JERUSALEM (inn) – Vor mehr als 30 Jahren wurde ihr Sohn Nachschon von der Hamas entführt und bei einem Befreiungsversuch erschossen. Am Montag ist Esther Wachsman mit 76 Jahren in Jerusalem gestorben. Sie hatte sich seinerzeit für die Freilassung eines der Mörder ihres Sohnes ausgesprochen, damit der Soldat Gilad Schalit freikommen konnte.
Esther Wachsman wurde 1947 in einem Lager für „Displaced Persons“ (DPs) in Deutschland geboren. Wie die anderen Bewohner waren ihre Eltern Überlebende der Schoa, fast ihre gesamte Familie war ausgelöscht worden. Nur Esthers ältere Schwester hatte die Verfolgung bei einer katholischen Familie überdauert. 1950 wanderten sie zu viert in die USA aus, wo sie im New Yorker Stadtteil Brooklyn ein neues Leben begannen.
Doch Esther zog es 1969 nach Jerusalem. An der Hebräischen Universität schloss sie ihr Geschichtsstudium ab. Als sie ihren späteren Ehemann Jehuda Wachsman kennenlernte, stand der Entschluss für die Alija endgültig fest.
„Ich würde Teil der Geschichte unseres alt-neuen Heimatlandes sein“, schrieb sie später auf der jüdischen Website „Aish“. „Ich würde nach 2.000 Jahren Exil stolze, unabhängige, gläubige jüdische Kinder in ihrem Heimatland aufziehen. Ich konnte nicht länger für die ‚Rückkehr nach Zion‘ und den ‚Wiederaufbau von Jerusalem‘ beten, wenn ich wusste, dass ich ein Flugticket von der Erfüllung dieser Gebete entfernt war.“
Name von Pessach inspiriert
Esther und Jehuda heirateten 1970. Sie bekamen sieben Söhne, die beiden Jüngsten sind Zwillinge. Nachschon war das dritte Kind. Er kam am letzten Tag von Pessach auf die Welt, das Fest erinnert an die Befreiung der Israeliten aus ägyptischer Sklaverei in biblischer Zeit.
Nach der jüdischen Überlieferung war Nachschon, der Sohn Aminadavs, der Erste, der den Schritt in das von Gott geteilte Schilfmeer wagte. „Dabei drückte er völligen Glauben an Gott und Sein Versprechen aus, dass das Wasser zu trockenem Land werden würde“, schrieb Esther Wachsman. „Alle Kinder Israels folgten ihm.“
Nach dieser biblischen Gestalt ist auch die „Operation Nachschon“ benannt. Bewaffnete Araber lauerten 1948, kurz vor der israelischen Staatsgründung, an der Straße von Tel Aviv nach Jerusalem Juden auf. Die Versorgungslage wurde kritisch. Zur Pessachzeit gelang es den jüdischen Untergrundkämpfern mit der Operation, die Belagerung zu durchbrechen. „Der Name verkörperte alle unsere Vorstellungen – Glauben an Gott und Liebe zu unserem Volk und unserem Land.“
Weiter heißt es in dem autobiographischen Beitrag: „Meine Kinder wuchsen heran, besuchten Jeschivot und dienten gleichzeitig ihrem Land. Stolz trugen sie die Uniform der jüdischen Armee. Wie stolz ich war – die jüdische Einwanderin aus Brooklyn, eine Mutter von israelischen Soldaten!“
Nicht von Armeekurs zurückgekehrt
Nachschon war 19 Jahre alt, als er während des Wehrdienstes übers Wochenende seine Eltern besuchte – am Freitag, dem 7. Oktober 1994. Am Samstagabend erhielt er einen Anruf von der Armee: Er solle von Jerusalem nach Nordisrael kommen, um mit einem anderen Soldaten in einem eintägigen Kurs die Bedienung eines besonderen Militärfahrzeuges zu erlernen.
