Die Annonce steht unter der Überschrift „Für Jerusalem“. Sie erschien am Freitag in der „Washington Post“ und im „Wall Street Journal“. Wiesel weist darauf hin, dass Jerusalem in der Hebräischen Bibel oft erwähnt werde, im Koran hingegen kein einziges Mal. „Es gehört dem jüdischen Volk und ist viel mehr als eine Stadt, es ist das, was die Juden in einer Weise miteinander verbindet, die schwer zu erklären bleibt“, schreibt der Friedensnobelpreisträger. „Wenn ein Jude Jerusalem zum ersten Mal besucht, ist es nicht das erste Mal; es ist eine Heimkehr.“ Heute dürften Juden, Christen und Muslime überall in der Stadt Häuser bauen. Er riet dazu, Verhandlungen über Jerusalem ans Ende der israelisch-palästinensischen Friedensgespräche zu verschieben.
Wie die Tageszeitung „Jediot Aharonot“ berichtet, hatte Israels Premier Benjamin Netanjahu den Holocaust-Überlebenden um Unterstützung gebeten. Anlass war die Forderung von US-Präsident Barack Obama, die Bautätigkeit in Ostjerusalem einzustellen. Wiesel wurde infolge der Veröffentlichung zu einem Treffen ins Weiße Haus geladen.
Friedensorganisation kritisiert Annonce
Kritik an Wiesel kam vom amerikanischen Zweig der israelischen Bewegung „Frieden jetzt“. Dessen Vorsitzende Debra DeLee schrieb in einer Stellungnahme, die Anzeige in der ‚Washington Post‘ und dem ‚Wall Street Journal‘ habe ihr Tränen in die Augen getrieben. „Denn Ihrem Rat zu folgen – auf unbestimmte Zeit die israelisch-palästinensischen Verhandlungen über Jerusalem zu verschieben -, kommt einer Zukunft von Blut und Tränen für Israelis und Palästinenser gleich.“
Die frühere Vorsitzende der demokratischen Partei in den USA fügte hinzu: „Herr Wiesel, ich lege diesem Brief eine Landkarte von Ostjerusalem und dem Westjordanland bei, die von unserer israelischen Schwester-Organisation ‚Frieden jetzt‘ hergestellt wurde. Bitte sehen Sie sie an. Finden Sie sich mit der Wirklichkeit ab, dass eine Fortführung dieses Status quo Tod und Zerstörung bedeutet. Ich weiß, dass Sie das nicht wollen.“ Sie lud Wiesel zu einer Tour durch Ostjerusalem mit einem Experten der Organisation ein. „Ich garantiere, dass das Ihnen eine neue Perspektive zu Jerusalem geben würde.“
Die vollständige Anzeige in deutscher Übersetzung
„Für Jerusalem
Es war unvermeidlich: Jerusalem ist einmal mehr im Zentrum der politischen Debatten und internationalen Stürme. Neue und alte Spannungen kommen in einem verwirrenden Tempo an die Oberfläche. Siebzehnmal zerstört und siebzehnmal wieder aufgebaut, befindet es sich immer noch in der Mitte diplomatischer Konfrontationen, die zu einem bewaffneten Konflikt führen könnten. Weder Athen noch Rom haben so viele Leiden hervorgebracht.
Für mich als Juden ist Jerusalem jenseits von Politik. Es wird mehr als sechshundertmal in der Schrift erwähnt – und kein einziges Mal im Koran. Seine Gegenwart in der jüdischen Geschichte ist überwältigend. Es gibt kein bewegenderes Gebet in der jüdischen Geschichte als das eine, das unsere Sehnsucht danach ausdrückt, nach Jerusalem zurückzukehren. Für viele Theologen IST es jüdische Geschichte, für viele Dichter eine Quelle der Inspiration. Es gehört dem jüdischen Volk und ist viel mehr als eine Stadt, es ist das, was die Juden in einer Weise miteinander verbindet, die schwer zu erklären bleibt. Wenn ein Jude Jerusalem zum ersten Mal besucht, ist es nicht das erste Mal; es ist eine Heimkehr. Das erste Lied, das ich hörte, war das Wiegenlied meiner Mutter über und für Jerusalem. Seine Traurigkeit und seine Freude sind Teil unserer kollektiven Erinnerung.
Seit König David Jerusalem zu seiner Hauptstadt machte, haben Juden mit nur zwei Unterbrechungen innerhalb seiner Mauern gewohnt: als römische Invasoren ihnen den Zutritt zur Stadt verboten und wieder, als unter jordanischer Herrschaft Juden, egal welcher Nationalität, der Zutritt zum alten jüdischen Viertel verweigert wurde, um an der Mauer, dem letzten Überrest von Salomos Tempel, zu meditieren und zu beten. Es ist wichtig, daran zu erinnern: Hätte sich Jordanien im Krieg von 1967 gegen Israel nicht Ägypten und Syrien angeschlossen, dann wäre die Jerusalemer Altstadt immer noch arabisch. Während Juden eindeutig bereit wären, für Jerusalem zu sterben, würden sie nicht für Jerusalem töten.
Heute können zum ersten Mal in der Geschichte Juden, Christen und Muslime alle frei an ihren heiligen Stätten ihre Religion ausüben. Und, im Gegensatz zu gewissen Medienberichten, IST es Juden, Christen und Muslimen erlaubt, ihre Häuser überall in der Stadt zu bauen. Beim Schmerz um Jerusalem geht es nicht um Immobilien, sondern um Erinnerung.
Was ist die Lösung? Druck wird keine Lösung erzeugen. Gibt es eine Lösung? Es muss eine geben, es wird eine geben. Warum sollte man das komplizierteste und empfindlichste Problem vorzeitig angehen? Warum nicht zuerst Schritte unternehmen, die es den israelischen und palästinensischen Gemeinschaften ermöglichen, Wege zu finden, wie sie in einer Atmosphäre der Sicherheit leben können? Warum nicht das schwierigste, das empfindlichste Thema für eine solche Zeit aufheben?
Jerusalem muss die geistliche jüdische Hauptstadt der Welt bleiben, nicht ein Symbol für Schmerz und Bitterkeit, sondern ein Symbol für Vertrauen und Hoffnung. Wie der chassidische Lehrer Rebbe Nachman von Bratzlaw sagte: ‚Alles in der Welt hat ein Herz; das Herz selbst hat sein eigenes Herz.‘
Jerusalem ist das Herz unseres Herzens, die Seele unserer Seele.
Elie Wiesel“