In einem kleinen Studienzentrum in einem Gebäude an der Ben-Jehuda-Straße in Jerusalem haben sich am Sonntagabend 30 Menschen versammelt. Sie sitzen an festlich gedeckten Tischen und unterhalten sich lebhaft. Viele der Gäste leben zwar schon länger hier, doch nicht alle sprechen Hebräisch. Eine junge Frau fragt am Tisch: „Was bedeutet dieses ‚TU‘?“ Ihre Sitznachbarin antwortet vage: „Das ist sicher ein biblischer Ausdruck. Mein Bibelhebräisch ist nicht so gut.“
Eine dritte Frau klärt auf: „TU sind Zahlenwerte, sie bezeichnen den neunten und sechsten Buchstaben im hebräischen Alphabet. Um nicht Jod und Heh schreiben zu müssen – das wären die Zahlen 10 und 5 und würde dem Gottesnamen JHWH entsprechen -, wird dieser Tag im jüdischen Kalender aus 9 und 6 zusammengesetzt – also der 15. des Monats Schvat.“ Die Frauen schauen ehrfürchtig.
An einem erhöhten Tisch sitzt Jeremiah Michael mit seiner Mutter Tikvah. Sie und ihr Mann Boas haben das messianische „Bram-Zentrum“ vor mehr als zehn Jahren gegründet. Benannt ist es nach dem messianisch-jüdischen Pionier Abram (Bram) Poljak. Es will Juden, die aus dem Ausland kommen und an Jesus glauben, helfen, ihren Glauben im Lichte jüdischer Traditionen besser zu verstehen.
Wie auf den anderen Tischen stehen auch vor Mutter und Sohn jeweils vier Weingläser und Teller, die die „Früchte des Landes“ enthalten. Außerdem liegt eine „Haggada“ neben jedem Teller, die, wie zum Pessachabend, die Anwesenden durch den Abend leitet. Auf dem Titel ist ein Baum abgebildet, der in abstrakter Form die vier Jahreszeiten darstellt.
Jeremiah erklärt: „TU BiSchvat ist das Neujahrsfest der Bäume. Es ist die Möglichkeit, nach einem langen Winter für das neu entstehende Leben zu danken.“ Jeremiah erklärt die vier Bäume mit Jesaja 43. Die Verse 5-7 lauten: „So fürchte dich nun nicht, denn ich bin bei dir. Ich will vom Osten deine Kinder bringen und dich vom Westen her sammeln, ich will sagen zum Norden: Gib her!, und zum Süden: Halte nicht zurück! Bring her meine Söhne von ferne und meine Töchter vom Ende der Erde, alle, die mit meinem Namen genannt sind, die ich zu meiner Ehre geschaffen und zubereitet und gemacht habe.“
Segen, die sieben Früchte und das gute Land
In Anlehnung an die Pessach-Haggada, die am ersten Abend des Pessachfestes gelesen wird, liest Jeremiah die Fragen vor, die alle Teilnehmer mitlesen: „Warum sagen wir in dieser Nacht so viele Segensprüche?“ Tikvah antwortet mit Psalm 24,1: „Die Erde ist des HERRN und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen.“ Weiter liest sie: „Wenn wir gedankenlos von Gott empfangen und ihm nicht danksagen, ist es, als würden wir stehlen“ Aus dem Neuen Testament ergänzt sie aus 1. Timotheus 4: „Denn alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird; denn es wird geheiligt durch das Wort Gottes und Gebet.“
Jeremiah fragt weiter: „Warum essen wir in dieser Nacht von den sieben Früchten, die so besonders für das Land Israel stehen?“ Seine Mutter antwortet mit den Worten aus 5. Mose 1,25: „Weil wir uns in dieser Nacht an die Taten unserer Vorväter erinnern, die ‚nahmen von den Früchten des Landes mit sich und brachten sie herab zu uns und berichteten uns und sprachen: Das Land ist gut, das der HERR, unser Gott, uns gegeben hat‘.“
Tikvah ruft mit dem Text der Haggada auf: „Lasst uns erinnern an das gute Land, das unser Herr unseren Vorvätern als Erbe versprochen hat. In unserer Zeit hat der Allmächtige seine Güte gezeigt, indem er seinen Bund mit Israel gehalten hat. Er hat die trostlosen Orte wiederbelebt und bringt sein Volk Israel zurück in seine versprochene Heimat.“