Nachschon brach sofort auf, wollte am nächsten Abend zurückkehren. Doch die Eltern warteten vergeblich auf ihn. Ein Kamerad teilte mit, sie hätten ihn nach dem Kurs an der Bnei-Atarot-Kreuzung südöstlich von Tel Aviv aussteigen lassen. Dort habe er, wie viele Soldaten es zu tun pflegten, einen Bus oder eine Mitfahrgelegenheit nach Jerusalem nehmen wollen.
Die Armee nahm die Besorgnis der Eltern zunächst nicht ernst. Sie vermutete, dass er die Gelegenheit für einen Ausflug ins südisraelische Eilat genutzt habe – und fragte dort die Unterkünfte ab.
Forderung der Hamas in Video geäußert
Doch am Dienstag kontaktierte das israelische Fernsehen die Familie. Die Redaktion habe ein Video von einem „Reuters“-Fotografen erhalten. Es zeige den Sohn als Geisel von Hamas-Terroristen. Die Mitarbeiter wollten direkt zu den Wachsmans nach Hause kommen und ihnen das Video zeigen, bevor die gesamte Nation und die Welt es zu sehen bekämen.
Nachschon wurde darin eine Waffe an die Schläfe gehalten. Er sagte: „Die Hamas hat mich entführt, sie wollen ihre Häftlinge freibekommen. Wenn nicht, werden sie mich töten. Ich bitte Sie, zu tun, was Sie können, um mich lebend hier herauszubekommen.“ An die Eltern gerichtet, fügte er hinzu: „Ich hoffe, zu euch zurückzukehren.“
Die Hamas forderte die Freilassung ihres geistlichen Oberhauptes Scheich Ahmad Jassin und 200 weiterer Sicherheitshäftlinge. Wenn Israel die Forderung nicht erfülle, werde die Hamas die Geisel am Freitag um 20 Uhr töten.
Appell an Politiker und Aufruf zum Gebet
Esther Wachsman setzte daraufhin alle Hebel in Bewegung. Sie appellierte an den damaligen israelischen Regierungschef Jizchak Rabin – und wegen der amerikanischen Staatsbürgerschaft auch an US-Präsident Bill Clinton. Dieser entsandte Außenminister Warren Christopher, der sich gerade in der Region aufhielt, und den Jerusalemer Konsul Ed Abbington nach Gaza – dort wurde die Geisel vermutet.
Die beiden Amerikaner überbrachten Botschaften von Palästinenserführer Jasser Arafat. Der Fatah-Chef versicherte der Familie telefonisch, er werde jeden Stein umdrehen, um ihren Sohn ausfindig zu machen und wohlbehalten zurückzubringen. Muslimische Religionsführer forderten die Entführer in den Medien auf, ihm nichts anzutun.
Zudem rief die bangende Mutter Juden in aller Welt zum Gebet für Nachman auf. Jüdinnen sollten für ihn eine zusätzliche Schabbat-Kerze entzünden. Nach eigenen Angaben erhielt sie nach der gescheiterten Befreiungsaktion etwa 30.000 Briefe. Viele Frauen erzählten, sie hätten bis dahin am Freitagabend keine Kerzen entzündet, es aber diesmal getan.
Am Donnerstagabend kamen etwa 100.000 Menschen zu einer Gebetswache an die Jerusalemer Klagemauer. „Es gab unter uns völlige Einheit und Solidarität bezüglich des Ziels“, erinnerte sich Esther Wachsman auf „Aish“. „Religiöse und Säkulare, Linke und Rechte, Sepharden und Aschkenasen, Alte und Junge, Reiche und Arme – ein beispielloser Vorgang in unserer traurigerweise aufgesplitterten Gesellschaft.“ Gleichzeitig sei in vielen Synagogen und auch in Kirchen gebetet worden.
