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Neues über Nahost – aus Wikileaks

Am letzten Novembersonntag des Jahres 2010 begann die Internetseite Wikileaks mit der Veröffentlichung von einer Viertelmillion vertraulicher Berichte des US-Außenministeriums. Die Folge war ein beispielloser Medienwirbel weltweit, ein Hackerkrieg im Internet, als die Amerikaner versuchten, die Veröffentlichung ihrer Diplomaten-E-Mails zu verhindern, bis hin zum Vorschlag eines kanadischen Professors und ehemaligen Regierungsberaters, Präsident Obama solle eine Drohne benutzen, um Julian Assange, den Gründer der Internet-Plattform, abzuschießen. Assange ging in den Untergrund.

Natürlich ging es bei Wikileaks um die Vereinigten Staaten von Amerika, ihre Politik und was US-Diplomaten hinter vorgehaltener Hand berichteten. Der Nahe Osten, der Kampf gegen den Terror, die Beziehungen zum Islam und der israelisch-palästinensische Konflikt sind aber ein wichtiger Bereich amerikanischer Außenpolitik. Deshalb die Frage: Was erfahren wir durch Wikileaks Neues über Israel und den Nahen Osten? – Ein zusammenfassender Rückblick:

Die USA interessieren sich für
Israels
·        ‪militärische Fähigkeiten;‬
·        ‪Taktik, Techniken und Prozeduren im Kampf gegen den Terror;‬
·        ‪Telekommunikationsfähigkeiten;‬
·        ‪technische Entwicklungen und Bemühungen; und‬
·        ‪Kontakte zur Hamas;‬

sowie die Einstellung der israelischen Bevölkerung
·        ‪zum Friedensprozess,‬
·        ‪zu den Siedlungen und‬
·        ‪zur US-Regierung‬.

Akademiker, Journalisten, Geschäftsleute, religiöse und professionelle Organisationen, die auf der internationalen Bühne die Sichtweise gegenüber den USA zu beeinflussen versuchen, werden von amerikanischen Regierungsvertretern in besonderer Weise beobachtet.

In der Palästinensischen Autonomie (PA) interessieren sich die USA für

Kontakte zur Hamas;
Kreditkartennummern, Vielfliegernummern, Terminkalender, und andere persönliche Informationen von Politikern;

sowie die Einstellung der Bevölkerung
·        ‪zum Friedensprozess,‬
·        ‪zu den Siedlungen und‬
·        ‪zur US-Regierung.‬

Die Lage in Israel
beurteilen Amerikas Diplomaten als „trügerisch ruhig und florierend“. Das Land bereite sich auf einen breit angelegten Krieg mit Hamas und Hisbollah vor und beurteile selbst den Frieden mit Ägypten und Jordanien als sehr zerbrechlich. Im Falle eines Regimewechsels könnte die Lage schnell kippen. Israel hat Frieden mit den Regierungen – nicht mit den Völkern. Dies sei besonders bedenkenswert bei Waffenexporten in die so genannten gemäßigten arabischen Länder.

Der israelische Regierungschef Benjamin Netanjahu
will nicht über die Westbank herrschen,
hält nichts von einem weiteren einseitigen Rückzug aus besetzten Gebieten und
betrachtet Syriens Friedensouvertüren lediglich als Annäherungsversuche an die USA.

Verteidigungsminister Ehud Barak
ist der Ansicht, bei Iran und Nordkorea sollten alle Optionen auf dem Tisch bleiben;
befürwortet eine strategische Partnerschaft mit China, Russland, Indien und der EU; und weiß:
Israel und die USA haben dieselben Informationen über den Iran, analysieren sie aber unterschiedlich.

Zur Palästinensischen Autonomiebehörde wird berichtet:

Der heutige Staatspräsident, Osloarchitekt und deshalb Friedensnobelpreisträger Schimon Peres kommt im Rückblick zu dem Schluss: Oslo war ein Fehler.

Der ehemalige Mossad-Chef Meir Dagan ist der Ansicht, der Friedensprozess mit den Palästinensern bringe nichts. Nur die israelische Armee verhindere eine Machtübernahme der Hamas in der Westbank. Sollte die Hamas auch dort die Macht ergreifen, würde Präsident Mahmud Abbas wohl zu seinem „mysteriös reichen“ Sohn nach Qatar gehen.

Im Blick auf den Gazastreifen ist interessant:

Die PA teilte praktisch alle ihre nachrichtendienstlichen Informationen mit Israel.

