Bei strahlendem Sonnenschein hätte die Kulisse vor der Westmauer – von Christen gemeinhin „Klagemauer“ genannt -, der goldenen Kuppel des muslimischen Felsendoms und dem traditionsüberladenen Ölberg nicht passender sein können. Zwei Mal wurde der 1,2 Tonnen schwere Koloss noch gedreht. Man diskutierte über die Ausrichtung und entschied sich dann gegen die historische West-Ost- und für die „praktischere“ Ost-West-Ausrichtung. „So können die Besucher das Stück besser betrachten“, erklärte Ephraim Shore, Direktor der „Esch HaTorah“-Talmudschule.
Michael Osanis kann seine Herkunft nicht verbergen. Mit schwerem russischem Akzent erklärt er den neugierigen Journalisten: „Ich kann nicht reden!“ Unbeholfen fuchtelt er mit den Händen. „Ich kann bauen. Wie geschrieben steht: Macht einen Tempel und ich werde in eurer Mitte wohnen!“ „Machen sollen wir den Tempel, selber Hand anlegen, Steine aus Jerusalem verwenden – nicht aus Thailand importieren“, erklärt der Mann, der 1990 aus der ehemaligen Sowjetunion nach Israel eingewandert ist. Selbst Hand angelegt hat er in diesem Falle höchst erfolgreich.
Maßstab am herodianischen Tempel orientiert
Ein Jahre lang hat Osanis an diesem bislang aufwendigsten aller Modelle des alten jüdischen Heiligtums gebaut. Das Ganze wiegt 1,2 Tonnen, hat einen Grundriss von ein mal drei Metern und ist dem Tempel, den König Herodes im ersten Jahrhundert vor Christus zu einem der sieben Weltwunder der Antike ausgebaut hat, maßstabsgetreu 1:60 nachgebaut. Bereits im Jahre 70 nach Christus wurde der herodianische Tempel aber von den Römern schon wieder zerstört. Seither betrauert das jüdische Volk den Verlust seines einst so prunkvollen geistlichen Zentrums.
Nicht ohne Stolz verkünden die neuen Besitzer, dass dies „das größte Tempelmodell“ sei, „das jemals gebaut wurde“. Michael Osanis hat sich autodidaktisch ein enormes Wissen über die Details der antiken Tempel angeeignet. Die Vorlage für sein neuestes Modell „finden Sie in der Mischna, im Traktat Middot“, erklärt der wortkarge Bastler, der sich zudem auf Ergänzungen des Jerusalemer Tempelinstituts verlassen hat. Rabbiner, die Experten in Sachen Tempelbau sind, haben ihn während der gesamten Bauzeit beraten.
Eine besondere Einzigartigkeit des „Esch HaTorah“-Modells ist, dass sich das gesamte Heiligtum durch eine hydraulische Vorrichtung anheben lässt. So kann der Betrachter einen Blick ins Innere des Heiligtums werfen. Im Allerheiligsten stehen der siebenarmige Leuchter, der Schaubrottisch, der Räucheraltar und die Bundeslade. Ein ausgeklügeltes Beleuchtungssystem vereinfacht Reiseführern die Erklärungen des Tempels und seines Gottesdienstes.
Irgendwie scheint Osanis, der nichts als Bescheidenheit ausstrahlt, fehl am Platze des protzig teuren Neubaus in der Altstadt von Jerusalem. Wie der etwas linkisch wirkende Jude zu seiner außergewöhnlichen Berufung gekommen ist, will er nicht so recht verraten: „Zufällig… Es ist nicht meine Schuld… Es überfiel mich… legte sich auf mein Herz… und hat mich seit 1995 nicht mehr losgelassen. Jeden Tag lege ich einen Stein für den Tempel. Das ist mein Beruf, den Tempel zu bauen – und wenn es einmal die Möglichkeit geben sollte, den echten Tempel zu bauen, werde ich der Erste sein – der erste Arbeiter, nicht Direktor, nicht Architekt, ich will Hand anlegen, den Stein der Ecke legen…“ Die Wortfetzen ergeben eine Vision, einen Wunschtraum, den Lebenstraum des Michael Osanis, dessen detailgetreue Tempelmodelle mittlerweile außer in Jerusalem auch in Moskau und New York zu sehen sind.
