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Eine Frage europäischer Moral

Wer ein aufrechter Europäer ist, kauft keine Produkte aus israelischen Siedlungen. So lässt sich das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Kennzeichnung von Siedlungsprodukten lesen. Kritiker werfen den Richtern vor, einen einseitigen Blick auf die Lage geworfen zu haben.
Hergestellt im Westjordanland, mit der Herkunftsbezeichnung Israel: Laut Europäischer Union ist das irreführend

Dass im Wein Wahrheit liegt, gehört zu den alten Sprüchen der Menschheit. Nicht nur Poeten des antiken Griechenland kamen auf diesen Gedanken; er findet sich in abgewandelter Form auch im Babylonischen Talmud und anderen Schriftzeugnissen vergangener Tage. Für die Gegenwart lässt sich der Zusammenhang von Wein und Wahrheit auch in anderer Weise bestätigen: Es war ein israelischer Weinhersteller, der die Wahrheit wissen wollte; mit seiner Gerichtsklage kam profiliert zum Vorschein, was Vertreter der EU tatsächlich über Israel denken.

Am 12. November hat der Europäische Gerichtshof die Linie der Europäischen Kommission bestätigt, dass Produkte aus israelischen Siedlungen explizit als solche gekennzeichnet werden müssen. Brüssel hatte diese Auffassung vier Jahre zuvor, am 11. November 2015, in einer Auslegungsnotiz bekanntgegeben. Sie besagt, dass die Angabe „Israel“ für solche Produkte nicht verwendet werden darf, da die Siedlungen nicht dem israelischen Staat zuzurechnen seien. Auch Gebiete, die aus Sicht Israels seit langem zum Staatsgebiet gehören – Ostjerusalem und die Golanhöhen –, sind davon betroffen. Die EU erkennt die jeweiligen Annexionen von 1967 und 1981 nicht an.

Die Richter äußerten sich nun zu dem Fall, weil der Weinhersteller Psagot, nördlich von Jerusalem gelegen, und die französische „Organisation Europäischer Juden“ gegen die Kennzeichnung geklagt hatten. Damit wollten sie die französische Regierung davon abhalten, eine entsprechende Maßgabe zu veröffentlichen. Der französische Staatsrat, das Oberste Verwaltungsgericht, leitete den Fall an den Europäischen Gerichtshof weiter.

Die Bekanntgabe dieser Linie hatte damals handfeste politische Folgen. Das Außenministerium legte den politischen Dialog mit dem Staatenverbund auf Eis. Der israelische Präsident Reuven Rivlin verschob einen Besuch in Brüssel. Premier Benjamin Netanjahu sprach von einem „schändlichen Schritt“, der vor allem Palästinensern schade, die bei Israelis im Westjordanland eine Arbeit gefunden haben.

Schon damals machten aber auch Kritikpunkte die Runde, die über wirtschaftliche Aspekte hinausgingen: Wie einst die Nationalsozialisten jüdische Geschäfte gekennzeichnet hatten, verlange die EU nun die Kennzeichnung jüdischer Produkte. Zudem hielten Kritiker der Staatenorganisation vor, für andere Gebietsstreitigkeiten in dieser Welt keine derartige Regelung zu haben; Israel werde also gesondert herausgestellt. Nicht zuletzt befürchtet Israel, eine Kennzeichnung erleichtere es Siedlungsgegnern, diese Produkte zu boykottieren.

Ethische Erwägungen

Ähnliche Argumente waren nun auch nach dem Richterspruch zu hören. Dabei mutet die Urteilsbegründung zunächst recht harmlos an. Die Richtlinie der Kommission fußt auf einer Verordnung aus dem Jahr 2011. Diese besagt, dass europäische Verbraucher über die Herkunft eines Produktes nicht in die Irre geführt werden dürften. Und da aus Sicht der EU weder Ostjerusalem noch das Westjordanland oder die Golanhöhen zum Staat Israel gehören, wäre es auch falsch, die Produkte so zu kennzeichnen. Der Verbraucher soll beim Einkauf eine „informierte Entscheidung“ treffen können.

