Vergangenheit deutlich über das Leid der Palästinenser beklagt.
Dass britische Zionisten Starmers Wahl dennoch begrüßen, ist wohl nur vor dem Hintergrund des Unheils zu verstehen, das sein Vorgänger im Amt des Parteichefs angerichtet hat: Jeremy Corbyn. Der Politiker hatte die alte Partei seit 2015 geführt und auf einen links-radikalen Kurs getrimmt. Immer wieder gingen Fehltritte Corbyns durch die Presse, die nicht nur seine anti-israelische Grundeinstellung offenbarten, sondern zum Teil auch ins Antisemitische abglitten. So hatte er etwa 2009 Mitglieder von Hamas und Hisbollah als „Freunde“ bezeichnet oder 2012 ein eindeutig antisemitisches Graffito in Schutz genommen.
Die zuletzt extrem schlechten Umfragewerte Corbyns täuschen darüber hinweg, dass es eine Zeit gab, in der es durchaus möglich schien, dass er in „Downingstreet Number 10“ einzieht. Für die jüdische Gemeinde wäre das einem Alptraum wohl sehr nahe gekommen. 2019 hatte eine Umfrage des „Jewish Chronicle“ ergeben, dass fast jeder zweite Jude Großbritanniens „ernsthaft darüber nachdenken“ würde, das Land zu verlassen, wenn Corbyn Regierungschef würde. Daran konnten auch innerparteiliche Untersuchungen und Fehlereingeständnisse des Parteichefs nichts mehr ändern. Insofern dürfte es für viele Juden eine Erleichterung gewesen sein, als Corbyn im Dezember nach einer schweren Wahlniederlage seinen Rückzug auf die „backbenches“, die Hinterbänke des Unterhauses, ankündigte.
Engagierter Start
Der neue Parteichef Starmer, dessen Frau jüdische Wurzeln und Verwandte in Tel Aviv hat, gibt sich alle Mühe, keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass er das Verhältnis seiner Partei zu den britischen Juden wieder in Ordnung bringen will. Bereits in der Dankesrede nach seiner Wahl entschuldigte sich der 57-Jährige bei den Juden des Landes für das Leid, das der Antisemitismus seiner Partei über sie gebracht habe. „Ich werde dieses Gift mit seinen Wurzeln herausreißen“, beteuerte er. Drei Tage später legte er in einem Gastbeitrag für den „Evening Standard“ nach. Entschuldigungen reichten nicht aus, schrieb er dort. Er wolle sich daran messen lassen, ob es ihm gelinge, jüdische Mitglieder in die Partei zurückzuholen.
Unter jüdischen Briten scheinen diese Worte tatsächlich eine Wirkung zu entfalten. Nach einer Videokonferenz, die Starmer drei Tage nach seiner Wahl mit Vertretern der jüdischen Interessenorganisation „Board of Deputies“ gehalten hatte, bescheinigten diese ihm, „in vier Tagen mehr erreicht zu haben als sein Vorgänger in vier Jahren“.
Auch in Israel hatte Starmers Wahl schon unmittelbar nach Verkündigung des Ergebnisses freudige Reaktionen hervorgerufen. So setzte kein geringerer als Außenminister Israel Katz eilig einen positiv gestimmten Tweet ab. Starmers Sieg schaffe Hoffnung für die israelisch-britischen Beziehungen, meldete sich auch der Chef der Israelischen Arbeitspartei, Amir Peretz, zu Wort. Dessen Vorgänger als Parteichef, Avi Gabbai, hatte im April 2018 alle Verbindungen der Avoda zu Corbyn gekappt.
Ein Zionist – irgendwie
Für einen allzu radikalen Bruch steht Starmer allerdings nicht. Nach seiner Wahl hatte er sich beeilt, seinem Vorgänger Corbyn ausdrücklich „Anerkennung zu zollen“. Jahrelang hatte er in dessen Schattenkabinett gesessen, zuletzt als potentieller Brexit-Minister. Von Starmer ist bekannt, dass er ein Kritiker des Irak-Kriegs von 2003 ist, an dem sich Großbritannien auf Betreiben des im Corbyn-Lager so verhassten Tony Blair seinerzeit beteiligt hatte.
Ansonsten hat er kein besonders scharfes Profil in Fragen des Nahen Ostens. Starmer bekennt sich zu einer Zwei-Staaten-Lösung und hat sich im Januar klar gegen den neuen Friedensplan von US-Präsident Donald Trump ausgesprochen, den er als „Farce“ bezeichnete. Trumps Vorstellungen seien „unvereinbar mit dem Menschenrechtsschutz“ und würden „dem palästinensischen Volk noch mehr Leid zufügen, von dem es schon so viel erlebt hat“, schrieb der Menschenrechtsanwalt auf Twitter. Als Starmer bei einer Parteiveranstaltung gefragt wurde, ob er sich als Zionist bezeichnen würde, tat er sich schwer, die Frage zu bejahen. „Wenn ein Zionist jemand ist, der an den Staat Israel glaubt, dann bin ich ein Zionist“, stellte er später gegenüber dem „Jewish Chronicle“ klar.
Schatten-Außenministerin für Waffenembargo gegen Israel
Für kritische Reaktionen in pro-zionistischen Kreisen sorgte Starmers Entscheidung, Lisa Nandy zur Außenministerin in seinem Schattenkabinett zu machen. Noch im Februar hatte sich Nandy zu ihrem Kampf gegen britische Unternehmen bekannt, die Verbindungen in die „illegalen Siedlungen“ im Westjordanland haben. Zudem hat sie sich für ein Waffenembargo gegenüber Israel ausgesprochen, so wie es auch Beschlusslage der Partei ist. Dennoch kann Nandy die jüdische Interessenvertretung innerhalb Labours zu ihren Unterstützern zählen – nicht zuletzt weil sie nachdrücklich gegen Antisemitismus Stellung bezogen hat. Im Fall einer Regierungsübernahme durch Labour würde die 40-Jährige „foreign secretary“ werden und damit die Nahost-Politik des Landes entscheidend mitprägen.
Der Vorsitzende der zionistischen Dachorganisation Großbritanniens, Charney, erwartet trotz der teils äußerst pro-palästinensischen Äußerungen des neuen Personals, dass sich das Verhältnis Labours zu Israel bessern wird. „Aber natürlich ist uns klar, dass es nicht so gut sein wird, wie wir es gerne hätten“, sagte er zu Israelnetz. Luke Akehurst, ein pro-israelischer Aktivist, der die Labour-Partei von innen kennt, formuliert es noch etwas defensiver: „Diejenigen unter uns, die sich wegen des Antisemitismus Sorgen gemacht haben, können nun beruhigt sein. Doch die Israel-Unterstützer sollten keine zu großen Veränderungen erwarten“, schrieb er kürzlich in einer umfassenden Analyse. Eine Rückkehr zur „Blütezeit der guten Beziehungen Tony Blairs oder Gordon Browns zu Israel“ sei jedenfalls nicht zu erwarten.
Von: Sandro Serafin