Heiß und staubig ist es in Rahat, der mit etwa 70.000 Einwohnern größten Beduinenstadt in Israel. Sie liegt nördlich von Be’er Scheva am Rande der Negev-Wüste. Auf dem Wochenmarkt türmen sich Kochtöpfe, Früchte und Paletten mit Cola-Dosen, viel Müll liegt herum. Die Frauen, die hier einkaufen, sind verschleiert, während auf Postern und in Schaufenstern westlich gekleidete Models präsentiert werden.
Frauen haben es in der beduinischen Gesellschaft schwer, berichtet die Sozialarbeiterin Hanan al-Krenawi, deren Büro über einem Geschäft für Brautmode liegt. Sie ist die Beauftragte der beduinischen Stadt für Frauen und gefährdete Jugendliche, bei verschiedenen Projekten arbeitet Al-Krenawi auch mit dem Sozialministerium zusammen. Durchschnittlich 5,8 Kinder bringt eine beduinische Mutter zur Welt. Für Frauen gibt es in den Familien meist ein separates, an die Küche angegliedertes Wohnzimmer, da sie sich entsprechend der Traditionen Fremden nicht zeigen sollten. Obwohl in den Großfamilien auch Geschwister, Cousins oder Großeltern auf die Kinder achten könnten, ist es nicht üblich, dass Frauen Karriere machen.
Al-Krenawi ist Muslima, empfängt westliche Journalisten aber ohne Kopfbedeckung. Ihr Büro ist eine Agentur, um über Fortbildung und Beratung einer in der Regel nicht erwerbstätigen Bevölkerung den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erschließen. „Beduinische Frauen sind nicht sehr mobil“, erklärt sie, schon der Besuch einer Schule im Nachbardorf oder die Arbeit in einer Firma ein paar Ortschaften entfernt ist für viele ein Ding der Unmöglichkeit. Das ist besonders ungünstig, denn obwohl Rahat 1974 am Reißbrett geplant wurde, hat die Stadt praktisch keine Beschäftigungsinfrastruktur. Es gibt also kaum Arbeit. Die Beraterinnen bieten deswegen beispielsweise einen Kurs zur Reparatur von Handys an: „So können sich Frauen ein kleines Geschäft aufbauen, und von zuhause aus arbeiten.“
Israel finanziert solche Fortbildungen, soziale Leistungen hingegen wurden in den vergangenen Jahren gekürzt und reichen nicht, um eine große Familie zu versorgen. Der Staat ist vor allem bei der Schulbildung bemüht, beduinische Frauen zu fördern. So gibt es bewusst keine Schulen, bei denen nach Geschlechtern getrennt unterrichtet wird; zudem besteht Schulpflicht. Und die beduinische Gesellschaft wird moderner, wenn auch nur langsam: Manch junge Familie entscheidet sich für weniger Kinder und lebt nicht mehr im großen Familienverband auf dem Grundstück des Familienoberhauptes, sondern in weiter entfernten Mietwohnungen.