Dass es tatsächlich um den Verbraucher geht, zeigt auch der Umstand, dass die Zollbestimmungen der EU die Unterscheidung zwischen Produkten „aus Israel“ und „aus den Siedlungen“ längst kennen. Allerdings war dieses technische Detail der Handelspolitik wohl eher etwas für Zollbeamte, ins Bewusstsein von Otto Normaleuropäer ist es nicht gedrungen. Denn wer gibt sich schon die Mühe, auf den Internetseiten der EU nach der 18-seitigen Liste mit Postleitzahlen von Ortschaften und Industriegebieten zu suchen, für welche die Zollerleichterungen nicht gelten, weil sie „nicht zu Israel gehören“? Dieser „Ausschluss von Siedlungsgütern“, so die Formulierung der EU, ist seit dem 1. Februar 2005 in Kraft.

Kundeninformation mit Mehrwert

Wer im Urteil weiterliest, stößt dann schnell auf den eigentlichen Geist, der hier eine Rolle spielt: Die Richter erklären den Kauf von Siedlungsprodukten explizit zu einer Frage der Ethik. Auch damit wird deutlich, dass es sich nicht mehr nur um die Frage von bloßer Kundeninformation handelt, sondern auch um die Frage von Gut und Böse, wenn es um Siedlungsprodukte geht. Und da die Richter im Urteil festhalten, dass Siedlungen „nach internationalem Recht illegal“ sind, ist die Botschaft zwischen den Zeilen: Der Kauf von Siedlungsprodukten ist moralisch verwerflich, denn wer sie kauft, unterstützt eine illegale Bewegung.

Mit dieser Auffassung folgen die Richter der Einschätzung des Generalanwalts Gerard Hogan, der in diesem Fall als Berater fungierte; dessen Name ist im Urteil auch aufgeführt. Der Ire brachte bereits im Juni 2019 in einem Interview seine Abneigung gegenüber Israel zum Ausdruck. Er sagte, dass jeder „vernunftbegabte Verbraucher“ aus „ethischen Erwägungen“ heraus womöglich davon Abstand nehmen würde, ein Siedlungsprodukt zu kaufen. Für Hogan steht dabei fest, dass diese Produkte auf „palästinensischem Land“ entstünden.

Weiter bezichtigte er Israel der Apartheid-Politik: „So, wie sich europäische Konsumenten in der Apartheid-Ära gegen Produkte aus Südafrika wandten, wenden sich Konsumenten heute womöglich aus den gleichen Gründen gegen den Kauf von Produkten eines bestimmten Landes, zum Beispiel weil es keine Demokratie ist oder weil es eine bestimmte Politik verfolgt, die der Verbraucher beanstanden oder sogar abstoßend finden könnte.“

Vom Hansell-Memorandum zur Pompeo-Doktrin

Schlagwörter wie „palästinensisches Land“ und „illegale Siedlungen“ gehören zwar zum gängigen Begriffsfundus von Politik und Medien. Doch die wiederholte Verwendung täuscht eine Eindeutigkeit vor, die so nicht gegeben ist. Wer etwa von „illegalen Siedlungen“ spricht, beruft sich, wie auch die Richter in ihrem Urteil, auf die Genfer Konventionen von 1949. Demnach darf keine Regierung Bevölkerung in besetzte Gebiete zwangsumsiedeln. Nach Ansicht der Richter ist das bei der Siedlungsbewegung der Fall. Und genau deshalb soll der Kunde bei seinem Einkauf darauf hingewiesen werden.