Vier mal Wein für Jahreszeiten und Früchte
Jeremiah zeigt auf die vor ihm stehenden Weingläser. Das erste Glas enthält Weißwein, das zweite Glas Weißwein mit einigen Tropfen Rotwein, das dritte Glas enthält halb Weiß- und halb Rotwein und das vierte Glas Rotwein. Gemäß der Haggada fragt Jeremiah: „Warum mischen wir in dieser Nacht roten und weißen Wein miteinander?“
Tikvah antwortet mit Daniel 5,9 und Sacharja 7,14: „Wir haben gesündigt, Unrecht getan, sind gottlos gewesen und abtrünnig geworden; wir sind von deinen Geboten und Rechten abgewichen. Darum habe ich sie zerstreut unter alle Völker, die sie nicht kannten, und das Land blieb verwüstet hinter ihnen liegen, sodass niemand mehr darin hin und her zog; so haben sie das liebliche Land zur Wüste gemacht. Die Verwandlung des Weins zeigt die Verwandlung des Landes Israel von einer trostlosen und unfruchtbaren Einöde in ein blühendes und produktives Heimatland. Das lehrt uns, dass für den Herrn nichts unmöglich ist. Er ist ewig mächtig. Er erweckt die Toten zum Leben und ihm ist es vollkommen möglich, zu retten.“
Gemäß der Haggada stehen die Weingläser für die vier Jahreszeiten: Das erste Glas Wein symbolisiert den Winter und das Jesaja-Verbalsubstantiv „Machen“. Dazu werden Früchte mit einer harten äußeren Schale gegessen, wie etwa Granatäpfel, Walnüsse, Mandeln und Orangen. Das zweite Glas Wein steht für den Frühling und das Jesaja-Wort „Zubereitung“. Dazu werden Früchte mit einem harten, nicht essbaren Kern gegessen, wie etwa Oliven, Datteln, Aprikosen, Pfirsiche oder Kirschen.
Das dritte Glas Wein symbolisiert den Sommer und das Jesaja-Wort „Schöpfung“. Dazu werden Früchte gegessen, die komplett essbar sind, wie Trauben, Feigen oder Blaubeeren. Das vierte Glas Wein steht für das Jesaja-Wort „Ruf/Berufung“ und für den Herbst. Dazu werden keine Früchte gegessen, aber Gewürze gerochen, wie zum Beispiel Nelken, Basilikum oder Lorbeerblätter.
Der zionistische Aspekt
Die gefüllten Weingläser sollen aber gleichzeitig auch den zionistischen Aspekt symbolisieren. In der Haggada ist erklärt, dass das erste Glas den Winter und damit die jahrhundertelange Öde in Israel darstellt, „von der Zeit der Apostel unseres Herrn bis zur Mitte des 18. Jahrhundert, als Zions Kinder begannen, zurückzukehren“. In dieser Zeit habe Mark Twain geschrieben, dass Israel „ein trostloses Land ist, dessen Boden reich genug ist, aber ganz dem Unkraut preisgegeben ist, eine stille traurige Weite, eine Öde. Wir sahen auf dem ganzen Weg keinen Menschen, kaum einen Baum oder Strauch. Sogar der Olivenbaum und der Kaktus, diese Freunde eines wertlosen Bodens, hatten das Land fast verlassen.“
Jeremiah erklärt die Bedeutung des Wortes „Machen“: „Wir wissen, dass Gott immer einen Plan für sein Volk Israel und das Land hatte. Für Jahrhunderte schien dieses Wort ungültig, doch Gott hat es niemals vergessen.“
Das zweite Glas mit einzelnen Tropfen roten Weins im weißen symbolisiert die Zeichen des neuen Lebens, das im Frühling sichtbar wird. Es steht für die „Zubereitung“ und dafür, dass nach einer Zeit der Ruhe und Leere die Wiederbelebung der Nation Israel stattfindet. Tikvah zitiert den israelischen Politiker Abba Eban: „Der Wechsel von Freude und Angst war für Juden während des ganzen Jahres 1948 unaufhörlich. Die Angst kam von Nachrichten vom Schlachtfeld. Die Freude kam von den Symbolen und der Palette der Staatlichkeit, die plötzlich einer ungläubigen jüdischen Welt gegenüberstanden. Die Worte ‚Staat Israel‘ rollten uns um die Lippen wie bezaubernder Nektar – ein Geschmack, den Juden über 19 Jahrhunderte nicht kannten.“
