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Menschenrechte und Islam

Sind Islam und Menschenrechte miteinander vereinbar? In vielen Ländern mit überwiegend muslimischer Bevölkerung ist es mit den Menschenrechten nicht zum Besten bestellt. Die Verfassungen der arabischen Länder berufen sich vielfach ausdrücklich auf die Scharia als wesentliche oder sogar einzige Quelle der Gesetzgebung – die dann in der Praxis meist nur im Zivilrecht gilt. Ist die Berufung auf das Schariarecht die Ursache für fehlende Freiheitsrechte?
Im Gazastreifen fordern Araber 2007 von ihrer Regierung eine Anerkennung als Palästinenser, einen Pass und Reisefreiheit.

Einschränkungen der Presse- und Religionsfreiheit oder der Freiheit zur unabhängigen politischen Meinungsbildung sind in zahlreichen dieser Länder an der Tagesordnung. Echte demokratische Verhältnisse sind bisher ungeachtet der arabischen Revolutionen in keinem arabischen Staat gegeben. Andererseits wird dort heute intensiver als je zuvor über die Menschenrechtsthematik debattiert, und nicht nur das: Zahlreiche, weltanschaulich unterschiedlich geprägte Gruppierungen und Einzelpersonen setzen sich engagiert für eine Erweiterung der Menschenrechte ein. Die unterschiedliche weltanschauliche Ausrichtung und Zielrichtung dieser Gruppierungen war allerdings mit dafür verantwortlich, dass sich Menschen- und Freiheitskämpfer in Ägypten bei den zurückliegenden Wahlen gegen die seit 85 Jahren bestens organisierte Muslimbruderschaft nicht durchsetzen konnten.
Wenn sich so viele Menschen in arabischen Staaten mehr Freiheitsrechte wünschen und mutig dafür kämpfen, woran liegt es dann, dass dort die Menschenrechte solch ein Schattendasein führen? Sind dafür politische und gesellschaftliche Fehlentwicklungen verantwortlich oder hat dieser Umstand auch mit dem Thema „Islam“ zu tun?
Bevor diese Frage beantwortet werden kann, muss zunächst geklärt werden, was unter dem Begriff der „Menschenrechte“ jeweils verstanden wird: Während westliche Vorstellungen der Menschenrechte inhaltlich von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 geprägt sind, geben im islamisch geprägten Kulturkreis Erklärungen wie etwa die „Kairoer Erklärung der Menschenrechte“ den Ton an. Die Kairoer Erklärung wurde am 4. August 1990 von 45 Außenministern der insgesamt 57 Mitgliedsstaaten der „Organisation für Islamische Zusammenarbeit“ (OIC) verabschiedet. Die OIC, am 25. September 1969 in Rabat gegründet, erklärt darin die Scharia zur einzigen Grundlage für die Gewährung von Menschenrechten. Die Erklärung erläutert in ihren insgesamt 25 Artikeln Frauen-, Minderheiten- und Menschenrechte, die allerdings nur insofern gewährt werden sollen, wie sie mit der Scharia in Übereinstimmung stehen (Art. 25): Es heißt dort etwa, dass die Frau „dem Mann an Würde gleich“ ist (Art. 6) – offensichtlich nicht aber an Rechten. Auch das Recht auf Leben steht in Artikel 2a unter Schariavorbehalt: „es ist verboten, einem anderen das Leben zu nehmen, außer wenn die Scharia es verlangt“ – was etwa bei Ehebruch oder Apostasie der Fall ist.
Problematisch ist die Absolutsetzung des Schariarechts für jeden Lebensbereich, die fehlende Konkretisierung der eingeräumten Rechte, die einseitig islamrechtlichen Begründungen der Menschenrechte, sowie das Schweigen zu Themen wie volle Religionsfreiheit oder Gleichberechtigung von Muslimen und Nicht-Muslimen.
Das bedeutet nun keineswegs, dass alle Muslime diese Sichtweise teilen würden. Abweichend von der oben genannten orthodoxen Sichtweise kann eine Vielzahl von kritischen Stimmen ausgemacht werden, sei das von Gruppierungen wie Frauen- und Menschenrechtsorganisationen (wie etwa der Arabischen Organisation für Menschenrechte oder der Ägyptischen Organisation für Menschenrechte) oder auch von Einzelpersonen wie Juristen, Intellektuellen, Schriftstellern oder Journalisten. Sie treten für eine prinzipielle Neuorientierung in der Menschenrechts- und Demokratiedebatte ein. Diese Stimmen werden häufig als „Liberale“ oder „Reformer“ bezeichnet. Im Zuge der arabischen Revolutionen traten einige von ihnen auch offen als „säkulare“ Kräfte hervor und forderten vehement eine Verfassung, die auf humanistisch-säkularen Werten fuße sowie eine Trennung von Staat und Religion.

