Vor einigen Jahren entschloss sich der evangelische Theologe und Judaist Michael Krupp, seine bemerkenswerte Ossuarien-Sammlung nicht in den Kunsthandel zu bringen. Er wollte sie vielmehr dem Evangelischen Zentrum in Jerusalem zur Verfügung zu stellen. Zuvor hatte seine Sammlung in einer Höhle in Ein Kerem gelagert, einem kleinen Ort bei Jerusalem und Geburtsort von Johannes dem Täufer.
Krupps Knochenkästen ergänzen die traditionelle Sammlung des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes (DEI) und die Bestände der Himmelfahrtkirche. Sie sind ästhetische Dokumente einer besonderen jüdischen Bestattungsform zur Zeit des zweiten Tempels.
Um diesem umfangreichen Schatz ein ständiges Zuhause zu geben, wurde der Bibliotheksraum der Himmelfahrtkirche, gelegen auf dem Auguste-Victoria-Gelände, für die kostbaren Stücke ausgeräumt und zu einem Ausstellungsraum umgestaltet. Glas-Vitrinen schützen die empfindlichen Ossuarien, kleine Spot-Lampen setzten jeden Knochenkasten wirkungsvoll ins Licht.
Das jüdische Gebot des ossilegium gebietet das Einsammeln der Knochen eines Verstorbenen, nachdem das Fleisch verwest ist. Ossilegium setzt sich aus os, für „Knochen“, und lego, für „sammeln“, zusammen. Fachleute bezeichnen Knochenkästen als Ossuarien. Auch im Begriff Ossuar begegnet uns der Knochen wieder. Die frühesten Belege solcher Bestattungskästen stammen aus dem Chalkolithikum (circa 7.000 Jahre vor der Zeitrechnung). Sie wurden im Mittelmeerraum entdeckt.
In Diaspora-Gemeinden nicht üblich
Ossuarien gehören zu den Besonderheiten Jerusalems und seiner näheren Umgebung, denn diese sekundäre Bestattungsform finden wir nicht in Diaspora-Gemeinden. Nicht nur örtlich, sondern auch zeitlich war sie begrenzt: von circa 20 vor der Zeitrechnung bis zur Zerstörung des Zweiten Tempels durch die Römer im Jahr 70 der Zeitrechnung, somit auf einen Zeitraum von nur 90 Jahren.
Nach der Zerstörung des zweiten jüdischen Tempels durch die Römer als Vergeltungsakt auf die Revolte gegen ihre Besatzung treffen wir die länglichen Knochenkästen auch weit über Jerusalems Stadtgrenze an: in Jericho, in der Schephelah, dem Tiefland zwischen den Judäischen Bergen und der Küste, sowie in Galiläa.
Wahrscheinlich haben jüdische Flüchtlinge aus Jerusalem ihren Brauch der sekundären Bestattung an diese Orte gebracht, denn die aufgefundenen Ossuarien in diesen Landesteilen stammen aus dem Zeitraum vom 1. bis zum 4. Jahrhundert nach der Zeitrechnung. Einige jüdische schriftliche Quellen berichten vom Brauch des „Knochensammelns“.
Beschneidung geht vor
Die Tosefta ist ein Sammelwerk der mündlichen Überlieferung und Tradition aus rabbinischer Zeit – das aramäische Wort tosefta bedeutet „hinzufügen“, „ergänzen“. Sie ergänzt die Mischna (hebräisch für „Wiederholung“) und ist ein Hauptsammelwerk der mündlichen Torah. In der Tosefta Megilla 3,15 lesen wir:
Es sagte Rabbi Leasar Bar-Rabbi Zadok: So pflegten die Gesellschaften in Jerusalem zu verfahren: Einige für Festgelage, einige für Trauerfeiern, einige für Verlobungsfeiern, einige für die Beschneidung und einige für die Sammlung der Knochen. Bei Beschneidung und Sammlung der Knochen – die Beschneidung geht der Sammlung der Knochen vor. Die Beschneidung geht der Knochensammlung voraus, denn sie ist an einen festen Termin gebunden, nämlich acht Tage nach der Geburt.
In abgewandelter Form begegnet uns das „Sammeln der Knochen“ auch in Semachot 12,5 wieder, dem Traktat über das Trauern bei Todesfällen. Die Kapitel 12 und 13 sind ausschließlich dem ossilegium gewidmet. In Halacha 1 des 12. Kapitels wird festgehalten, dass der Tag des ossilegium nicht mit dem Begräbnistag vergleichbar ist, da nur der Tag selbst Trauertag ist, nicht aber die folgenden Tage und somit nicht die sieben Tage der Trauer, die Schiva, und Schloschim, die 30 Tage Trauerzeit, einzuhalten sind.
In Halacha 3 heißt es über die Kria, das Einreißen der Kleidung: Wenn immer die Kleider für jemanden bei seinem Tod eingerissen wurden, so sind die Kleider auch bei dem ossilegium einzureißen. Immer, wenn das Einreßsen der Kleider bei einem Toten nicht ausgebessert werden darf, dann darf dies auch nicht bei einem ossilegium geschehen.
Genaue Anweisungen
Halacha 6 gibt genaue Anweisungen: Die Knochen eines Leichnams dürfen nicht auseinandergenommen und die Sehnen nicht abgetrennt werden. Die Knochen müssen von alleine auseinanderfallen und die Sehnen müssen sich von alleine gelöst haben. Jeder darf die Knochen aller Toten sammeln, aber nicht die des Vaters und der Mutter – Rabbi Jochanan Ben Nuri. Letzterem wird dann in der Folge allerdings widersprochen, da das Einsammeln der Knochen eine Ehrung für die Toten ist.
