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Mehr Normalität wagen

Vor 50 Jahren reiste erstmals ein amtierender Bundeskanzler nach Israel. Willy Brandt trat selbstbewusst auf – und geriet sich mit Golda Meir in die Haare.
Von Sandro Serafin

Als Willy Brandt 1969 die Führung der Bundesregierung übernahm, lautete sein Motto: „Mehr Demokratie wagen“. Mit einem ähnlichen Schlagwort lässt sich die Außenpolitik der ersten sozialliberalen Koalition beschreiben: „Mehr Normalität wagen“ – vor allem im Umgang mit dem Ostblock und der DDR („Neue Ostpolitik“). Symbolischer Höhepunkt der außenpolitischen Normalisierung war die doppelte Aufnahme beider deutscher Staaten in die Vereinten Nationen im September 1973.

Weiter normalisieren wollte Brandt aber auch die westdeutsch-israelischen Beziehungen. Bereits 1970 hatte der Kanzler bei einem Kabinettsgespräch gewissermaßen als Richtlinie festgelegt, dass Bonns Nahost-Politik „ausgewogen“ sein solle. Gegenüber dem jüdischen Staat solle man „eine Politik ohne Komplexe“ betreiben, meinte er. Später sprach der Kanzler von „normalen Beziehungen mit besonderem Charakter“.

Erster Kanzlerbesuch in Israel

Symbolisiert fand sich die voranschreitende Normalisierung in Brandts Israel-Besuch zwischen dem 7. und 11. Juni 1973, in dieser Woche vor 50 Jahren: Zum ersten Mal überhaupt setzte ein deutscher Regierungschef in dieser Funktion „nach Auschwitz“ seinen Fuß auf israelischen Boden. Konrad Adenauers Israel-Besuch 1966 etwa hatte stattgefunden, nachdem „der Alte“ sein Amt längst aufgegeben hatte.

Foto: Moshe Milner/GPO
Protest gegen Willy Brandt vor dem Flughafen in Lod

Am Flughafen in Lod wurde Brandt mit allen Ehren empfangen: Premierministerin Golda Meir, die den Kanzler eingeladen hatte, begrüßte ihn persönlich, die Armee spielte beide Nationalhymnen. Dabei wurde es dem einen oder anderen Israeli schon etwas komisch: Die „Jerusalem Post“ registrierte seinerzeit aufmerksam, dass am Flugzeug des Kanzlers das Eiserne Kreuz zu sehen gewesen sei, und wies ihre Leser darauf hin, dass die Nationalhymne dem Ton von „Deutschland über alles“ folge. Das Radio unterbrach seine Liveübertragung in diesem Moment, um keine Hörer zu verärgern.

Israelis uneinig

Doch einig waren sich die Israelis nicht darin, was sie von dem Besuch halten sollten. Ende Mai merkte ein Leser der „Jerusalem Post“ in einem Leserbrief bissig an, seine Landsleute nähmen Milliarden Mark an Entschädigungen aus Deutschland, auf den Straßen rollten zehntausende deutsche Autos – „einschließlich Hitlers Liebling, der Volkswagen“. „Aber wenn ein Mann, der sein Land wegen der Nazis ins Exil verlassen hat, nach Israel kommt, planen manche Menschen eine Demonstration.“

Tatsächlich wurde Brandt während des Besuchs immer wieder mit Protesten konfrontiert. Schon am Flughafen versammelten sich einige Israelis mit Plakaten. Auf diesen war unter anderem zu lesen, Brandt sei gegen die Nazis gewesen, „aber er repräsentiert das Volk, das 6 Millionen ermordet hat“. Später, bei einem Besuch in der Jerusalemer Altstadt, flog dem Kanzler sogar ein Ei um die Ohren. Insgesamt aber befürworteten laut einer Umfrage der „Jerusalem Post“ zwei von drei Israelis den Besuch.

Gnade und Vergebung

Während des Israel-Aufenthalts, der neben offiziellen Terminen auch eher private Stationen wie einen Besuch im Kibbutz Ginossar am See Genezareth und einen Abstecher nach Masada umfasste, trat der Kanzler durchaus selbstbewusst auf. So betonte er, dass 30 Jahre nach der Scho’ah „neue selbstbewusste Generationen“ heranwüchsen. Natürlich brach Brandt nicht grundsätzlich mit der historischen Verantwortung: Sein erstes Ziel nach der Landung war die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, wo er einen Kranz niederlegte.

