„Es begann am Schabbat, dem 16. Februar 2013, als uns plötzlich die Armee mitteilte, dass man uns sieben Schwerverletzte bringt“, erinnert sich Krankenhausdirektor Oscar Embon an die ersten Bürgerkriegsopfer und fügt hinzu: „Aus Syrien“. Das Staunen darüber klingt mehr als ein Jahr später noch immer in seiner Stimme mit. Der Klinik sei nicht bekannt gewesen, dass überhaupt Verletzte gebracht werden sollten. „Sodann sind sieben Schwerverletzte auf einmal eine besondere Belastung. Außerdem war am Schabbat nur das notwendigste Personal anwesend. Und jeder einzelne der Verwundeten brauchte Untersuchungen, Behandlung und so weiter. Aber wir sind damit zurechtgekommen.“
Embon selbst fuhr infolge des Anrufes in das Krankenhaus nördlich des Sees Genezareth, obwohl er gerade mit seiner Familie den Schabbat feierte – die Kinder waren aus dem Landeszentrum zu Besuch gekommen. „Von den sieben Syrern waren sechs schwer verwundet und einer lebensgefährlich.“ Letztendlich wurden alle nach erfolgreicher Behandlung nach Hause entlassen, der lebensgefährlich Verletzte blieb länger in der Klinik als seine Mitpatienten. „Aber auch er hat es schließlich geschafft.“
Nach einigen Wochen kamen die nächsten Syrer, später wurden die Abstände kürzer. Mittlerweile hat das Siv-Krankenhaus mehr als 320 Patienten aus dem nordöstlichen Nachbarland aufgenommen, insgesamt kamen mehr als 900 Syrer an die israelische Grenze. Die meisten waren verwundet. Es gab aber auch schon Schwangere oder Herzinfarktpatienten.
Patienten an der Grenze
Im syrisch-israelischen Grenzgebiet hat es sich herumgesprochen, dass Israel Bedürftigen hilft. Eine Frau sagte den Israelis nach ihrer Ankunft: „Ich wusste, dass ihr uns Syrer behandeln würdet. Also habe ich beschlossen, hierher zu kommen und nicht nach Jordanien zu gehen, weil ich weiß, dass die medizinische Versorgung hier besser ist.“
An der Grenze öffnen Soldaten das Tor und führen eine erste Untersuchung durch. Etwa die Hälfte der Syrer wird ambulant durch Militärsanitäter versorgt und sofort wieder zurückgeschickt. Das Feldlazarett, das Israel für solche Patienten errichtet hat, ist je nach Bedarf im Einsatz. Krankenwagen bringen die schweren Fälle in die Kliniken – nach Zefat, aber auch nach Haifa oder Naharija an der Mittelmeerküste.
Verletzungen und Ängste
Das Militär kümmert sich auch darum, dass die Syrer nach der Behandlung wohlbehalten in ihr Heimatland zurückkehren: „Wenn wir entscheiden, dass der Verletzte entlassen werden kann, teilen wir das der Armee mit“, schildert Embon das Verfahren. „Sie kommen mit einem Krankenwagen und nehmen sie mit. Bisher hat man alle Patienten nach Syrien zurückgebracht. Keiner wollte bei uns bleiben.“ Manchmal wollten die ehemaligen Patienten die Grenze wegen schwerer Kämpfe nicht sofort nach der Entlassung überqueren. Dann fänden sie vorübergehend Unterschlupf auf dem Militärgelände unmittelbar an der Grenze.
Bei ihrer Ankunft aus Syrien sind die Patienten verängstigt. „Wir sind uns dessen bewusst, dass sie ein schweres Trauma durchgemacht haben, nicht nur körperlich, sondern auch seelisch. Ein Teil von ihnen hat Angehörige oder Freunde sterben sehen“, sagt Embon. „Heute haben wir das nötige Personal, um diese Arbeit zu leisten. An dessen Spitze steht ein Arabisch sprechender Sozialarbeiter, der sich bemüht, die Patienten im Traumazimmer zu empfangen und ihnen zu erklären, was wir vorhaben.“
Sozialarbeiter Fares erläutert: „Viele haben ein dreifaches Trauma erlitten: den Krieg, ihre Verletzung und die Reise in ein feindliches Land.“ Wie schafft er es, den Syrern ihre Furcht zu nehmen? – Indem er ihnen in ihrer Muttersprache erklärt, welche Verletzungen sie haben und welche Untersuchungen und Behandlungen auf sie zukommen. Durch die Informationen über ihren Körper erhalten die Patienten die Kontrolle über die Situation. Außerdem vermitteln ihnen die Israelis: „Wir wollen euch nichts Böses tun.“ Bereits nach ein bis zwei Tagen verlieren die Syrer ihre Angst.