Entführer gaben sich als Juden aus
Nachschon indes befand sich nicht in Gaza, sondern nur etwa zehn Kilometer vom Haus seiner Familie entfernt in der Ortschaft Bir Naballah, nördlich von Jerusalem. Das erfuhr der Inlandsgeheimdienst Schabak, nachdem der Fahrer der Entführer gefasst war.
Wie er erzählte, hatten die Terroristen sich als Siedler ausgegeben: Sie trugen Kippot, auf dem Armaturenbrett lagen Bibel und Siddur (jüdisches Gebetbuch). Chassidische Musik ertönte aus dem Kassettengerät. Der junge Soldat hegte keinen Verdacht und ging in die Falle.
Rabin ordnete derweil eine Militäraktion an, um ihn zu retten. In der Abenddämmerung stürmte eine Spezialeinheit das Gebäude. Einer der Entführer schoss daraufhin sieben Kugeln auf die Geisel ab.
Alle anwesenden Entführer kamen bei der Aktion zu Tode. Auch der Kommandeur der Einheit, Nir Poras, wurde bei dem Befreiungsversuch getötet. Er hatte seinen Wehrdienst zwar bereits abgeschlossen und stand vor dem Studium. Aber er kehrte zurück, um seine Einheit zu befehligen. Sein Vater war 1973 als Pilot der Luftwaffe im Jom-Kippur-Krieg gefallen.
„Der Vater im Himmel hat unsere Gebete gehört“
Rabin übernahm die Verantwortung für die gescheiterte Operation. Nachschon Wachsman wurde am Samstagabend, eine Woche nach der letzten Begegnung mit seiner Familie, beigesetzt. Auch zur Beerdigung kamen Israelis aus allen Schichten der Bevölkerung, wie bereits zur Gebetswache.
„Mein Mann bat Nachschons Jeschiva-Leiter, Rabbi Mordechai Elon, der die Trauerrede hielt, er solle bitte all unseren Leuten erzählen, dass Gott unsere Gebete gehört hatte und alle unsere Tränen einsammelte.“ Der Rabbiner sollte allen sagen: Ein Vater wolle gern alle Bitten seiner Kinder mit „ja“ beantworten. Doch müsse er manchmal „nein“ sagen, auch wenn das Kind den Grund nicht verstehe. „So hat unser Vater im Himmel unsere Gebete gehört, und obwohl wir den Grund nicht verstanden, war Seine Antwort ‚nein‘.“
Anlässlich des 30. Jahrestages erzählte Hesi Wachsman, ein Bruder der getöteten Geisel, Rabin habe der Familie persönlich mitgeteilt, dass er die Forderung der Hamas nicht erfüllen werde: „Rabin kam zu uns nach Hause, umarmte uns, weinte mit uns, aber sagte uns direkt ins Gesicht: ‚Es tut mir leid, ich gebe nicht dem Terror nach.‘ Wir nahmen es sehr schwer … Aber tief innen konnten wir es verstehen.“
„Nachmans Mörder für Schalit freilassen“
Am 26. Juni 2005 wurde der 19-jährige Soldat Gilad Schalit bei einem Überfall der Hamas auf einen Militärstützpunkt in den Gazastreifen verschleppt. Nachschons Eltern solidarisierten sich mit seiner Familie, die sich um eine Freilassung der Geisel bemühte.
Esther Wachsman wandte sich 2008 direkt an Premierminister Ehud Olmert. Sie forderte ihn auf, einer Freilassung des Terroristen Dschihad Jaghmur zuzustimmen. Er gehörte zu den Drahtziehern der Entführung ihres Sohnes.