„Das Modell wurde durch die großzügige Unterstützung der R. S. Zarnegin Familie ermöglicht“, verrät eine Presseerklärung der „Jeschivat Esch HaTorah“. Wie viel die Herstellung tatsächlich gekostet hat, wollen weder der Künstler noch die Vertreter der Talmudschule verraten. Aber alle Zutaten sind „vom Feinsten“, gibt Ephraim Shore dann doch preis, „alles ist echt: Gold, Silber, Marmor, Jerusalemstein…“ Und: „Es war sehr, sehr teuer!“
Bis zum echten Tempel mit Modellen begnügen
Fast eintausend Jahre lang hat auf dem Tempelberg im Zentrum der Heiligen Stadt ein jüdischer Tempel gestanden, betont Shore, dort wo heute der muslimische Felsendom und die Al-Aksa-Moschee stehen. Hellwach erscheint die Messiaserwartung des jüdischen Volkes. Den „echten“ Tempelneubau soll der Tradition zufolge erst der erwartete Erlöser bauen. Bis dahin müssen sich gläubige Juden mit Modellen begnügen. Und dieses neueste und bislang aufwendigste Modell soll, so Ephraim Shore, „die jüdische Verbindung mit Jerusalem demonstrieren“ und vor allem verständlich machen.
Rabbi Hillel Weinberg, Leiter der Jeschivat Esch HaTorah, erklärt die aktuelle Bedeutung des Tempelmodells auf dem Dach vor dem Tempelberg: „Der Prophet lehrt uns, dass Gebete von Juden – und Nichtjuden! -, die ihr Herz auf dieses Heiligtum hin ausrichten, Wohlgefallen beim Allmächtigen finden.“ „Bis zum heutigen Tag war es schwierig, sich das Heiligtum im Gebet vorzustellen“, erklärt der bärtige Geistliche mit dem großen, schwarzen Hut: „Doch jetzt, wo wir dieses Modell haben, fällt es viel leichter, unsere Gebete in Richtung auf das Allerheiligste auszurichten.“ Das kurze Grußwort des Rabbiners nimmt fließend Gebetsform an: „Und wir hoffen, dass alle Juden durch das Heiligtum beten können, dass der Tempel gebaut werden möge, schnell in unseren Tagen, Amen und Amen!“
„Eindruck von der Heiligkeit des Ortes vermitteln“
Auf 300.000 Besucher pro Jahr hofft Ephraim Shore, wenn am 1. Dezember 2009 diese Attraktion auf den Dächern Jerusalems der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden soll. Der orthodoxe Israeli mit dem amerikanischen Akzent wünscht sich, dass „Juden, Christen und Muslime“ aus aller Welt „einen Eindruck von der Heiligkeit, Spiritualität und Schönheit dieses Ortes bekommen“ – und vor allem die Verbindung des jüdischen Volkes zu diesem Berg erkennen.
Shore ist einer der Direktoren des Hauptquartiers der internationalen Talmudschule „Esch HaTorah“, die 1974 von dem inzwischen verstorbenen Rabbi Noah Weinberg gegründet wurde. Die Bildungseinrichtung, deren Name übersetzt „Torahfeuer“ bedeutet, hat sich zum Ziel gesetzt, jüdische Menschen dahingehend zu beeinflussen, dass sie „stolz auf das Judentum und Israel“ sein können. Über 31 Zweigstellen weltweit versucht „Esch HaTorah“ zu vermitteln, was es bedeutet, Jude zu sein, und warum das wichtig ist. Nach Shores Angaben beteiligen sich jährlich 100.000 Menschen an den Studienprogrammen von „Esch HaTorah“, von denen mehrere Tausend jedes Jahr zu Studienaufenthalten nach Israel kommen. Die Internetauftritte www.aish.com und www.aish.co.il verzeichnen mehr als drei Millionen Zugriffe monatlich.