In Kairo, Alexandria und der Islamistenhochburg Minja fordern die Menschen auf den Straßen, die Armee solle sich aus der Politik heraushalten. Mit Tränengas und scharfer Munition gehen Ägyptens Sicherheitskräfte gegen steinewerfende Demonstranten vor. „Die Rechtsprechung ist zum Machtinstrument der Armee und Behörden geworden“, klagt der Wirtschaftsstudent Mohammed Aschraf. Trotz schwerer Restriktionen sind er und viele andere dem Ruf einer islamistischen Allianz, zu der auch die Muslimbruderschaft gehört, zu öffentlichen Demonstrationen gefolgt.
529 ägyptische Islamisten waren am Montag im etwa 230 Kilometer südlich von Kairo gelegenen Minja zum Tode verurteilt worden. Unbarmherzig geht das Militärregime in Ägypten gegen die radikal-islamische Muslimbruderschaft vor, die Mutterorganisation von Bewegungen wie der palästinensischen Hamas, dem islamischen Dschihad, aber auch vieler salafistischer Gruppierungen.
Nach dem Sturz des ersten frei gewählten Präsidenten Ägyptens, Mohammed Mursi, im Juli vergangenen Jahres, kam es zu ersten Unruhen. Im August töteten Sicherheitskräfte bei einer Demonstration in Kairo Hunderte von Muslimbrüdern, die eine Wiedereinsetzung Mursis forderten. Tausende wurden seither verhaftet und vor Gericht gestellt, darunter auch der ehemalige Präsident selbst. Bei alledem bereitet sich das bevölkerungsreichste arabische Land auf Wahlen vor, durch die der bisherige Armeechef, Feldmarschall Abdel Fatah al-Sisi, zum neuen Präsidenten gewählt werden soll.
Verurteilte nach Massentodesurteil auf der Flucht
Wie absurd die Lage in Ägypten ist, zeigt die Tatsache, dass bei der Verkündung des größten Massentodesurteils in der Geschichte des modernen Ägypten lediglich 123 von insgesamt 529 Angeklagten zugegen waren. Alle anderen waren zuvor entweder entlassen worden, befanden sich gegen Kaution auf freiem Fuß oder auf der Flucht. Am Tag unmittelbar danach begann ein Verfahren gegen den obersten Führer der Muslimbruderschaft, Mohammed Badie, dem gemeinsam mit 682 Gesinnungsgenossen Anstiftung zum Mord vorgeworfen wird. In diesem Fall befinden sich nur 77 der Angeklagten in Händen der ägyptischen Staatsgewalt. Alle anderen sind auf freiem Fuß, im Untergrund oder auf der Flucht. Derzeit hat sich die Muslimbruderschaft in Ägypten weitgehend in den Untergrund zurückgezogen.
Zeitgleich mit den Massengerichtsverfahren in Minja müssen sich in Kairo Mitarbeiter des katarischen Nachrichtensenders „Al-Dschasira“ vor Gericht verantworten. Ihnen wird die Verbreitung falscher Nachrichten und Zugehörigkeit zu einer Terror-Organisation vorgeworfen. „Al-Dschasira“ macht aus seiner Sympathie für die Muslimbruderschaft keinen Hehl, weist aber alle Vorwürfe gegen seine Mitarbeiter entschieden zurück.
Der Verteidiger der Muslimbrüder, Rechtsanwalt Nabil Abdel Salam, bezeichnete das Urteil vom 24. März 2014 als „das schnellste Gerichtsverfahren und die größte Anzahl von Todesurteilen in der Rechtsgeschichte“. Die Verurteilten sollen die Möglichkeit bekommen, Einspruch gegen das Urteil einzulegen. Rechtsexperten sehen „viele Schwächen in diesem Urteil“ und bezweifeln, dass es vollstreckt wird.
In Ägypten, das 85 Millionen Einwohner hat, gibt es schätzungsweise eine Million Muslimbrüder. In Folge der Absetzung Mursis durch die Militärs wurde die Muslimbruderschaft zur Terror-Organisation erklärt. Nach eigenen Angaben sieht sie sich dem gewaltlosen Widerstand verpflichtet. Mit ihrer Tochterorganisation im Gazastreifen, der Hamas, kam es deshalb schon während Mursis Amtszeit zu Spannungen.
Muslimbruderschaft wähnt Amerikaner und Israelis hinter Regime
Während Familienmitglieder von Verurteilten vor dem Gerichtsgebäude in Minja mit lautem Geschrei reagierten, berichtete das staatliche ägyptische Fernsehen ohne weitere Kommentare über das außergewöhnliche Massentodesurteil. Die Muslimbruderschaft forderte auf ihrer offiziellen Webseite den „Sturz der Militärherrschaft“, um sich dann in einer Presseerklärung zu beklagen, ihre Mitglieder seien von einer politisierten Jurisdiktion zum Tode verurteilt worden, weil sie friedlich gegen den Militärputsch gekämpft hätten. Das Urteil sei ein weiterer Beweis für den verbrecherischen und brutalen Charakter des Regimes. Es beweise zweifelsfrei, dass das Geschehen vom 30. Juni ein „Militärputsch gegen den öffentlichen Willen“ gewesen sei. Triebkraft der Entwicklung seien „amerikanische Anweisungen“ und eine „israelische Agenda“. Mohammed Mahsub, der unter Mursi als Justizminister gedient hatte, nannte das Urteil auf seiner Facebook-Seite eine „Exekution der Gerechtigkeit“.