Frauen kämpfen gegen Konventionen
Beduinische Männer, die an Elite-Universitäten im Ausland studieren, sind keine Seltenheit, weiß Antje C. Naujoks. Die aus Deutschland stammende Politologin lebt seit 30 Jahren in Israel und ist unter Beduinen gut vernetzt. Für die Ambivalenz dieses Trends berichtet sie von einer jungen Beduinin, die ihr Abitur in Israel mit Bestnote abschloss, und dann in Europa Medizin studieren wollte. Ihr Vater wollte es ihr ermöglichen, das entscheidende Veto aber kam von ihrem älteren Bruder. Er beeinflusste den Vater, das Studium im Ausland nicht zu gestatten – und das, obwohl er selbst im europäischen Ausland studiert hatte. „Zu der Familie gehören 7.500 Menschen, die über das Mädchen gerichtet hätten, wäre sie dennoch alleine zum Studium ins Ausland gegangen“, erklärt Naujoks den sozialen Druck. „Es sind häufig an Krimis anmutende Dramen, die sich in solchen Fällen für junge Frauen abspielen“, sagt sie. „Einige setzen sich dennoch durch, wie eine junge Frau, die als eine der ersten Frauen Rahats nicht nur im Ausland studiert hat, sondern auch noch einen deutschen Ehemann mit nach Hause brachte. Viele haben aber nicht die Kraft, gegen die Konventionen anzukämpfen, obwohl sie ein enormes Potenzial mitbringen.“
Solche Geschichten zeigen auch die Trostlosigkeit, die in der beduinischen Gesellschaft zu überwiegen scheint. Naujoks spricht von einer Opfermentalität, die sich durch die jahrzehntelange Abhängigkeit von staatlichen Leistungen, aber auch durch die historischen Entwicklungen verbreitet hat. Bei der Staatsgründung 1948 lebten in Israel rund 95 Beduinenstämme, 80 Prozent von ihnen flohen in die Anrainerstaaten oder wurden dorthin vertrieben. 11.000 Beduinen verblieben im Land, heute sind es, je nach schätzender Instanz, 170.000 bis 240.000 Personen. Außerdem gibt es auch Beduinen im Gazastreifen und im Westjordanland.
Warum jedes Jahr viele Beduinen ertrinken
In Rahat sind 68 Prozent der Bevölkerung jünger als 21 Jahre, doch es gibt kein Schwimmbad, kein Kino und keine Kulturzentren. Es stehen kaum Sportplätze zur Verfügung, es existiert nur ein einziges Restaurant der gehobenen Klasse. In Be’er Scheva wäre all das vorhanden, aber anders als Europäer ziehen es Beduinen vor, in der Nähe ihrer Großfamilien und des jeweiligen Stammes zu bleiben. Ein konstruktives, förderliches Miteinander und die Entfaltung individueller Persönlichkeiten wird durch mangelnde Freizeitangebote schwierig. Das Fehlen von Schwimmbädern – die beduinische Stadt Hura lehnte einen solchen Bau mit Verweis auf islamische Sitten und auch Querelen mit Rahat vor dem Hintergrund von Stammesrivalitäten ab – führt zu einem weiteren tragischen Aspekt: 20 Prozent all derer, die in israelischen Gewässern ertrinken, sind Beduinen. Die Badeunfälle passieren, weil beduinische Kinder nur im seltensten Falle schwimmen lernen, aber als Jugendliche Ausflüge zum Strand unternehmen und ihre Fähigkeiten überschätzen. Die Dokumentation „Back and Forth“, ein Film von vier beduinischen Regisseuren über ihre eigene Lebenswelt, hat dies bereits 2010 auf die Agenda gehoben.
Beduinen sind arabische Muslime, und so gibt es in Rahat wenigstens eines reichlich: Moscheen für jedes Viertel. „Das ist Teil unseres Wertesystems und unserer Kultur“, erklärt Al-Krenawi. Aber warum bauen die Beduinen in Rahat keinen Fußballplatz, kein Theater oder Freizeitzentrum? „Die Leute nehmen die Umstände als gegeben hin und haben sich damit abgefunden“, sagt die Sozialarbeiterin.
Vom Besuch in Rahat bleibt der Eindruck, dass es Hoffnung gibt – auf leisen Sohlen und mit kleinen Schritten. Al-Krenawi berichtet stolz, dass im vergangenen Jahr 35 Krankenschwestern die Ausbildung beendet und auch Anstellungen angenommen haben, meist in Krankenhäusern der Umgebung. In ein paar Jahrzehnten könnte es normal sein, dass Frauen arbeiten und am öffentlichen Leben teilhaben dürfen. Vielleicht gehen in dieser Zeit noch mehr beduinische Familien den Weg in die Moderne: Väter und Mütter, Söhne und Töchter. (mb)