In Halacha 8 lesen wir, das Ossilegium von zwei Leichnamen soll nicht in derselben Zeit geschehen, es sei denn, man sammelt die Knochen des einen Leichnams am Ende eines Leinentuchs und die Knochen des anderen am anderen Ende. Rabbi Akba äußerte sich folgendermaßen: Im Laufe der Zeit verrottet das Tuch und die Knochen werden durcheinanderkommen. Es ist besser, sie zu sammeln und sie in Behälter zu tun.
Auch im Jerusalemer Talmud finden wir Passagen über das ossilegium. Ossuar und ossilegium gehören zusammen, müssen aber unterschieden werden, denn das ossilegium gab es bereits vor dem Aufkommen von Ossuarien. In den Grabkammern aus der Zeit des Ersten Tempels finden sich größere Vertiefungen, so auch in vielen Grabkammern der Zeiten Tempel Periode.
War das Fleisch des Verstorbenen verwest, wurden seine Knochen, vermutlich in schlichte Tücher eingehüllt und hineingebettet. Archäologische Funde lassen den Rückschluss zu, dass in diesen Grabkammern der Brauch aufkam, die Knochen der Verstorbenen separat in besondere Kästen, die Ossuarien aus Stein, zu legen.
Aufmerksame Besucher können auf einem Streifzug um Jerusalem Knochenkästen entdecken, wie etwa auf dem Gelände der Kirche Dominus Flevit, sie liegt auf dem Ölberg, sowie an weiteren Stellen außerhalb der Altstadtmauer.
Debatten über Gründe des Brauches
Viele kontroverse Debatten wurden über die Gründe dieser Bestattungsform geführt. Einige versuchen es mit dem Erstarken des Glaubens an die Auferstehung im Judentum, besonders unter den Pharisäern, zu erklären. Grabfunde in den 1970er Jahren von der Familie des Kaiphas sowie weiteren hohepriesterlichen Familien, die den Sadduzäern angehörten, widerlegen diese Interpretation.
Eine mögliche Erklärung könnte die zunehmende Individualisierung der Toten sein. Denn eingeritzte Inschriften und Namensnennungen auf den Ossuarien dokumentieren das Gedenken an die Toten.
Die Ausstellung umfasst 33 Knochenkästen. Mit Ausnahme von einem Ossuar sind alle aus weichem Kalkstein hergestellt. Es wird vermutet, dass sie aus dem Material gefertigt sind, das bei der Aushebung der Grabkammern herausgeschaufelt wurde.
Alle Ossuarien in der Sammlung haben einen Deckel, die meisten von ihnen sind flach. Eine Schlangenlinie oder ein „X“ zeigen an, wenn der Deckel nur in einer Richtung gut schließt. Kein unwesentliches Detail, schließlich musste gewährleistet werden, dass das Ossuar dicht abschließt. Einige Deckel haben die Form eines Giebeldachs und erinnern an ein Haus.
Oft Rosetten als Zierelement
Die Größe eines Ossuars richtet sich nach dem längsten Knochen des Verstorbenen, meist dem Oberschenkelknochen. Alle Ossuarien weisen eine Kastenform auf. In vielen Fällen sind noch immer deutlich die Meißelarbeiten zu erkennen. Zur Verzierung dienten zwei Techniken. Zirkel und Lineal gaben gewisse Linien vor, die auf einer eingefärbten Seite eingeritzt oder eingekerbt wurden. An manchen Exponaten finden sich beide Techniken, die durch die freie Ausmalung verschiedener Teile der Ossuarien ergänzt werden.
Die sechs-blättrige Rosette ist das dominierende Motiv, mitunter auch zwölf-blättrig. Meist sind zwei Rosetten auf der Vorderseite des Knochenkasten, vereinzelt aber auch drei oder sogar mehr.
Das Symbol der Rosette auf jüdischen Knochenkästen wirft Fragen auf. Steht sie für die Unendlichkeit, in die sich der Tote nun begibt? Oder hat sie rein dekorativen Charakter? Wir wissen es nicht. Einige Fragen können nicht abschließend beantwortet werden. Rosetten begegnen uns in vielen Kulturen.
Neben geometrischen Figuren und Halbkreisen schmücken Darstellungen von Lilien und Blattzweigen viele Ossuarien der Sammlung. In einem Fall ist es auch eine frei gezeichnete Palme.
Die eingekerbten Inschriften geben Aufschluss über die am häufigsten gebrauchten Namen zu Jesu Zeiten sowie zur Schriftentwicklung in einer Zeit, aus der wir nur wenige schriftliche Dokumente haben. Namen wie Johannes, die griechische Form von Jehochanan, dokumentieren, wie präsent neutestamentliche Figuren in ihrer jüdischen Umgebung verwurzelt waren.
6 Antworten
„Die frühesten Belege solcher Bestattungskästen stammen aus dem Chalkolithikum (circa 7.000 Jahre vor der Zeitrechnung).“
Das kann nicht sein. So alt ist die Welt doch noch garnicht.
Den Kalauer habe ich auch schon mal versucht. Er wurde entweder nicht verstanden ( meist von Deutschen) oder dezent ignoriert (meist von Iraelis)
Das sagen Kreationisten, aber ich denke die Welt ist ca. 4,3 Milliarden Jahre alt ist, auch wenn es jetzt einen großen Aufschrei in der Community geben wird.
Lieber Harry
Bist Du Dir da sicher?
Nach meinem Dafürhalten gemäss der Bibel glaube ich schon, dass die Erde bereits so lange existiert.
Ich lese hier etwas über Begräbnissitten. Wenn man hier eine Diskusion über biblisches und wissenschaftliches Erdalter provoziern will, find ich das sehr pietätlos.
Pietätlos ist eher, die Totenruhe zu stören, indem die Kästen ausgegraben und ausgestellt wurden.