Kurz vor der Machtübernahme der Hamas im Sommer 2007

· ‪stand „eine verzweifelte, chaotische und demoralisierte Fatah“ einer „gut-organisierten und aufstrebenden Hamas“ gegenüber.
· ‪hatten hochrangige Fatah-Vertreter Israel gebeten, die Hamas anzugreifen – problematisch für Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, der sowieso schon bei seinen Landsleuten unter dem Verdacht steht, Kollaborateur der Zionisten zu sein.
meinte Inlandsgeheimdienstchef Juval Diskin, die Hamas sei nicht in der Lage, die Macht im Gazastreifen zu übernehmen.
· ‪verhinderte Diskin eine Aufrüstung der Fatah durch die USA mit dem Argument, die Waffen könnten eines Tages in die Hände der Hamas fallen – was dann tatsächlich wenige Tage später geschah.
· ‪stand Gaza auf Platz vier der Bedrohungen für Israel – nach dem Iran, Syrien und der Hisbollah.

Bis zum Beginn der Operation „Gegossenes Blei“ Ende 2008 hatte Israel die Wirtschaft des Gazastreifens bewusst am Rande des Wirtschaftskollapses gehalten. Um Druck auf die Hamas auszuüben sollte sie auf so niedrigem Niveau wie möglich funktionieren, ohne eine humanitäre Krise zu verursachen – die dem Ruf Israels geschadet hätte.

Der Krieg gegen die Hamas, die so genannte „Operation Gegossenes Blei“, war mit dem ägyptischen Präsidenten Mubarak und dem palästinensischen Präsidenten Abbas koordiniert.

Der Goldstone-Bericht über Israels Vorgehen im Gazakrieg 2008/2009 hat nach Ansicht von US-Diplomaten einen schlechten Präzedenzfall geschaffen für Länder, die ihre Bürger vor Terroristen schützen wollen.

US-Firmen beschuldigen Israel, an den Grenzübergängen nach Gaza Bestechungsgelder zu verlangen.

Der Iran zahlt der Hamas monatlich 25 Millionen Dollar, so Ägyptens Geheimdienstchef Suleiman.

Und Frankreichs Präsident Nikolas Sarkozy ist überzeugt, der Status quo schadet mehr der Fatah und der PA als der Hamas.

Ägypten

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat Kairo ein Schwarzmarktangebot von Atomwaffen ausgeschlagen.

Das ägyptische Militär trainiert, als sei „Israel sein einziger Feind“. Deshalb hegen israelische Sicherheitsexperten den Verdacht, Ägypten bereite sich auf einen militärischen Konflikt mit Israel vor. Insgesamt stellen die amerikanischen Beobachter aber fest: Die ägyptische Armee ist auf dem Abstieg.

Libanon

2008 schlug der libanesische Verteidigungsminister Elias Murr den Amerikanern einen israelischen Angriff auf die Hisbollah vor und bot dafür gleich eine Liste von Angriffszielen. Auch Saudi-Arabiens Außenminister Prinz Saud al-Faisal unterbreitete einen Plan zur Vernichtung der Hisbollah.

Den Diplomaten ist klar: Die schiitische Hisbollah-Miliz arbeitet heute Hand in Hand mit der libanesischen Armee. Deshalb warnten die Amerikaner Syrien davor, der Hisbollah Scud-Raketen zu geben. Doch die Hisbollah ist – wie die Hamas im Gazastreifen – eine demokratisch gewählte Organisation. Mit ihr zu verhandeln gehört einfach zu Politik im Nahen Osten – meint Syriens Präsident Bischar al-Assad.

Syrien

· ‪glaubt, dass Israel hinter der Ermordung des syrischen Generals Mohammed Suleiman steht. Suleiman war verantwortlich für die Kontakte zur Hisbollah und für das Nuklearprogramm seines Landes und wurde am 1. August 2008 in seiner Sommerresidenz im nordsyrischen Tartus von einem Scharfschützen erschossen.
hat im Dezember 2009 ein iranisches Ersuchen abgelehnt, den Iran im Falle eines israelischen Luftangriffes zu unterstützen.
· ‪würde sich – so die Einschätzung von US-Diplomaten – für Frieden mit Israel und bessere Beziehungen mit den USA entscheiden, würde es vor die Wahl gestellt: Iran oder Israel.

Die Golfstaaten

Neun Tage lang wurde im Januar 2010 hinter verschlossenen Türen diskutiert, bis sich die Behörden in Dubai entschlossen, die Ermordung des Hamas-Waffenhändlers Mahmud al-Mabhuh zu veröffentlichen. Der Grund für die Veröffentlichung: Ein Stillschweigen hätte in der Öffentlichkeit als Parteinahme für Israel interpretiert werden können.

