Das urige Viertel Nachlaot in Jerusalem, am Jüdischen Markt Machane Jehuda, ist der Gradmesser für das pulsierende Leben der Israelis. Hier geht es bunt und lebendig zu. Und überwiegend auch sehr laut. Es gibt Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen, da sind Geräusche, Farben und Geschmäcker, hinter denen sich vielseitige Geschichten verbergen.
In normalen Zeiten geht der Lärm schon frühmorgens los: Das Piepen der rückwärtsfahrenden Lastwagen, die den Markt beliefern, ist nicht zu überhören. Ebenso wenig die Rufe der Männer, die ihre Läden neu bestücken. Menschen kommen aus der ganzen Stadt, um ihre Einkäufe zu erledigen. Außerdem gibt es unzählige Touristenführer, die kleine und große Gruppen aus dem gesamten Land über die Agrippastraße scheuchen, die den Markt von Nachlaot trennt. Über die Straße fahren neben zahlreichen Taxen und hupenden Autos im 5-Minuten-Takt Busse laut an. Anwohner werden Zeugen, wie sich Menschen freudig begrüßen oder laut streiten. Abends wandelt sich der Markt zur Partymeile.
In normalen Zeiten: Geschäftigkeit vor dem Schabbat
Besonders gedrängt geht es am Freitagmittag zu, wenn alle noch schnell ihre Schabbateinkäufe erledigen wollen und sich an den vielen Touristen vorbeidrängen. Laut versuchen Marktschreier, letzte Waren loszuwerden. Am Nachmittag, kurz vor Sonnenuntergang, ebbt der Trubel ab. Nach und nach schließen die Läden, die Menschenmasse wird kleiner, aus dem gegenüberliegenden Kiosk erklingt laute Techno-Musik.
Etwa eine halbe Stunde vor dem Beginn des wöchentlichen Feiertags ertönt die einminütige Schabbatsirene. Danach kommen arabische Arbeiter der Stadtverwaltung, um den Markt zu säubern. Mit Fahrzeugen fluten sie ihn für mehrere Stunden. Danach ist der Markt sauber. Und leise. Am Schabbat selbst schreiten Männer, in ihre Gebetsschals gewickelt, mit ihren Kindern über den Markt, zum Gebet in die Synagogen von Nachlaot. In normalen Zeiten genieße ich diese Bilder, nun vermisse ich sie.
An manchen Schabbatot, wenn der Wind günstig weht und alles so still ist, sind die Glocken der Kirchen aus der Altstadt zu hören. Oder die Muezzine, die aus den Moscheen im Osten der Stadt zum Gebet rufen. Aus Angst vor einer neuen Ausbreitungswelle des Coronavirus hat die Regierung für den ersten und letzten Pessachfeiertag eine Ausgangssperre verhängt. Nun ist es noch stiller als in den vergangenen Wochen. Ich vermisse den Anblick der jüdischen Beter.
Erinnerung an ein Kinderspiel
Seit etwa einem Monat dürfen wir niemanden treffen, der nicht in unserem Haus lebt, seit drei Wochen uns nur noch 100 Meter von unserem Haus entfernen. Die Begegnung mit Menschen fehlt mir, ebenso die vielen lockeren und zwanglosen Zusammenkünfte, von denen mein bisheriges Leben stark geprägt war und die doch so typisch für Nachlaot und seine Bewohner sind. Plötzlich kommt meinen Mitbewohnern eine ganz neue Bedeutung zu. Wer hätte noch vor wenigen Monaten gedacht, dass sie es wären, mit denen dieses Kinderspiel für mehrere Wochen Wirklichkeit würde: „Stell dir vor, du gehst auf eine einsame Insel. Wen oder was würdest du mitnehmen?“
In all dem bin ich dankbar, dass ich versorgt bin und den Luxus habe, ein eigenes Zimmer bewohnen zu dürfen. Ich freue mich, dass ich das Internet nutzen kann, auch, um Kontakt zu mir lieben Menschen halten zu können. In diesen Tagen freut es mich besonders, wenn ich die Kirchenglocken höre, den Muezzin und die krächzenden Raben der Nachbarschaft. Ich freue mich, dass ich zuhause sein darf und weder Heim- noch Fernweh haben muss. Das ist ein schönes Gefühl. Ich versuche, die geschenkte Stille, so gut es geht, zu nutzen. Und hoffe trotzdem, dass das normale Leben bald wieder losgeht. Wenn auch vielleicht etwas anders, als ich bisher gewohnt war.
Von: Merle Hofer
Merle Hofer lebt in einer Vierer-WG am Machane Jehuda. Viele ihrer Freunde aus der Gegend ziehen alle ein oder zwei Jahre um und sind ganz überrascht, dass Merle schon seit sieben Jahren an einem Ort wohnt.