Was hindert die Entwicklung der Menschenrechte?

Einige Vorkämpfer der Menschenrechte im arabischen Raum vertreten die Auffassung, der Islam sei mit Menschenrechten vereinbar – etwa die iranische Friedensnobelpreisträgerin und Juristin Shirin Ebadi (geb. 1947). Menschenrechtsfeindliche Regierungen markieren für Ebadi zwar Rückständigkeit und Unterdrückung, aber dem Islam könnten sie ihrer Auffassung nach ebenso wenig zur Last gelegt werden wie die Unterdrückung der Frauen. Ähnlich argumentiert der zeitgenössische iranische Theologe, Reformer und Verfechter von Demokratie, Menschenrechten und Meinungsfreiheit, Mohammed Shabestari (geb. 1936).
Andere Reformer sind der Auffassung, der Islam sei, so wie er sich heute als religiöses, gesellschaftliches und politisches System darstellt, grundsätzlich nicht mit Menschenrechten und Demokratie vereinbar. Zu ihnen gehört Mahmud Muhammad Taha (geb. 1909 oder 1911), der Gründer der Republikanischen Bruderschaft im Sudan. Aus seiner Sicht kann der Islam nur dann Frieden, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Demokratie und Freiheit bringen, wenn er lediglich eine Nachahmung des mekkanischen (unpolitischen) Frühislam der Jahre 610 bis 622 nach Christus ist, also mehr ethisches System. Wenn sich die Praxis des Islam jedoch an der medinensischen (politischen) zweiten Lebensepoche Muhammads 622 bis 632 nach Christus orientiere, sei dies nicht friedensfähig.
Allerdings haben die Verfechter solcher Ansätze insgesamt wenig Einfluss und Anhänger. Wer derartige moderate Auffassungen offensiv vertritt, erleidet häufig Diskriminierung und Verfolgung, ein Verbot seiner Schriften oder sogar den Tod. Leider hat sich das in den Ländern der arabischen Revolutionen noch nicht grundlegend geändert. Auch von neuen Regimen, die unter dem Anspruch angetreten waren, Freiheit zu verwirklichen, wurden bereits vielfach Blogger, Demonstranten, Künstler, Frauen und Andersdenkende verhaftet, misshandelt, inhaftiert und schikaniert.

Wie können die Menschenrechte in arabischen Ländern mehr Raum gewinnen?

Bislang wird die Scharia als Kompendium von Geboten aus der Zeit des 7. bis 10. Jahrhunderts nach Christus der Arabischen Halbinsel von der etablierten Theologie als unaufgebbares Gottesgesetz gelehrt. Muhammad gilt als nicht hinterfragbares zeitloses Vorbild, nicht nur in religiösen Belangen, sondern auch in seiner Funktion als Gesetzgeber und Heerführer. Solange sich das nicht ändert, werden Meinungs- und politische Freiheiten, Gleichheitsrechte von Frauen und Männern, Muslimen und Nicht-Muslimen, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Gewissens- wie Religionsfreiheit in islamisch geprägten Ländern nicht gedeihen können.
Gewiss ist die Schaffung vieler Arbeits- und Ausbildungsplätze nötig, der Aufbau eines funktionierenden Bildungssystems, Investitionen und Rechtssicherheit. All dies setzt jedoch eine weltanschauliche Begründung voraus, beziehungsweise einen ideengeschichtlichen Überbau, mit dem sich die Mehrheit der Bevölkerung identifizieren kann.
Kommt es zu einer weiteren Verschlechterung der Lebensbedingungen einer breiten Bevölkerungsmehrheit, kann der Islamismus durchaus weiter an Boden gewinnen. Den Menschen dieser Region sind vermehrte Freiheitsrechte und wirtschaftliche Entwicklungen dringend zu wünschen – aber sie sind abhängig von einer grundsätzlichen Begründung der Freiheitsrechte.
So lange eine möglichst getreue Nachahmung der arabischen Gesellschaft des 7. Jahrhunderts nach Christus etwa von der in Ägypten regierenden Muslimbruderschaft als gleichbedeutend betrachtet wird mit Gerechtigkeit, Fortschritt und wahrer Zivilisation, ist eine kritische Auseinandersetzung mit den Ansprüchen des Schariarechts nicht zu erwarten. Es bleibt zu hoffen, dass sich auch die offizielle Theologie einer historisch-kritischen Betrachtung der Scharia in absehbarer Zeit zu öffnen beginnt.

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