Qatar nutzt seinen weltweiten Nachrichtensender Al-Dschasira zu diplomatischen und Propagandazwecken. Ex-Mossad-Chef Dagan befürchtet, die Fernsehstation könnte den nächsten Nahostkrieg auslösen.

Saudi-Arabien ist – gemeinsam mit Kuweit, Qatar und den Vereinigten Arabischen Emiraten – der Hauptsponsor des weltweiten sunnitischen Terrors, das heißt konkret, von Gruppen wie Al-Qaida, Taliban und Laschkar e-Taiba.

Der saudische König Abdallah betrachtet den irakischen Premierminister Nuri al-Maliki als „Agenten des Iran“ und sagte dem iranischen Außenminister Manouchehr Mottaki ins Gesicht: „Ihr Perser habt kein Recht, euch in arabische Angelegenheiten einzumischen!“ Der Wüstenkönig aus Riad meint: „Eine Lösung des arabisch-israelischen Konflikts wäre eine große Errungenschaft, aber der Iran würde dann andere Wege finden, Unruhe zu stiften.“

Der Iran
ist das bestimmende Thema der amerikanischen Nahostpolitik. Das wird beim Blick durch Wikileaks klar.

Während des 2. Libanonkriegs im Sommer 2006 hat der Iran der Hisbollah geholfen, Anhänger als Mitarbeiter des Roten Halbmondes zu verkleiden, um Agenten und Raketen zu schmuggeln. Mitarbeiter des iranischen Roten Halbmonds müssen einen Anti-Spionage-Kurs absolvieren, bevor sie eingestellt werden. Der Rote Halbmond im Iran, so die Erkenntnis der US-Diplomaten, ist heute de facto eine Organisation der iranischen Revolutionsgarden.

Der Iran ist eine Bedrohung für die gesamte Region, nicht nur für den jüdischen Staat. „Wir haben die Wahl zwischen einer iranischen Bombe und der Entscheidung, den Iran zu bombardieren“, hatte Nicolas Sarkozy als französischer Außenminister gewarnt. Unter US-Diplomaten trägt Präsident Ahmadinedschad den Spitznamen „Hitler“. Tatsächlich ist der „Kalte Krieg“ zwischen der arabischen Welt und dem Iran weit wichtiger für die Stabilität im Nahen Osten als der arabisch-israelische Konflikt.

Kronprinz Mohammed Bin Sajed von Abu Dhabi ermahnte 2009 die USA, mit Teheran keine „Appeasement“-Politik zu betreiben [wie der britische Premier Chamberlain 1938]. Ägyptens Präsident Hosni Mubarak ist der Ansicht: „Irans Einfluss breitet sich aus wie ein Krebsgeschwür von den Golfstaaten bis nach Marokko“, und bezeichnet die Iraner als „große, fette Lügner, die ihre Lügen mit einem höheren Zweck rechtfertigen“. Wenn jordanische Diplomaten vom Iran reden, ist die meistgebrauchte Metapher die von einer „Krake, die heimtückisch ihre Arme ausstreckt, um zu manipulieren, zu schüren und die besten Pläne des Westens und der Gemäßigten in der Region zu unterminieren.“

Der saudische König Abdallah hat die USA mehrfach aufgefordert, den Iran anzugreifen, seinem Nuklearprogramm ein Ende zu bereiten und so „der Schlange den Kopf abzuschneiden“. Ähnliches forderte König Hamad von Bahrain, dessen Bevölkerung überwiegend schiitisch ist.

Hardliner im Iran verhinderten vor wenigen Monaten ein Abkommen, das einen Austausch von niedrig-angereichertem Uran des Iran gegen Reaktortreibstoff ermöglicht hätte. Doch der Iran „will gar keine Atomwaffen, weil ein Atomschlag gegen Israel viele palästinensische Opfer mit sich ziehen würde“, behauptet der syrische Präsident Bischar al-Assad.

Im Falle eines iranischen Raketenangriffs hat Israel 10 bis 12 Minuten Vorwarnzeit, glaubt Israels ehemaliger Generalstabschef Gabi Aschkenasi. Israel und die USA haben darüber beraten, wie die Amerikaner bunkerbrechende Bomben an Israel liefern können, ohne sich den Vorwurf einzuhandeln, „die US-Regierung helfe Israel bei der Vorbereitung eines Militärschlags gegen den Iran“. Der australische Geheimdienst ONA befürchtet, dass ein israelischer Angriff des Iran zu einem Atomkrieg führen könnte. Israel und die USA könnten das Regime in Teheran verändern und sollten mehr dafür tun, meint Ex-Mossad-Chef Dagan.

