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Mehr Minister als Fraktionsmitglieder: Netanjahus Massenregierung

"Herr, mein Herz ist nicht hoffärtig, und meine Augen sind nicht stolz. Ich gehe nicht um mit großen Dingen, die mir zu wunderbar sind." Mit diesen Worten aus Psalm 131 eröffnete der neue Premierminister Benjamin Netanjahu seine Rede aus Anlass der Feierlichkeiten zur Vereidigung von Israels 32. Regierung im Jerusalemer Knessetgebäude.

Eigentlich hätte nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse Mitte Februar alles klar sein sollen. Der israelische Wähler hatte Vernunft gewählt. Protestwählerparteien, wie etwa die Pensionärspartei, waren von der Bildfläche verschwunden. Auch wenn das im Eifer der Suche nach den Sensationen untergegangen sein sollte: Die großen Wahlverlierer waren Ideologen und Extreme auf beiden Seiten des politischen Spektrums. Das nationalreligiöse Lager hat im Vergleich zur vorletzten Knesset 50 Prozent seiner Mandate eingebüßt, das linkssäkulare Lager fast 60 Prozent. Nüchternheit scheint angesagt.

Netanjahus Likud-Partei hatte mit 27 Mandaten zwar einen Sitz weniger im israelischen Parlament erhalten, als die Kadima-Partei von Zippi Livni. Aber Livni hätte nur schwer eine mehrheitsfähige Koalition unter den 120 Knessetabgeordneten zusammengebracht, während Netanjahu von vornherein eine rechts-konservativ und religiös bestimmte Koalition von 65 Volksvertretern auf seiner Seite hatte. „Bibis“ Problem: Sowohl der Wille der überwältigenden Mehrheit der israelischen Wählerschaft, als auch die Wahrnehmung der internationalen Gemeinschaft sprachen für eine größere Koalition der politischen Mitte.

Die ideologischen Unterschiede zwischen den Parteien der politischen Mitte im jüdischen Staat – Likud, Kadima, Israel Beiteinu und Avoda – zum Ende des ersten Jahrzehnts im neuen Jahrtausend sind ohnehin nur Experten einsichtig. Die großen Herausforderungen, so Netanjahu in seiner Antrittsrede, liegen im wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Bereich. In beiden Problembereichen liegen die Ursachen außerhalb Israels: in der weltweiten Finanzkrise und im Hegemoniestreben des Iran. Das kleine Israel wird re-agieren müssen und hat kaum eine Chance, selbst Trends zu setzen. Deshalb sind Experten gefragt, nicht Utopisten.

Größtes Kabinett der israelischen Geschichte

So schloss sich ein wochenlanges Tauziehen um die Ministerposten an den Wahlkampf an, bis Benjamin Netanjahu das größte Kabinett in der Geschichte des Staates vorstellen konnte. Am Kabinettstisch, der zu diesem Zweck extra erweitert wurde, sitzen mehr Minister als Abgeordnete in der größten Fraktion. Insgesamt tragen 30 Damen und Herren den begehrten Titel und beziehen das Gehalt eines „Ministers“. Sechs Koalitionsvertreter wurden zu „Vizeministern“ ernannt. „Womit ein Minister in Israel nicht mehr ist als ein aufgestylter Knessetabgeordneter“, kommentierte der Journalist Chanan Kristall die offensichtliche Ämterinflation.

Doch „welches funktionale Gewicht sie tatsächlich in der Tagespolitik des Staates haben werden“, grübelte der Veteran des israelischen Rundfunks weiter, „das müssen wir als politische Beobachter jetzt erst noch herausfinden.“ Gefrotzelt wird derweil schon viel in den Medien – vor allem über diejenigen Kabinettsmitglieder, die noch vor wenigen Monaten derart aufgeblasene Mammutregierungen als „reine Verschwendung öffentlicher Mittel“ bezeichnet hatten. Der frisch gebackene Oppositionsabgeordnete Jochanan Plessner holte etwa eine Gesetzesvorlage aus dem Aktenschrank, die ursprünglich von den Likud-Mitgliedern Reuven Rivlin und Gideon Sa´ar stammt und eine Begrenzung der Ministerposten in der Regierung auf 18 fordert.