Foto: Chanania Hermann/GPO
Ambivalente Geschichtspolitik: Willy Brandt legt einen Kranz in Yad Vashem nieder

Allerdings wurde dort auch schon die geschichtspolitische Ambivalenz seiner Agenda deutlich. In der Halle des Gedenkens zitierte der Sozialdemokrat aus Psalm 103 die Verse 3 bis 16, darunter: „Barmherzig und gnädig ist der HERR, geduldig und von großer Güte.“ Damit rückte Brandt als Vertreter des Staats der Täter im Staat der Opfer das Element der Vergebung in den Vordergrund. Eine größere Geste, vergleichbar dem Kniefall von Warschau, leistete der Kanzler nicht.

Die Araber nicht vergraulen

Der Wunsch nach mehr Normalität folgte nicht zuletzt harten Interessen: Gerade erst keimten die westdeutsch-arabischen Beziehungen wieder auf. 1965 hatten fast alle arabischen Staaten ihre Verbindungen zu Bonn gekappt, nachdem die Bundesrepublik diplomatische Beziehungen zu Israel aufgenommen hatte. Nun verbesserte sich das Verhältnis zu den Arabern wieder. Dies sollte auf keinen Fall gefährdet werden – natürlich auch wegen des arabischen Öls.

Foto: Moshe Milner/GPO
Den Nahen Osten mit europäischem Frieden „infizieren“: Willy Brandt in der Altstadt in Jerusalem

Das bedeutete zugleich: In der praktischen Politik gegenüber Israel hatte die Vergangenheit allenfalls noch begrenzten Einfluss. In Israel löste das schon in der Zeit vor Brandts Besuch Besorgnis aus. Aber auch sonst war die Ausgangslage für die Reise des Kanzlers alles andere als unbeschwert. Erst 1972 hatte der Terroranschlag im Olympischen Dorf in München und der Umgang der Deutschen mit diesem und dessen Folgen – darunter die Freilassung der verantwortlichen Terroristen im Nachgang – für erhebliche Spannungen mit Jerusalem gesorgt.

Naiver Kurzschluss

Davon abgesehen konnte der „Friedenspolitiker“ Brandt mit der sicherheitspolitischen „Hardlinerin“ Golda Meir nicht allzu viel anfangen. Getragen von den Erfolgen seiner „Neuen Ostpolitik“, die letztlich eine Politik des Appeasement war, fand der Kanzler wenig Verständnis dafür, dass Meir den Arabern kaum Vertrauen entgegenbringen wollte. Auch während seines Israel-Aufenthalts trug er die Hoffnung vor, dass sich das Beispiel des Friedens in Europa als „infektiös“ für den Nahen Osten erweisen würde – ein naiver Kurzschluss von europäischen Realitäten auf die in der Levante.

In Israel kam das nicht gut an. So erklärte Meir in einem der Gespräche mit Brandt dem Kanzler wirsch, die Lage in Nahost sei für Europäer womöglich deshalb so schwer zu verstehen, weil es kein europäisches Land gebe, das ein anderes zerstören wolle. Darauf verglich Brandt die Situation Israels mit der des isolierten Westberlins vor dem Vier-Mächte-Abkommen von 1971, das seinerzeit den Status der Stadt sicherte.

Meir beendete das Gespräch später mit den im deutschen Protokoll wiedergegebenen Worten: „Es klinge zwar vermessen, wenn ein kleines Land wie Israel glaube, daß es mit seinen Meinungen immer recht habe, aber dies sei wirklich der Fall“ – eine heftige Abfuhr. Brandt hatte sich bereits am Vortag im Gespräch mit einer Journalistin über „israelische Hybris“ und darüber beklagt, dass Meir „sich und ihr Volk im Bund mit Gott“ wähne.

Verspielte Brandt den Frieden?

Während der Kanzler seiner Amtskollegin die Idee von Friedensverhandlungen unter dem Dach der Vereinten Nationen schmackhaft machen wollte, hatte die ganz anderes im Sinn: Meir ließ Brandt wissen, dieser könne dem ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat mitteilen, dass man zu „Geheimverhandlungen“ bereit sei. Diese Tatsache, die 2013 durch neue Akten aus dem israelischen Außenministerium bekannt wurde, sorgte in den vergangenen zehn Jahren für eine Debatte unter Historikern.

Unter anderem Michael Wolffsohn warf Brandt vor, sich nicht genügend für Meirs „unalltägliche Initiative“ eingesetzt, sondern sie an das Auswärtige Amt delegiert zu haben. Dort sei sie dann in der Hierarchie nach unten gewandert und so „gesichts-, gewichts- und bedeutungslos“ geworden. Wolffsohns schwerer Vorwurf an Brandt: Der Kanzler hätte den Jom-Kippur-Krieg verhindern können, der vier Monate nach dessen Israel-Aufenthalt mit dem Überfall Syriens und Ägyptens auf Israel ausbrach.