Menschenrechtsorganisationen interpretieren das Massentodesurteil als Indiz dafür, dass das Regime immer stärker gegen die Opposition vorzugehen gedenke. Die UN-Menschenrechtskommission bezeichnete das Urteil als Verstoß gegen internationales Recht. Auch die Europäische Union kritisierte das Urteil. Die amerikanische Regierung bezeichnete es als „gewissenlos“ und „eklatante Missachtung grundlegender Rechtsstandards“. Die Sprecherin des US-Außenministeriums, Marie Harf, kündigte eine Überprüfung der Hilfsleistungen für Ägypten an. Im Rahmen des israelisch-ägyptischen Friedensabkommens erhält das Land, genau wie Israel, drei Milliarden US-Dollar Militärhilfe im Jahr. Nicholas Piachaud von Amnesty International bezeichnete den Entscheid als „Todesurteil für die Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit der Rechtsprechung in Ägypten“ und das deutsche evangelische Hilfswerk „Brot für die Welt“ kritisierte die Todesurteile als „falsches Signal“.
Ägyptens besondere Rolle
Bislang ist nicht absehbar, ob die internationale Gemeinschaft ihren Unmutsäußerung Taten folgen lassen wird. Ägypten hat große strategische Bedeutung durch den Suezkanal und auch aufgrund seines Friedensvertrags mit Israel. Zudem bietet sich seit dem Sturz Hosni Mubaraks Russland zunehmend als alternativer und vor allem zuverlässiger Partner für den Nahen Osten an – ganz zu schweigen von der Option China.
Lediglich die Arabische Liga, deren Außenminister sich unmittelbar nach Verkündung des Massentodesurteils in der zweiten Märzhälfte zu einem Gipfel in Kuwait trafen, verkündete „business as usual“. Es gebe keinerlei wie auch immer geartete Spannungen zwischen den arabischen Bruderstaaten – allen Zwistigkeiten, Bürgerkriegen und Hunderttausenden von Toten in innerarabischen Auseinandersetzungen zum Trotz.
Auch in Jerusalem äußern sich die Menschen eher zurückhaltend im Blick auf die Vorgänge in Ägypten. „Das ist doch alles nur Politik“, meint ein palästinensischer Händler in der Altstadt, der ansonsten mit der Hamas, dem palästinensischen Arm der Muslimbruderschaft, sympathisiert, „und die haben wir satt“. Um das Schicksal seiner ägyptischen Glaubensbrüder macht sich der Palästinenser mit israelischem Personalausweis keine Sorgen: „Die Tage von Sisi sind gezählt. Wenn der in einem Jahr noch an der Macht ist, hat er lange durchgehalten.“
Israelische Regierung hält sich zurück
Die israelische Regierung schweigt eisern zu den Vorgängen im südwestlichen Nachbarland. Fraglos gehört das gewalttätige Vorgehen Sisis gegen eine mächtige und in der Bevölkerung tief verwurzelte Minderheit in seinem Land nicht zu den Idealen israelischer Demokraten. Andererseits ist ein Präsident Sisi momentan die beste Option aus Sicht des jüdischen Staates, der seit langem mit großer Sorge das Chaos auf der Sinaihalbinsel, den von der Hamas beherrschten Gazastreifen und die Option eines islamistischen Regimes in Kairo beobachtet.
Die Geschichte der Muslimbruderschaft zeigt, dass sie durch brutale Verfolgung in den vergangenen Jahrzehnten, vor allem auch unter Präsident Mubarak, nur an Einfluss und Überzeugungskraft gewann. Das außergesetzliche Vorgehen Sisis mit Hilfe seiner gleichgeschalteten Richter wird deshalb möglicherweise genau das Gegenteil von dem bewirken, was der neue Machthaber mit präsidialen Ambitionen am Nil beabsichtigt. Hinzu kommt eine miserable Wirtschaftslage, die sich nur zu schnell in Kombination mit einer zutiefst zerrissenen Gesellschaft als politischer Fallstrick erweisen könnte.
Kopten weiter unter Druck
Auf jeden Fall werden die Entwicklungen in Ägypten weitreichende Folgen in der gesamten arabisch-islamischen Welt haben. Ganz unabhängig davon, ob das Massentodesurteil vom vierten Märzmontag 2014 revidiert wird, es hat schon jetzt dem anti-islamistischen Anliegen, weit über das Land am Nil hinaus, großen Schaden zugefügt. Für die uralte christliche Gemeinschaft des Landes, die alles auf die Karte Sisi gesetzt hat, sodass bei der Absetzung von Präsident Mursi gar der koptische Papst Tawadros II. an der Seite des Feldmarschalls stand, könnte sich das Vorgehen ihres Patrons als fatal erweisen. Die fast zehn Millionen Kopten haben in den vergangenen Jahren, vor allem in ländlichen Gebieten, die die internationale Gemeinschaft kaum beobachten kann, furchtbare Verfolgungen erlebt. Dass Tawadros II. immer wieder betont hat, Sisi habe eine „nationale Pflicht“, bei den kommenden Wahlen Präsident zu werden, kann sich für seine Nachfolger als furchtbarer Bumerang erweisen, sollte der Feldmarschall mit seiner Politik versagen.