Die Türkei
hat dem Iran bei der Entwicklung seines Atomprogramms geholfen und Waffenschmuggel für Al-Qaida im Irak zugelassen. Gleichzeitig haben die USA im Irak kurdische Widerstandskämpfer gegen die Türkei freigelassen.

Nach Erkenntnissen von US-Diplomaten hat der türkische Premierminister Erdogan zwar wenig Ahnung von Politik jenseits von Ankara, dafür aber private Bankkonten in der Schweiz.

Offensichtlich haben die USA ein weit besseres Verständnis dafür, wo die Türkei steht und was sie will, als das in offiziellen Statements zum Ausdruck kam, in denen die USA die Türkei als „Beispiel der Demokratie und des Islam“ lobten. Insgesamt scheint US-Diplomaten klar zu sein: Die Türkei ist kein verlässlicher Partner und ihre führenden Politiker sind radikale Islamisten.

Was ist neu? Was bleibt von Wikileaks?

Jahrelang beklagten sich israelische Diplomaten: „Wenn wir nur öffentlich sagen könnten, was wir hinter geschlossenen Türen hören…“ – Jetzt kann jedermann auf dem Computerbildschirm nachlesen, was hinter geschlossenen Türen gesagt wurde. Zu bedenken ist dabei, dass es sich bei dem Schwall von Enthüllungen nicht etwa um harte Fakten handelt, sondern um Aussagen, die amerikanische Diplomaten gemacht, gehört oder berichtet haben.

„Wikileaks enthüllt den wahren Nahostkonflikt“ jubelt Ari Shavit in einem Leitartikel der linksliberalen Tageszeitung „Ha´aretz“. Aber stimmt das wirklich? – Okay, Wikileaks widerlegt die Grundvoraussetzung der Politik des amerikanischen Präsidenten Obama, dass das Palästinenserproblem der Grund für alle Unruhe im Nahen Osten und für allen anti-westlichen Terror ist. Aber, wer sehende Augen und hörende Ohren hatte, hat das schon vor Wikileaks bezweifelt, aller Obamamanie zum Trotz. Und diejenigen, die glauben, dass „die Juden“ an allem Übel dieser Welt schuld sind, sind so beratungsresistent, dass sie sich auch von 250.000 eigentlich geheimen Dokumenten auch nicht aus der Ruhe bringen lassen werden. Der Glaube derer, die der Political Correctness frönen, ist so leicht nicht zu erschüttern.

Vielleicht ist neu, dass amerikanische Diplomaten denken, der französische Staatschef Nikolas Sarkozy sei „ein unverfrorener Bewunderer Israels, aber scharf darauf, dass die Palästinenser gerecht behandelt werden“. Der Öffentlichkeit war bislang auch nicht bekannt, dass die Regierung von Bundeskanzlerin Angela Merkel – eigentlich bekannt als einer der verlässlichsten Freunde Israels weltweit – Ende 2009 von den Amerikanern verlangt hat, Netanjahu zu einem Siedlungsstopp zu zwingen. Die Deutschen schlugen vor, den Israelis mit dem Verlust der amerikanischen Unterstützung im UNO-Sicherheitsrat bei der Abstimmung über den Goldstone-Bericht zu drohen. Weniger erstaunlich dagegen ist die Enthüllung, Irland habe nach dem Zweiten Libanonkrieg im Sommer 2006 amerikanische Waffenlieferungen an Israel behindert.

Wikileaks bestätigt: Arabische Führer sagen privat anderes, als in der Öffentlichkeit. Dabei bleibt allerdings offen, was sie tatsächlich denken. Denkbar wäre ja auch, dass sie hinter vorgehaltener Hand lügen, um die Amerikaner bei Laune zu halten und über das öffentlich Gesagte hinweggehen zu lassen. Der Nahostexperte Daniel Pipes mag recht haben: „Öffentliche Verlautbarungen wiegen schwerer als private Gespräche.“ So bleibt nach Wikileaks eigentlich nur die Erkenntnis: Man kann den Nahen Osten verstehen, indem man nur öffentlich zugängliche Quellen analysiert, ganz ohne geheime Insiderinfos. Vielleicht ist das eigentlich Atemberaubende an den Enthüllungen des Julian Assange, dass wir nichts substantiell Neues über die Lage im Nahen Osten erfahren haben, das uns dazu zwingen würde, unser Gesamtbild vollständig neu zu überdenken.

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