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Meinung

Politchaos, fünfter Akt

Am Dienstag wählt Israel – zum fünften Mal innerhalb von weniger als vier Jahren. An der zentralen Konstellation hat sich wenig geändert, die Lager stehen sich unversöhnlich gegenüber. Doch Likud-Führer Benjamin Netanjahu hat seine strategisch dominante Position eingebüßt. Eine Vorwahlanalyse
Von Sandro Serafin
Hat das abrupte Ende selbst verschuldet: Benjamin Netanjahu (Archivbild)

Irgendwo in Israel klingelt es bei einer jungen Familie an der Tür. Ein Baby schreit, das Paar öffnet: Draußen steht der „Bibisitter“, Likud-Führer Benjamin Netanjahu, und bietet den beiden kostenlose frühkindliche Bildung zwischen 0 und 3 Jahren an. Es ist einer der zahlreichen Wahlkampfclips, die „Bibi“ Netanjahu in diesen Tagen verbreiten lässt: Hohe Lebenserhaltungskosten schlagen auf die Geldbörsen im Land – ein Thema, das alle Israelis betrifft und damit auch Gegenstand des auslaufenden Wahlkampfs war.

Der „Bibisitter“ steht vor der Tür: Wahlkampf mal im seichten Stil

Geprägt wurden die vergangenen Wochen aber weniger von Sachthemen wie diesen, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass diese auch sachlich debattiert worden wären. Es ist nicht der seichte „Bibisitter“-Stil, der der Vorwahlphase den Stempel aufgedrückt hat. Im Gegenteil: Wenn am morgigen Dienstag mehr als 6 Millionen Israelis an die Wahlurnen gerufen werden, machen sie einen Punkt hinter einen weiteren vor allem hitzigen, manchmal dreckigen, Wahlkampf. In dem schien jedenfalls die medial vermittelte politische Erregungsstufe konstant bei mehr als 100 Prozent zu liegen.

Wie ein wildgewordener Hühnerhaufen

Israels Politiker haben sich in den vergangenen Wochen noch und nöcher angepatzt, wie man in Österreich sagen, beziehungsweise mit einem wechselseitigen „negative campaigning“ belegt, wie es die Amerikaner ausdrücken würden – durch Schläge gegen das jeweils andere Lager, aber auch mit Tritten gegen die, die eigentlich Partner sein sollten. Wie ein aufgestochener Hühnerhaufen, in dem alle wild durcheinanderlaufen und aufeinander einpicken, wirkte das bisweilen.

Oppositionsführer Netanjahu, der das Land bis 2021 regierte und sich seitdem als Regierungschef im Wartestand sieht, hämmerte seinen Anhängern unaufhörlich ein, es gelte eine weitere „israelisch-palästinensische“ und „linke“ Regierung zu verhindern. Das zielte auf seine Gegenspieler, den amtierenden Übergangspremier Jair Lapid (Jesch Atid) und Verteidigungsminister Benny Gantz (Blau-Weiß).

Die wollten mit „Terrorunterstützern“ unter den Arabern sowie „den Muslimbrüdern“ kooperieren beziehungsweise hätten dies schon getan, stützte sich die scheidende Regierung doch tatsächlich nicht zuletzt auf die islamistisch-arabische Ra’am-Partei. Konkrete Kritik brachte Netanjahu insofern vor, als er etwa das von Lapid unterzeichnete Gasabkommen mit dem Libanon kritisierte, indem er es mit dem Schlagwort einer „Kapitulation“ vor dem Terror der Hisbollah belegte.

Das „Ende der Demokratie“?

Lapid und seine Bündniskollegen wiederum malten das Schreckgespenst vom „Ende der Demokratie“ an die Wand, sollte Netanjahu, der wegen Korruptionsvorwürfen vor Gericht steht, gewinnen. Dieses Ende sei nicht weniger als das Wahlversprechen des Ex-Premiers und seiner Partner, vor allem aus der Aufsteiger-Partei Otzma Jehudit. Die hat ihre Wurzeln in einer rechtsextremen und gewaltaffinen Bewegung und will sich bei einem Wahlsieg umfassender Justizreformen annehmen.