Spender finanzieren Prothesen
In einem Krankenzimmer sitzen zwei junge Frauen mit Kopftüchern auf ihren Betten und essen. Wenn ich nicht wüsste, dass es Syrerinnen sind, würde ich sie für israelische Araberinnen halten. Sie wirken entspannt, lächeln mich freundlich an und genießen offensichtlich ihr Mittagessen. Krankenschwester Ala übersetzt meine hebräischen Fragen.
Eine der Patientinnen ist 26 Jahre alt und stammt aus der Grenzstadt Kuneitra auf den Golanhöhen. Am rechten Bein trägt sie einen Verband. Sie hat Verletzungen durch Splitter erlitten, als ihr Haus getroffen wurde. Als sie vor einer Woche nach Israel kam, habe auch sie sich anfangs gefürchtet. Doch nach der Operation und der guten Behandlung habe sie sich beruhigt. Auf die Frage, wie es in Israel ist, antwortet sie: „Außergewöhnlich!“ Sie hat Sehnsucht nach ihrer Familie in Syrien. Wann sie wieder nach Hause zurückkehren kann, weiß sie nicht.
Sozialarbeiter Fares ist bei der täglichen Visite dabei. Er fragt die Patienten nach ihren Wünschen. Wenn die nötigen Spenden vorhanden sind, besorgt er ihnen Kleidung, Seife, Süßigkeiten, Cola, aber auch Bücher oder eine Uhr. Sein „privates Projekt“, wie er es nennt, sind die Prothesen. Das Siv-Krankenhaus entlässt keinen Patienten, der dessen bedarf, ohne Rollstuhl oder Prothese sowie die entsprechende Anleitung und das Training.
Der Sozialarbeiter erzählt von einem vierjährigen Mädchen, das am Bein amputiert worden war und davon träumte, wieder laufen zu können. In der Region fand er Spender für die Prothese mit Zubehör. Die kleine Patientin lernte wieder laufen. Als Folge kehrte ihr Lächeln zurück, und sie konnte über ihre Gefühle sprechen. Etwa 17 Prozent der Syrer, die an die Grenze kommen, sind minderjährig. Die Armee sorgt dafür, dass ein Verwandter sie ins Krankenhaus begleiten kann. Mitunter sind diese Familienmitglieder ebenfalls verwundet.
Regelmäßig besuchen Mitarbeiter des Internationalen Roten Kreuzes die nordisraelische Klinik. „Sie kommen und überprüfen uns, befragen die Patienten unter vier Augen“, sagt der Direktor. Hingegen hat die Hilfsorganisation aufgrund der Kriegssituation keine Möglichkeit, zu den Angehörigen in Syrien zu gelangen. Spenden für die Patienten kommen mittlerweile aus aller Welt. Embon reicht mir einen Briefumschlag aus Leipzig. „Als ich ihn öffnete, fiel mir als Erstes ein 100-Dollar-Schein entgegen“, erzählt er. In dem Umschlag war außerdem ein Artikel aus der „Süddeutschen Zeitung“ über die Syrer im Siv-Krankenhaus mit ein paar handschriftlichen englischen Anmerkungen. Da bedankte sich der deutsche Spender für den Dienst der Israelis und bat darum, das Geld syrischen Patienten zugute kommen zu lassen.
