JERUSALEM (inn) – Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu ist am Montagabend drei Stunden lang in seiner offiziellen Residenz von hochrangigen Polizeioffizieren der Korruptionsabteilung Lavav 433 verhört worden. Niemand weiß genau, worüber der Regierungschef befragt worden ist. Der Rechtsberater der Regierung, Avichai Mandelblit, hatte den Offizieren genehmigt, Netanjahu zur Not „mit Vorwarnung“ zu verhören, was einer kriminellen Untersuchung gleichkäme.
Die mutmaßlichen Vergehen bezeichnete er als „Empfang von Vergünstigungen von Geschäftsleuten“. Juristen erklärten in den Medien, dass dieses kein juristischer Begriff sei. „Korruption“ oder „Bestechung“ bedeuten, dass Netanjahu im Gegenzug zu teuren Geschenken eine politische oder wirtschaftliche Gegenleistung angeboten habe. Doch darüber ist bisher nichts bekannt. Auch über die vermeintlich verbotenen Geschenke wird in den Medien gerätselt.
Angeblich habe er sich teure Anzüge schneidern lassen. Ebenso wurde behauptet, dass er sich auf Steuerzahlerkosten teure Zigarren geleistet und dass ein amerikanischer Multimillionär seinen Sohn Jair in New York „beherbergt“ habe. Solange die konkreten Vorwürfe unbekannt sind, ist schwer abzusehen, ob und welche Strafen dem Premierminister drohten, falls Polizei und Staatsanwaltschaft ihn für „schuldig“ befinden.
Netanjahu: Kein Grund für Jubel und neue Anzüge
Im Ausland und bei den eher linkslastigen israelischen Medien wird schon spekuliert, dass diese neueste Affäre den verhassten Netanjahu „zu Fall“ bringen werde. Doch der Premier hat in den vergangenen Tagen mehrfach abgewunken. Er riet der Opposition wie den Medien, weder „neue Anzüge zu schneidern“ noch zu jubeln. Zum geflügelten Wort wurde sein Spruch: „Es wird nichts sein, weil nichts ist.“
Ob er tatsächlich „unter Druck“ ist, lässt sich mit dem bisherigen öffentlichen Wissen nicht ermitteln. Sollten die Verhöre im Nichts verlaufen, würde Netanjahu aus diesem Skandal erneut gestärkt hervorgehen – auch wenn ihm längst der Makel anhängt, luxussüchtig und wenig vertrauenswürdig zu sein.
Vorwurf: Zu viel Pistazieneis auf Steuerzahlerkosten
Seitdem er vor etwa neun Jahren mit seiner Koalition an der Macht ist, versucht die politisch wenig populäre Opposition, Netanjahu mit kriminellen Vorwürfen zu stürzen. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse in der israelischen Bevölkerung gestaltet sich das jedoch schwierig, zumal alle polizeilichen Ermittlungen bisher ergebnislos endeten.
So wurde ihm vorgeworfen, zu viel Pistazieneis auf Steuerzahlerkosten genossen zu haben. Seine Ehefrau Sarah habe Flaschenpfand unterschlagen, wobei man in Israel weniger als 5 Cent Pfand pro Flasche entrichtet. Mal ging es um Gartenmöbel und um löchrige Teppiche. Freigesprochen wurde er nach der vermeintlichen privaten Nutzung von Prämienmeilen nach offiziellen Flügen. Die Polizei konnte ihm keine „persönliche Bereicherung“ oder andere Rechtsverstöße nachweisen.
Die israelische Justiz und die Ermittlungsbehörden verschonen keine Spitzenpolitiker und andere öffentliche Personen. Der ehemalige Staatspräsident Mosche Katzav hat gerade erst fünf Jahre einer siebenjährigen Gefängnisstrafe abgesessen. Im Dezember wurde er wegen „guter Führung“ begnadigt und sitzt jetzt mit Auflagen im Hausarrest. Katzav war wegen Vergewaltigung und sexueller Belästigung im Amt verurteilt worden. Wegen Korruption sitzt Ehud Olmert, der Vorgänger Netanjahus im Amt des Regierungschefs, im Gefängnis. Polizeiliche Untersuchungen gegen den ehemaligen Staatspräsidenten Eser Weizman sowie die ehemaligen Premierminister Ariel Scharon und Ehud Barak sind im Sande verlaufen.
Lapid will Netanjahu ablösen
Derzeit läuft noch ein vielbeachtetes Verfahren gegen den Abgeordneten Bassel Ghattas von der „Vereinigten Arabischen Liste“. Er steht im Verdacht, im Schutze seiner parlamentarischen Immunität politischen Gefangenen und überführten „Terroristen“ Sim-Karten und Mobiltelefone ins Gefängnis geschmuggelt zu haben. Dabei wurde er sogar gefilmt. Eine Mehrheit im Parlament hat seine Immunität aufgehoben, um polizeiliche Verhöre zu ermöglichen. Aber er darf weiterhin im Plenum abstimmen und erhält sein volles Abgeordneten-Gehalt. Ghattas hat diese Beschlüsse als „rassistisch“ bezeichnet, weil er Araber sei und wegen seiner mutmaßlichen Vergehen nicht rechtmäßig verurteilt worden sei.
Die Methode, politische Gegner mit kriminellem Verdacht außer Gefecht zu setzen, anstatt sie politisch zu besiegen, gilt in Israel schon seit Jahren als Masche. Es widerspreche aber dem Grundsatz demokratischer Wettkämpfe. Es gehe nicht, dass ein Polizeioffizier bestimmen könne, ob ein demokratisch gewählter Politiker im Amt bleiben dürfe. Diskutiert wird ein Gesetz, wie bei französischen Staatspräsidenten, keine kriminellen Untersuchungen während der Amtszeit eines Regierungschefs zuzulassen.
Ein „ungutes Gefühl“ kam auch jetzt bei dem Verhör von Netanjahu auf, zumal im Augenblick niemand außer der Polizei oder dem Rechtsberater Mandelblit weiß, was ihm vorgeworfen wird. Der Vorsitzende der starken Oppositionspartei „Jesch Atid“, Jair Lapid, erklärte: „Ich will Netanjahu umgehend ersetzen, aber mit Hilfe der Wahlurne und nicht infolge einer polizeilichen Untersuchung.“
Ulrich W. Sahm