Für Kritiker des Urteils ergibt sich hier aber ein Knackpunkt: Dass die Genfer Konventionen bei den Siedlungen Anwendung finden, ist nicht ausgemacht. Erstens wohnen die Siedler freiwillig in den betreffenden Gebieten; die Regierung hat niemanden dazu gezwungen. Zweitens ist fraglich, ob es sich dabei um eine „Besatzung“ im klassischen Sinne handelt. Dies würde voraussetzen, dass das Gebiet zuvor zu einem souveränen Staat gehört hätte, von dem Israel das Gebiet erobert hat. Im Falle des Westjordanlandes ist dies aber nicht gegeben – weil dieses bis 1967 von Jordanien annektiert war. Besonders deutlich wurde der Widerstreit der Auffassungen knapp eine Woche nach dem Richterspruch. Die USA erklärten am 18. November, dass Siedlungen per se nicht illegal seien. Außenminister Mike Pompeo wies damit eine Rechtsauffassung zurück, die 1978 unter der Carter-Regierung zustande kam. Sie ist als „Hansell-Memorandum“ bekannt, benannt nach dem damaligen Rechtsberater des Außenministeriums Herbert Hansell.

Die neue Auffassung trägt inzwischen den Namen „Pompeo-Doktrin“. Befürworter wie Juraprofessor Eugene Kontorovich sind der Meinung, dass die USA damit den rechtlichen Vorgaben der Weltgemeinschaft folgen, die im April 1920 in San Remo festgelegt und nie widerrufen wurden. Der Oberste Rat der Alliierten (Großbritannien, Frankreich und Italien) hatte sich damals in der italienischen Küstenstadt eingefunden, um die Nachkriegsordnung in Nahost festzulegen. Dort verpflichteten sich die Länder unter anderem, auf eine jüdische Heimstätte in Palästina hinzuwirken. Gemeint war damals auch das Gebiet des heutigen Jordanien, später das Land zwischen Mittelmeer und Jordan, das Westjordanland also eingeschlossen. Im Juli 1922 nahm der Völkerbund, die Vorläuferorganisation der Vereinten Nationen, die zwei Jahre zuvor festgelegten Bestimmungen an.

In der verwachsenen Geschichte des Nahen Ostens kam es in der Folge dazu, dass Israel Teile des zugesprochenen Gebietes zwar nicht bekam, 1967 im Sechs-Tage-Krieg aber eroberte. Ab diesem Jahr begann auch die Siedlungsbewegung – also mit Blick auf „San Remo“ in einem Gebiet, das ohnehin zu Israel gehören sollte. Heute werden diese Ortschaften im Allgemeinen als „Friedenshindernis“ bezeichnet. Bei diesem Vorwurf bleibt jedoch immer offen, für welche Jahre die Periode friedvollen Zusammenlebens anzusetzen ist, die vor der Gründung der ersten Siedlungen angeblich herrschte. Kontorovich wirft den Richtern vor, dass dieser Aspekt der Geschichte des Nahen Ostens im Urteil keine Rolle spielte. Das allein lässt bereits Zweifel an der „Weisheit“ des Urteils aufkommen. Der Verdacht steht im Raum, dass es sich die Richter etwas zu einfach gemacht haben – unabhängig davon, ob man nun der „europäischen“ oder der „amerikanischen“ Sicht zustimmt. Und für die Richter war es offenbar unproblematisch, auf dieser Grundlage die Frage nach Gut und Böse zu erheben.

Beweggründe angezweifelt

Die US-Regierung indes hat sich diese Frage beantwortet, allerdings mit Blick auf den Richterspruch. Sie sieht hier „anti-israelische Vorurteile“ am Werk, wie das Außenministerium am 13. November bekanntgab. Die von der EU vorgegebenen Bestimmungen „dienen einzig dazu, Boykotte, Desinvestitionen und Sanktionen (BDS) zu fördern und zu erleichtern. Die Vereinigten Staaten treten diesen Versuchen, sich an BDS zu beteiligen oder auf Israel anderweitig wirtschaftlichen Druck auszuüben, es zu isolieren oder delegitimieren, unmissverständlich entgegen“.