Kritischer Blick

Wenig überraschend wies die Willy-Brandt-Stiftung diese „äußerst heftigen Anschuldigungen“ später in einer eigenen Ausarbeitung zurück; Meir habe lediglich eine „diplomatische Scheinoffensive“ gestartet. Wolffsohn indes wiederholte sein Ansinnen, einen „Denkmalsturz“ Brandts zu betreiben, jüngst in seinem neuesten Buch.

Äußerst kritisch zu Brandts Israel-Besuch äußerte sich auch 2015 die US-amerikanische Historikerin Carole Fink, Autorin eines Buches über die westdeutsch-israelischen Beziehungen zwischen 1965 und 1974. In einem Aufsatz kommentierte sie: „Im Gegensatz zu Brandts gefeierten Reisen der Versöhnung an anderen Orten, verstärkte dieser begabte und pragmatische Politiker im Juni 1973 eine große Barriere zwischen seinem Land und dem israelischen Volk.“

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16 Antworten

  1. Willy war ja meine erste „Kontaktperson“ mit den offiziellen RepresentantInnen der SPD.
    Bin aber sowohl inhaltlich als auch altersbedingt und vor allem von dem „rationalen“ Prakmatismus Schmidtianer geworden und immer geblieben waaa!

    Olaf ist ganz anders als Helmut aber kann genau so hart sein.

    Willy und Golda sensationell und dann kam München und Golda gab den Auftrag RESPEKT GOLDA, WELL DONE!

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  2. „Brandt hatte sich bereits am Vortag im Gespräch mit einer Journalistin über „israelische Hybris“ und darüber beklagt, dass Meir „sich und ihr Volk im Bund mit Gott“ wähne.“

    Das ist ja auch eine absurde Aussage, die man vielleicht von einem geistlichen Würdenträger erwarten würde aber nicht von einem Politiker eines modernen Landes im 21.Jahrhundert.

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    1. Modernes Land oder nicht – Gott schloss einen Bund mit Israel und der besteht und bleibt bestehen.
      Gott ist nicht ein Relikt vergangener Zeiten, sondern der lebendige und ewige Gott.

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      1. „Gott“ ist ein Konzept das sich Menschen vor tausenden Jahren ausgedacht haben, um sich bestimmte Dinge erklären zu können, für die es damals noch keine wissenschaftliche Erklärung gab. Wenn es wirklich den einen Gott gibt, warum glauben dann so viele Menschen an ganz andere Götter wie z.B. Odin, Zeus, Ra, Manitu, Quetzalcoatl usw.? Weil sich jede Kultur ihren Gott nach ihren eigenen Vorstellungen erdacht hat. Wenn man Gläubige mal nach den anderen Göttern befragt herrscht betretennes Schweigen im Walde. Das seien alles keine „richtigen“ Götter hört man dann, gefolgt von umso eifrigen Bekenntnissen zum eigenenen „einzig wahren“ Gott.

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        1. (Auch) das ist Glaube, kein Wissen.

          Die Frage muss treffender formuliert werden: „Wenn es einen Gott gibt, wie ich, Peter, ihn mir vorstelle, warum …“ Denn genau darum geht es; dies wird in einem späteren Teil des Posts explizit bestätigt: oder besser: „Weil sich jeder Mensch … Gott nach eigenen Vorstellungen erdacht hat.“

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        2. < Peter, sie wissen schon, dass Israelnetz eine christliche Seite ist, die nur durch die Spenden von Christen existiert. Sich über den Glauben lustig zu machen ist hier der falsche Platz.
          Dies ist eine sehr tolerante Seite, neben den missionarischen Kommentaren die langsam nerven, von Untertan werden auch anti-israelische Syrer geduldet.

          Sie erinnern mich an die Geschichte einer Reisegruppe, die keine biblischen Orte in Israel besuchen wollte. Sie hat sich dann beschwert, dass der Bus so früh am Nachmittag wieder im Hotel wäre. Israel ohne Gott gibt es nicht. Siehe den Artikel des drusischen Mädchens und dem Bibelquiz.

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          1. Wie hielt es die Gruppe dann mit Essen? Denn die Hotels halten sich an das koschere Essen. Die Armen müssen ja halb verhungert wieder in der Heimat angekommen sein.

