Zum Auftakt von Edelsteins Besuch legten die beiden Parlamentspräsidenten einen Kranz beim Mahnmal für die österreichischen Opfer der Schoah am Wiener Judenplatz nieder. Für Bures verdeutlicht diese Geste Österreichs Verantwortung für die Gräueltaten der Vergangenheit; dazu habe sich die Republik erst sehr spät bekannt, sagte sie laut einer Mitteilung des Nationalrates.
Bei einem Arbeitsgespräch mit Edelstein bekundete Bures, die seit einem Monat im Amt ist, Verständnis für Israels Sorge über die Zunahme antisemitischer Strömungen in Europa. Österreich verurteile jede Form von Antisemitismus klar, konsequent und eindeutig. Deutliche Zeichen setze das Land etwa mit dem Österreichischen Nationalfonds für Opfer des Nationalsozialismus. Als Nationalratspräsidentin ist Bures Vorsitzende dieses Fonds. Während der Schoah wurden rund 65.000 österreichische Juden ermordet.
„Dauerhafte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit“
Bei einer Feierstunde wurden mehrere „Gerechte unter den Völkern“ aus Wien und Tirol geehrt. Bures erinnerte in ihrer Ansprache daran, dass die große Mehrheit während der Zeit der NS-Diktatur weggesehen, geschwiegen oder sich sogar selbst an Verbrechen beteiligt habe. Einige wenige Menschen seien aber ihrem Gewissen gefolgt und hätten geholfen. Ihre Ehrung solle ein Zeichen setzen, dass Zivilcourage und der Mut des Einzelnen einen hohen Stellenwert hätten und auch in demokratischen Rechtsstaaten notwendig seien.
Gegenwärtig gelte es, gegenüber Tendenzen von Faschismus, Rassismus und Antisemitismus wieder besonders wachsam zu sein, gab Bures zu bedenken. Daher sei es wichtig, den jungen Menschen von heute zu vermitteln, welche Konsequenzen es haben kann, wenn man wegsieht, während Unrecht geschieht. Dies sei eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft.
Österreich könne seine Vergangenheit weder abstreifen noch vergessen und nichts ungeschehen machen, führte die Nationalratspräsidentin aus. „Wir können aber, und das halte ich für das Entscheidende, uns mit unserer Vergangenheit kritisch auseinandersetzen und auch den nachfolgenden Generationen vermitteln, welche Lehren zu ziehen sind. Es ist daher notwendig, die Vergangenheit einer dauerhaften Auseinandersetzung zu unterziehen. Das ist der einzige Weg, um in der Gegenwart eine menschenwürdige Basis für das Zusammenleben zu schaffen. Und es ist Teil der Verantwortung, die wir für die dunklen Kapitel unser Vergangenheit zu tragen haben.“
„Durch Gerechte inspirieren lassen“
Edelstein sagte bei der Zeremonie gemäß einer Mitteilung der Knesset: „Die Schoah begann nicht in Auschwitz, in Treblinka, in Babi Jar oder an einem der vielen anderen Mordstützpunkte der Nazis. Sie begann in Städten, als Steine durch die Schaufensterscheiben der Läden geworfen wurden, die sich im Besitz von Juden befanden, als Synagogen geschändet und Geschäftshäuser von Juden boykottiert wurden. Ihre Ausbreitung wurde möglich, weil viele dieser guten Leute gleichgültig blieben.“
Der israelische Parlamentssprecher ergänzte: „Wir werden niemals wissen, wie die Welt aussehen könnte, wenn weitere gute Leute ähnlich gehandelt hätten wie die Familien Horrak, Niedrist, Wimmer, Prem, Thaler und Anna Wiemer, die Juden gerettet haben.“ Möglicherweise gäbe es dann Hunderttausende Juden, die heute auf der Erde leben und ihren persönlichen Beitrag für die Verbesserung der Welt leisten würden.
Edelstein äußerte sich auch zu den jüngsten antisemitischen Vorfällen in Europa: „Synagogen werden regelmäßig angegriffen, und Tausende, die Massendemonstrationen überall auf dem Kontinent veranstalten, schwenken Schilder, auf denen entsetzliche und erschütternde antisemitische Slogans wehen. Wir können nicht wissen, was die Auswirkungen dieser zunehmenden Welle sein werden, und wir können uns nicht erlauben, gegenüber diesen Vorfällen Gleichgültigkeit zu zeigen. Es ist unsere kollektive Pflicht, öffentlich zu erklären, dass wir nicht beim Antisemitismus mitmachen werden.“
Die Worte „nie wieder“ in Bezug auf den Holocaust müssten wieder mit neuem Sinn gefüllt werden, forderte der Knessetpräsident. Dazu „müssen wir unsere Inspiration von den ‚Gerechten unter den Völkern‘ schöpfen, von denen wir einem Teil heute Ehre erweisen, die sich jeden Tag von Neuem entschieden haben, für die Gerechtigkeit zu kämpfen und die Gleichgültigkeit zurückzuschlagen, die sie umgab“. Diese Inspiration berge in der Pflicht die Kraft, die persönlichen und kollektiven Bemühungen zu beeinflussen, gegen Antisemitismus zu kämpfen.
Geehrte versorgten Jüdinnen in Not
Der Botschafter des Staates Israel in Wien, Zvi Heifetz, überreichte die posthume Auszeichnung als „Gerechte unter den Völkern“ an die Nachkommen der Retter von vier Verfolgten. Geehrt wurde das Wiener Ehepaar Johann und Franziska Horrak. Sie hatten 1942 die als Jüdin von der Deportation bedrohte Gertrude Wolf aufgenommen. Nachbarn gegenüber wurde sie als kränkliche Cousine aus der Provinz ausgegeben, Gertrude Wolf konnte so bis zum Kriegsende in Wien überleben.
Eine posthume Ehrung als Gerechte erhielten ferner mehrere Personen aus Tirol: Mitglieder der Familie Niedrist, die Ehepaare Heinz und Maria Thaler, Michael und Maria Prem sowie Anna Wimmer. Sie alle hatten einen Beitrag geleistet, um die Anfang 1943 aus Berlin geflüchtete Irma Dann und ihre beiden Töchter Marion und Eva bis Kriegsende zu verstecken und zu versorgen.
Der Titel „Gerechter unter den Völkern“ ist die höchste Auszeichnung des jüdischen Volkes. Er wird ausschließlich an Nichtjuden verliehen, die sich an der Rettung verfolgter Juden beteiligt haben.