Im Fernsehsender „Kanal 2“ schilderte sie ihr Gespräch mit Olmert. Sie habe ihm erzählt, dass sie nachts nicht schlafen könne. Und dass sie als Mutter spreche, nicht als objektive Bürgerin. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, zu wissen, wie schlimm die Dinge für den eigenen Sohn stehen, und das 900 Tage lang. Als ich sah, was Gilad Schalit passierte, war ich eigentlich froh, dass meine tragische Geschichte damals schnell endete.“
Die Mutter fügte hinzu: „Wenn Gilad dadurch nach Hause kommt, gebt ihm den Mörder meines Sohnes. Ich verzichte auf den Mörder meines Sohnes. Mein Nachschon wird mir vergeben.“ Auch wenn sie Schwierigkeiten damit hätte, wenn der Mörder ihres Sohnes frei herumliefe, wolle sie nicht, dass die Familie Schalit noch einen Tag länger leiden müsse.
Netanjahu willigte ein
Olmerts Nachfolger Benjamin Netanjahu willigte dann in den Schalit-Deal ein. Im Oktober 2011 kamen im Austausch gegen den Soldaten 1.027 palästinensische Häftlinge frei. Jaghmur war einer von ihnen. Als Jehuda Wachsman 2020 starb, kam Gilad Schalit zur Beerdigung.
Zu den Drahtziehern der Entführung gehörte auch Mohammed Deif, der spätere Hamas-Militärchef. Mit Jahja Sinwar und anderen plante er das Massaker vom 7. Oktober 2023. Im Juli wurde er bei einem israelischen Luftschlag getötet.
Nachschons Bruder: Schalit-Deal führte zum 7. Oktober
Esther Wachsman unterrichtete 28 Jahre lang Englisch. Weil sie ein Kind mit Down-Syndrom bekam, engagierte sie sich zudem bei der Organisation „Schalva“. Diese unterstützt Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Am Montag wurde sie in Jerusalem beigesetzt.
Zu den Geiseln, die bei dem Terrorangriff auf Südisrael verschleppt worden, hatte sie sich nicht in den Medien geäußert. Ihr Sohn Hesi sagte im Oktober 2024 der Zeitung „Ma’ariv“, er könne den Schmerz der Familien der Geiseln nachfühlen. Aber er sei unsicher, ob es richtig sei, die Gefangenen „um jeden Preis“ zurückzuholen.
„Wir haben gesehen, was beim Schalit-Deal geschah, der zur Katastrophe des 7. Oktober führte“, begründete Hesi Wachsman seine Haltung. Denn auch Sinwar war einer der Terroristen, die 2011 freikamen. (eh)
3 Antworten
Ach, es ist so ein Elend!
Geht Israel auf die Forderungen der Geiselnehmer ein, wächst daraus neuer Terror und weitere tote Israelis, tut es das nicht, gibt es das anhaltende leid in den Familien und wenn die Geiseln sterben, ist man dafür mit verantwortlich oder wird es gemacht.
Wer verurteilt konsequent die Gewalt der Geiselnehmer? Stellt diese und ihre Unterstützer an den Pranger, anstatt insgeheim „Freiheitskampf“ zu denken?
Wer ist da, der das Unrecht laut als solches benennt?
Herr, bitte erbarme dich!
Und bitte beschütze die verbliebenen Geiseln, führe sie in die Freiheit und segne Israel, auf dass es heile!
Premier Rabin lehnte seinerzeit einen Austausch ab. Rabin hatte Recht. Mit Terroristen darf man nicht verhandeln.
Esther Wachsman, eine wahrhaft starke Frau und Mutter, für den Mörder ihres Sohnes die Freiheit zu erbitten. Mein Beileid für ihre Familie.
Es zieht sich durch Jahrzehnte. Immer wieder verlangt Hamas doppelte und dreifache Zahlen an Strafgefangenen von Israel für einen einzigen Israeli. Rabin war hart geblieben. Die meisten Angehörigen der Geiseln von heute würden das nicht akzeptieren. Und so ist Nethanjahu der Schuldige für die, die sterben und der Schuldige, für entlassene Mörder. Er kann es niemandem recht machen und der Terror hört so auch nicht auf.
Ich stimme in das Gebet von Flügelpfeil mit ein!