Auch die Leute vor Ort erkennen in dem Urteil eine Doppelmoral. Die Sprecherin des Regionalrats Benjamin, in dem der Psagot-Weinberg liegt, Miri Maos-Ovadia, bezeichnet das Urteil gegenüber Israelnetz als „antisemitisch“. Für sie ist klar: Nicht nur die Bestimmungen von San Remo lassen keinen Zweifel an der Rechtmäßigkeit jüdischer Ortschaften und Unternehmen in diesem Gebiet, sondern auch der Umstand, dass es sich hierbei um das biblische Kernland Israels handelt. Gläubige Juden bezeichnen das Gebiet gemäß der Bibel grundsätzlich als „Judäa und Samaria“.

Immerhin: Die Richter haben sich auch selbst die Frage gestellt, ob der Begriff „Siedlungen“ überhaupt angemessen ist. Sie geben zu bedenken, dass das Wort „auf eine Bevölkerung ausländischen Ursprungs“ verweist. In diesem Satz liest sich das wie ein Argument gegen diesen Begriff. So gesehen handelt es sich nach Ansicht der Richter bei den „Siedlern“ nicht um „Ausländer“. Letztlich sprechen sie sich dann aber doch für den Begriff „Siedlung“ als Herkunftsbezeichnung aus. Er könne dazu beitragen, auf die Lage der Ortschaft hinzuweisen.

Gemeinsame Wirtschaft als Ziel

Maos-Ovadia gibt zu bedenken, dass die Juden ihre Ortschaften in diesen Gebieten tatsächlich nicht als „Siedlungen“ sehen – eher als Teil des Staates Israel. „Es sind legitime Ortschaften, anerkannt von Israel, die zur israelischen Gesellschaft ihren Teil beitragen.“ Wenn der Begriff „Siedlungen“ meine, dass Juden kein Recht hätten, hier zu leben, weise sie den Begriff zurück. Wenn er jedoch im Sinne einer „Wiederbesiedelung“ des jüdischen Stammlandes verwendet werde, habe er seine Berechtigung. Wer dieser „Wiederbesiedelung“ entgegenstehe, schade auch den Palästinensern, führt Maos-Ovadia weiter an. Besucher seien meist überrascht davon, wie gut das Zusammenleben funktioniere. „Israelis und Palästinenser arbeiten zusammen, man hat Beziehungen und kennt die jeweiligen Familien. Und viele Palästinenser sind hier, weil es Arbeit gibt. Sie wissen, dass die Bedingungen deutlich besser sind als in palästinensischen Unternehmen.“

Anstatt dieser Entwicklung einen Riegel vorzuschieben, indem man etwa anfange, Produkte zu kennzeichnen, müsste sie gefördert werden. „Sowohl Israelis als auch Palästinenser müssen eine ordentliche Wirtschaft aufbauen. Wir erwarten von der internationalen Gemeinschaft, das zu unterstützen und nicht zu stoppen.“

Besonders nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes sind Zweifel angebracht, ob die EU bei diesem Anliegen ein Partner ist. Neutral scheint sie ebenfalls nicht zu sein. Wie sonst ist zu erklären, dass für die Kommission die Herkunftsangabe „Produkt aus Palästina“ unproblematisch ist, „Produkt aus Israel“ hingegen nicht? Lediglich in einer Fußnote in der Auslegungsnotiz ist vermerkt, dass der Begriff „Palästina“ „nicht als Anerkennung eines Staates Palästina gedeutet werden sollte“. Dass dieser Begriff die kaufwillige Bevölkerung in der EU über die Existenz eines „Staates Palästina“ in die Irre führen könnte, gehörte offenbar nicht zu den Überlegungen der Verfasser.

Von: Daniel Frick

Diesen Artikel finden Sie auch in der Ausgabe 1/2020 des Israelnetz Magazins. Sie können die Zeitschrift kostenlos und unverbindlich bestellen unter der Telefonnummer 06441/5 66 77 00, via E-Mail an info@israelnetz.com oder online.

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