Verteidigungsminister Gantz verspricht, die „Schande“ und die „Gefahr“ von rechts zu stoppen

Sie wollten ein „dunkles, rassistisches und extremistisches Land“ errichten, warnte Lapid. Und wenn sie nicht gewännen, bestünde die Gefahr, dass Netanjahu das Wahlergebnis delegitimiere. Ein Parteigänger des Premiers sekundierte dann jüngst auch noch mit Blick auf das rechte Lager, auch Hitler sei demokratisch an die Macht gekommen. Die Nation am Abgrund, so oder so: Diese Art des Wahlkampfs gehört zu Israel, aber sie wirkte in diesem Jahr doch besonders polarisiert.

Anhänger und Gegner definieren sich über Netanjahu

Ein Ende des endlos scheinenden Wahltheaters – das Land verfolgt mittlerweile den fünften Akt dieses Schauspiels – bleibt derweil außer Sicht, jedenfalls ist es auch nach dieser Wahl alles andere als sicher. Das liegt vor allem daran, dass sich an der zentralen Konstellation, die die israelische Innenpolitik seit 2019 weitgehend lahmlegt, nichts geändert hat: „Rak Bibi“ (Nur Bibi) oder „Rak lo Bibi“ (Nur nicht Bibi) – das bleibt die allererste Frage im Land.

Dem Likud-Führer ist das Kunststück gelungen, sich zum wichtigsten Referenzpunkt der israelischen Innenpolitik zu machen, und zwar über alle Lager hinweg: So wie sich die Anhänger des „Melech Israel“ (König Israels) über ihre Gefolgschaft zu ihm definieren, tun dies seine Gegner über ihre ablehnend-gehässige Haltung. Für die Parteien der ausgehenden Regierung war die Feindschaft zu Netanjahu sogar der einzige Klebestoff, der sie überhaupt zusammenhielt (lesen Sie hier eine Analyse zur scheidenden Koalition).

Wählermobilisierung kann entscheiden

In den vier vorangegangenen Wahlkämpfen hatten die Israelis wahrlich genug Gelegenheit, sich Gedanken dazu zu machen, wie sie zur Gretchen- beziehungsweise Bibi-Frage stehen – was sollte sich da bei dieser Wahl noch ändern? Entsprechend sagen alle Umfragen wie gehabt eine Pattsituation voraus, in der das Netanjahu-Lager permanent an der absoluten Knesset-Mehrheit von 61 Sitzen kratzt, ohne diese aber sicher zu erreichen. Für beide Seiten geht es nun also vor allem darum, ihre eigenen Anhänger auch tatsächlich zur Wahlurne zu mobilisieren, um so die entscheidenden Tausendstel zu holen.

60 Sitze für beide Lager: Netanjahu mobilisiert seine Wähler mit einem Wecker in der Hand und noch mehr Weckern im Regal

Damit zeichnen sich für den Wahlabend am Dienstag, auch das ist nicht neu, zwei Grundszenarien ab. Szenario 1: Netanjahu holt mit seinen Partnern die Mehrheit von 61 Sitzen oder mehr. Der Likud hat den Vorteil, dass von den Anti-Netanjahu-Parteien anders als im eigenen Lager gleich mehrere auf der Kippe der 3,25-Prozent-Hürde stehen. Würden ein, zwei von ihnen tatsächlich aus dem Parlament fallen, könnte das die entscheidende Verschiebung für das Nationale Lager bringen.

Dann würde eine Regierung aus rechtskonservativem Likud, den hart-rechten Parteien Religiöser Zionismus und Jüdische Stärke sowie den beiden ultra-orthodoxen Listen wohl einigermaßen unkompliziert zu Stande kommen (lesen Sie hier, welche Parteien in die Knesset wollen): Die Ultra-Orthodoxen lechzen nach einjähriger Regierungsabstinenz nach einem Comeback, und auch den religiösen Zionisten ist daran gelegen, das noch amtierende Regierungsexperiment Lapids so schnell wie möglich abzulösen.