Maßnahmen zum Schutz der Patienten
Die Behörden in Syrien dürfen nicht erfahren, dass sich ihre Bürger im feindlichen Israel aufgehalten haben. Deshalb bemühen sich Militär und medizinische Vertreter um deren Schutz. Bislang sind im Siv-Krankenhaus vier syrische Kinder auf die Welt gekommen. „Wir stellen dann keine Geburtsurkunde aus“, legt Embon auf Nachfrage dar. „Wir schreiben einen Brief auf Englisch, dass das Kind geboren wurde.“
Medien dürfen keine Bilder veröffentlichen, auf denen Patienten zu erkennen sind. Anfangs war die Armee sehr unsicher, wie sie mit Journalisten umgehen sollte. An jenem ersten Schabbat versammelten sich zahlreiche Reporter vor dem Krankenhaus. Soldaten und Offiziere forderten den Direktor auf, sie nicht hereinzulassen. Doch dieser widersprach: „Ich muss nach draußen gehen und ihnen etwas sagen.“ Nach Verhandlungen hätten die Offiziere eingelenkt. „Damals war es sehr kalt draußen. Man ließ die Journalisten in die Lobby. Dort konnte ich eine kurze Erklärung abgeben.“
Der Klinikleiter ergänzt: „Wir haben Druck ausgeübt. Unser Argument war: Wir machen eine gute humanitäre Arbeit. Israel erscheint in den Medien oft so: Ein Soldat quält ein Kind am Checkpoint … – Kommen Sie, sehen Sie jetzt: Ein Soldat rettet einen Verwundeten, und die Syrer werden behandelt.“ Es sei nicht leicht gewesen, die Verantwortlichen in der Armee zu überzeugen. Mittlerweile ist der Umgang mit den Medien für die Mitarbeiter des Siv-Krankenhauses allerdings zur Routine geworden.
Bislang hatten zwei Patienten arabische Briefe von syrischen Ärzten bei sich, die ihre israelischen Kollegen über die Art der Verletzung und die bisherige Behandlung informierten. Einer der Mediziner hatte sogar mit seinem vollständigen Namen unterschrieben – „das war gefährlich, weil man ihn identifizieren konnte“. Direkter Kontakt mit syrischen Ärzten ist nicht möglich. Hingegen hat die Klinik mit einem Krankenhaus in Jordanien kommuniziert. „Da ging es um einen bestimmten Jungen, dessen Wunde nicht verheilte. Er hatte eine genetische Krankheit, die das verursachte.“
Der Unterschied zwischen Sterben und Leben
Kann Embon sich vorstellen, dass die ehemaligen Patienten irgendwann offen bekennen werden, dass sie in Israel gut behandelt wurden? – „Ich bin überzeugt, dass sie es vor allem bei sich selbst denken werden. Innerhalb der Familie werden sie es sagen. Aber es ist sehr schwer für jemanden, der in einer demokratischen Herrschaftsform wohnt, zu wissen, was in einer Diktatur oder einem Bürgerkrieg vor sich geht. Ich weiß, dass es dort viele Ängste und viele Befürchtungen gibt. Das hat einen Verwundeten so sehr beeindruckt, dass er tatsächlich dem Roten Kreuz gesagt hat: ‚Erzählen Sie meiner Familie nicht, dass ich hier bin.’ Er befürchtete, dass seinen Angehörigen etwas zustoßen würde. Die Furcht um die Sicherheit der Familie hat sogar verhindert, dass diese erfuhr, dass er am Leben ist und dass er sich in Behandlung befindet.“
Der Direktor weist darauf hin, dass das Krankenhaus während des Zweiten Libanonkrieges im Sommer 2006 auch Libanesen behandelt hat. Heute sei im Internet die Geschichte einer Frau aus dem Libanon zu finden, die in den USA lebt. Sie erzähle von ihren guten Erfahrungen in Israel – nachdem man ihr immer eingeschärft habe: „Die Juden sind Feinde!“
Am 22. Juni kam ein 13-jähriger Araber aus Galiläa an der syrisch-israelischen Grenze in den Golanhöhen durch ein Geschoss aus Syrien ums Leben. Sein Vater wurde verwundet. Die israelische Armee sprach von einem gezielten Angriff auf ein Zivilfahrzeug. Am Umgang des Siv-Krankenhauses mit den Syrern hat dieser Vorfall nichts verändert, betont Kliniksprecher Gil Maor. Fast täglich erschienen neue Patienten aus dem arabischen Nachbarland.
Das galiläische Krankenhaus hofft nicht primär auf politischen Gewinn. Menschlichkeit und der Grundsatz, jeden Hilfesuchenden zu behandeln, sind nach Embons Aussage die erste Motivation für das Krankenhauspersonal, den Syrern zu helfen. „Wir dürfen nicht vergessen: Dort tobt ein Bürgerkrieg. Hunderttausende Menschen sind gestorben. Millionen sind Flüchtlinge. Natürlich ist unser Beitrag nur ein Tropfen im Meer. Aber für den Menschen ist es schlicht der Unterschied zwischen Sterben und Leben. Wir bringen Menschen wieder nach Hause. Und vielleicht werden sie ja einmal erzählen: ‚Ich war in Israel, und man war gut zu uns.’ Möglich wäre es …“
Von: Elisabeth Hausen