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          2. Christin. Ich weiss es nicht, aber die Hotels haben ja jetzt eher seltener Spezialitäten im Angebot. Fleisch und Milchprodukte zu trennen, fällt nicht unbedingt sofort auf. Wir hatten in Netanya nach dem Rinderbraten gar ein Eis, sicher mit Ersatzprodukten. Der Rinderbraten hatte keinen Unterschied zum üblichen Rinderbraten. Meine Mutter machte mir nach der Reise ein Schnitzel, da ich das ja jetzt die Reise über nicht hatte. Es gibt aber auch Putenschnitzel in Israel, Entzugserscheinungen traten also keine auf.

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        3. Ja, JAHWE – Gott ist der EINIGE und HEILIGE Israels und der Schöpfer des Universums! Wie dumm muss man sein, anzunehmen, alles Geschaffene sei vielleicht durch einen Urknall entstanden? Jede Maschine, jede Laborprüfung, etc. braucht Verstand und Umsetzung! Was die Religionen betrifft, beweist nur, dass im Menschen noch ein Funke göttlichen Ursprungs vorhanden ist, der ihn fatalerweise aber dazu macht, sich selbst Götter zu schaffen, aber nicht nach dem EINEN zu fragen und zu forschen, der sich Israel zum Licht der Welt erwählt hat und Jesus , seinen Sohn als Retter und Erlöser in die gefallene Schöpfung gesandt hat! Es steht geschrieben: Es ist dem Menschen gesetzt, einmal zu sterben, danach aber das Gericht! – Wir Menschen müssen uns dem Gericht des einigen Gottes einst stellen! Aber es ist ein Weg uns geschenkt, aus diesem Gericht gerechtfertigt zu kommen, wenn wir die Liebe Jesu (seine Hingabe am Kreuz!!!) für uns als Rettung annehmen! Denken Sie darüber nach und forschen Sie in der Bibel (Altes und Neues Testament!)

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        4. Ich empfehle an dieser Stelle das Buch von Dipl.-Theol. Markus Voss: „Kein Gott ist auch keine Lösung!“

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  3. Gott ist kein Konzept. Er lebt und herrscht über Gläubige und Ungläubige. Da hilft alles Argumentieren nichts. Das ist die unbequeme und zugleich herrliche Realität aller Existenz.
    Das muss man nicht glauben. Aber du darfst es glauben. Wenn du es nicht glauben kannst oder willst, dann habe wenigstens Respekt vor denen, die es wollen und können.

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    1. „Er lebt und herrscht über Gläubige und Ungläubige“

      Welcher der vielen Götter denn genau? Genau genommen herrschen doch dann alle Götter über alle Menschen. Also der christliche Gott auch über die Chinesen und Inder, Manitu auch über die Europärer, Zeus auch über die Araber, Ra auch über die amerikanischen Ureinwohner und Alah auch über die Juden.
      Da es unmöglich ist sich an die Gebote aller Götter zu halten und dabei nicht die Verbote der anderen Götter zu missachten, ist die Menschheit also eigentlich schon verloren.

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      1. Peter sie haben Gott nicht verstanden und sie haben ein ähnliches Problem wie Martin Luther.
        Die Bibel ist in weiten Teilen ein Bericht der Erfahrungen der Menschen mit dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Im Gegensatz zu ihren Thesen glauben die Betreiber dieser Seite, dass dies ein lebendiger Gott ist und sie haben ebenfalls Erfahrungen mit Gott gemacht. Sie martern sich nicht mit dem Gedanken nicht gut genug für das Himmelreich zu sein. Es wird keine Seele gewogen, wie die Bögen/Waagen wenn man von der Al Aqsa die Stufen zum Felsendom hinauf geht. Wir Christen glauben, dass wir dies durch die Gnade Gottes geschenkt bekommen. Das hat Luther im Turmerlebnis in Wittenberg erkannt.

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        1. Nicht nur wir Christen. Gnade ist ein Grundprinzip im jüdischen Glauben.
          Und es zieht sich durch die gesamte Bibel hindurch.

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  4. Zitat: „Gott“ ist ein Konzept … Zitat-Ende
    (Auch) das ist Glaube, kein Wissen.
    Zitat: Wenn es wirklich den einen Gott gibt, warum … Zitat-Ende
    Die Frage muss treffender formuliert werden: „Wenn es einen Gott gibt, wie ich, Peter, ihn mir vorstelle, warum …“ Denn genau darum geht es; dies wird in einem späteren Teil des Posts explizit bestätigt: Zitat: Weil sich jede Kultur ihren Gott nach ihren eigenen Vorstellungen erdacht hat. Zitat-Ende Besser formuliert: „Weil sich jeder Mensch … Gott nach eigenen Vorstellungen erdacht hat.“

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  5. Der Eine Wahre Gott offenbarte sich in Zeit und Geschichte, und er wird sich auch weiterhin offenbaren …

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