Allerdings wird sich Netanjahu einem gestiegenen Selbstbewusstsein der Jüdischen Stärke gegenübersehen, die in der geistigen Nachfolgerschaft des rechtsextremen Rabbiners Meir Kahane steht. Sie konnte ihre Anhängerschaft zuletzt ausweiten und wird wichtige Ministerposten für sich beanspruchen, was die Polarisierung weiter anfachen dürfte. Auch Netanjahu wird an einer Einhegung der Jüdischen Stärke gelegen sein, allein schon, um einen internationalen Aufschrei zu verhindern, auch aus den USA und den inzwischen befreundeten arabischen Ländern wie den Vereinigten Arabischen Emiraten.

Netanjahu in der strategischen Defensive

Läuft es unterdessen nach Szenario 2, scheitert Netanjahu auch im fünften Anlauf an der Hürde von 61 Knesset-Sitzen. In dem Fall, nur das ließe sich dann sicher sagen, bliebe die Lage so verzwickt wie gehabt: Das Anti-Netanjahu-Lager ist zu divers für eine eigene Regierungsbildung. Es besteht aus einer kommunistischen und zwei sozialistischen, aus zentristischen und rechten Kräften sowie einer islamistischen und einer Partei des palästinensischen Nationalismus. Ausschließen darf man in Israel nichts, aber dass die Anti-Netanjahus in dieser Form eine neue Regierung zustande bringen, scheint doch höchst unwahrscheinlich.

Wie es dann weitergehen würde, ist Spekulation: Gelingt es zum Beispiel Netanjahu, die fehlenden Abgeordneten aus dem Gegenlager herauszubrechen und so die nötige Mehrheit für sich an den Wählern vorbei zu organisieren? Kann Verteidigungsminister Gantz sich als dritte Premier-Alternative zwischen Netanjahu und Lapid ins Spiel bringen, indem er die bislang Netanjahu-treuen Ultra-Orthodoxen hinter sich bringt? Oder tut sich in Netanjahus Likud ein Königsmörder hervor und unternimmt einen hochriskanten Putsch gegen den so umstrittenen wie beliebten „König Israels“?

Lager Netanjahu (Opposition)Lager Anti-Netanjahu (Regierung)arabisch-staatsfern
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Die beiden letzten Umfragen, veröffentlicht am 28. Oktober, zeigen einen Patt beider Seiten an. Die Mehrheit liegt bei 61 von 120 Sitzen.

Netanjahu jedenfalls, und das ist dann einer der wenigen tatsächlich neuen Aspekte in dieser fünften „Runde“, hat seine strategische Dominanz verloren: Bei den vergangenen Wahlen hatte er die Macht stets auch ohne neue Regierungsbildung behalten können, weil er so oder so weiter geschäftsführender Premier bis zur jeweils nächsten Wahl blieb. Durch die Regierungsbildung gegen Netanjahu unter Führung von Lapid und Naftali Bennett im Sommer 2021 hat er diesen Vorteil eingebüßt: Kommt es zu sechsten Neuwahlen, bliebe nun Lapid geschäftsführend im Amt – und Netanjahu auf der Oppositionsbank sitzen.

Damit könnte das Lager der Anti-Bibisten versucht sein, von nun an bei einer Neuwahl nach der anderen zwar keine eigene Regierung zu bilden, dafür aber den verhassten „Bibi“ in der Opposition zu halten, ihn auf diese Weise zu zermürben und so womöglich von außen zu einer bisher nicht wirklich absehbaren Erosion der Unterstützung für Netanjahu in dessen Likud-Partei beizutragen. Ob diese Art der Politik dem Land gut tun würde, steht freilich auf einem anderen Blatt.

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Eine Antwort

  1. Ich kann „Bibi“ Netanyahu nur die Daumen drücken, wieder Ministerpräsident zu werden !

    2

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