Zur Bedeutung der Oliven zitiert Jeremiah den jüdischen Gelehrten Rabbiner Jochanan aus dem 2. Jahrhundert vor Christus: „Israel wird mit der Olive vergleichen, um uns zu zeigen, dass die Olive ihr Öl erst gibt, wenn sie zerquetscht wird. Auch das jüdische Volk kehrt nicht um zu Gott, ohne dass es durch Leid zerquetscht wird.“
Israels Kampf ums Überleben
Ein drittes Glas verdeutlicht die anhaltende Anstrengung, mit der Israel jeden Tag um sein Überleben kämpft. „Seit der Zeit seiner Unabhängigkeit hat Israel verschiedene bedeutende Kriege und Herausforderungen erlebt“, berichtet die Haggada. „Ständig erlebt es Schöpfung, Neuschöpfung, Pflege und Wachstum.“
Tikvah zitiert den britischen Historiker Martin Gilbert: „Nach seiner Unabhängigkeit war Israels Hauptstadt Jerusalem für 19 Jahre getrennt. Die komplette Altstadt, inklusive des Jüdischen Viertels mit seinen alten Synagogen und der Westmauer stand unter jordanischer Besatzung. Israelis hatten keinen Zugang zu ihren heiligen Städten, wie zum Beispiel der Klagemauer. Es war ihnen auch nicht gestattet, den Friedhof am Ölberg zu besuchen oder sich begraben zu lassen. Nach dem Sechs-Ttage-Krieg 1967 wurde Jerusalem unter israelischer Regierung wieder vereinigt. Das Jüdische Viertel und die Altstadt mussten neu aufgebaut werden. Doch im Moment der Feierlichkeiten, als Rabbiner Goren das Schofar der Erlösung blies, spürten die Israelis, dass ihr Staat vervollständigt war.“
Jeremiah erinnert: „Während wir das dritte Glas trinken, lasst uns der ständigen Erneuerung gedenken, die Israel täglich durchläuft. Das dritte Glas macht uns bewusst, wie Israel kontinuierlich wächst, und angesichts vieler Herausforderungen seinen Wohlstand begründet.“
Das vierte Glas Wein soll die Zeit der letzten Ernte verkünden, die Wiederherstellung Israels sowie die Erlösung der Welt durch den Messias. Tikvah zitiert das Jesajawort aus 1. Korinther 2,9: „Kein Auge hat gesehen und kein Ohr hat gehört und in keines Menschen Herz ist gekommen, was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben.“
Jeremia hergänzt: „Während wir trinken, drücken wir unsere Sehnsucht nach der Wiederkunft des Messias aus und die Errichtung der messianischen Zeit. Wir sehnen uns nach der Zeit, wenn SCHALOM die überkommt, die Krieg führen und sich Sicherheit manifestieren wird. Unsere Hoffnung verwandelt sich in Erwartung, wenn wir die Auswirkungen des ersten Aufblühens unserer Erlösung betrachten: Das Aufblühen der Nation im Land Israel, mit dem wir uns heute Abend auf sehr reale Weise verbinden.“
Erinnerung an die Treue Gottes
Tikvah Michael schätzt, dass den Seder-Abend nach ihrer Haggada in den vergangenen Jahren bereits 10.000 Leute begangen haben. „Es ist uns ein Anliegen, den Völkern dieses Fest näher zu bringen. Wir wollen darauf aufmerksam machen, wie die Prophetien Wirklichkeit werden und der Staat Israel vor unseren Augen immer weiter wächst.“ Ihre Augen leuchten, als sie sagt: „Wir wollen Menschen zeigen, dass Gott treu ist und seinen Bund zu seinem Volk hält.“
Als sie von den Teilnehmern für ihre gründliche Ausarbeitung der Haggada Lob bekommt, sagt sie bescheiden: „Eigentlich besteht die Haggada lediglich aus Bibelversen und Zitaten aus der jüdischen Geschichte und von anerkannten Gelehrten. Ich habe die Texte nur zusammengeschrieben.“ In Anlehnung an den alten Pessach-Gruß, endet auch die messianische TU BiSchvat-Haggada mit dem Wunsch „Nächstes Jahr im aufgebauten Jerusalem!“ Freudig stimmen die Teilnehmer in diesen Gruß ein. (mh)