Der große Gewinner der wochenlangen Koalitionsverhandlungen ist neben Premierminister Benjamin Netanjahu zweifelsohne Sozialistenchef Ehud Barak. Die Arbeitspartei des alten und neuen Verteidigungsministers gehört zwar zu den ganz großen Verlierern der letzten Wahl. Zum Politiker fehlt dem höchst dekorierten Soldaten Israels, der unter chronischem Mangel an Charisma zu leiden scheint, die Popularität. Ehud Barak ist der Beweis in Person dafür, dass im jüdischen Staat ein legendärer General und Kämpfer keineswegs automatisch zum Staatsmann avanciert. Aber Barak hat es in den vergangenen Wochen geschafft, seine Partei durch eine der größten inneren Zerreißproben in ihrer Geschichte zu führen. Und viele israelische Bürger, die nicht „Avoda“ gewählt haben, scheinen sehr zufrieden mit diesem Erfolg der Koalitionsbastelei ihres neuen Regierungschefs.

So sehr man in der israelischen Gesellschaft durch das gesamte politische Spektrum hindurch den Sicherheitsexperten Barak und den Finanzexperten Netanjahu schätzt, so sehr war man in den vergangenen Jahren wohl auch mit der Außenpolitikerin Livni zufrieden. Doch die hat sich in den vergangenen Wochen so weit auf dem Baum der persönlichen Politambitionen verstiegen, dass sie den Abstieg nicht mehr schaffte, um noch eine Position in der Regierung Netanjahu zu ergattern. Jetzt will Zippi Livni „der israelischen Gesellschaft von der Oppositionsbank aus dienen“. Sie versprach, mit der Kritik an der neuen Regierung nicht zurückzuhalten – ganz als sei genau das etwas überraschend Außergewöhnliches für eine Opposition. In ihrer Antrittsrede als Oppositionschefin bei der Regierungsvereidigung gelang es ihr dann allerdings kaum, die persönliche Verbitterung zu verbergen und sachlich zu bleiben.

Enttäuschung in Netanjahus Partei

Für Insider bietet Netanjahus neue Mammutregierung zur Genüge Überraschungen und Diskussionsstoff. Allein die Enttäuschung in den Reihen der eigenen Partei darüber, dass der Chef bei den Koalitionsverhandlungen praktisch alle relevanten Ministerposten an die Koalitionspartner vergeben hat, treibt in einer Politkultur, in der es nicht einmal zum guten Ton gehört, das eigene Ego zu verbergen, interessante Blüten. So war bis zum letzten Augenblick vor der Vereidigung der Regierung unklar, ob Netanjahus großer innerparteilicher Rivale Silvan Schalom die Berufung in die Regierung annehmen oder sich als Rebell outen werde. Jetzt ist er stellvertretender Premierminister sowie „Minister für regionale Entwicklung“ – ein von Journalisten als „esoterisch“ bezeichnetes Ressort, das einst Ariel Scharon geschaffen hatte, um Schimon Peres aufs politische Abstellgleis zu stellen.

Aus Sicht des Auslandes verursacht fraglos der neue Außenminister Avigdor Lieberman das heftigste Stirnrunzeln. International als „Rechtsextremist“ oder gar „Faschist“ verschrien, ist er vor allem durch populistische Äußerungen zur Lösung der innerisraelischen Spannungen zwischen arabischen und jüdischen Staatsbürgern aufgefallen. Konservative Israelis wehren sich allerdings dagegen, den Mann als „rechts“ zu bezeichnen. Er will Land, das schon vor 1967 israelisch war, im Austausch gegen umstrittene israelische Siedlungen an einen künftigen Palästinenserstaat abtreten. Dass er auch in der vergangenen Legislaturperiode ganz still und heimlich Minister war, wird vielfach übersehen.

In der israelischen Öffentlichkeit wird die Ernennung des Netanjahu-Vertrauten Juval Steinitz zum Finanzminister wohl am heftigsten diskutiert. „Steinitz als Finanzminister ist wie Peretz als Verteidigungsminister“, klagt ein israelischer Journalist lautstark und erinnert an das Debakel des Zweiten Libanonkrieges, als ein Sozialpolitiker namens Amir Peretz sich als Verteidigungsminister versuchte – der heute von vielen als ein Hauptverantwortlicher dafür gesehen wird, dass dieser Feldzug vom Sommer 2006 als klägliches Versagen betrachtet wird. Was jetzt hitziges Verhandlungsgeplänkel ist, was hingegen nüchterne Analyse, wird die Zeit zeigen. Fest steht: Eine breite, starke und ausbalancierte Koalition verlangt ihren Preis. Beim Blick auf 2006 fällt noch eine zweite Parallele auf: So wie damals das Arbeits- und Sozialministerium ohne Chef blieb, gibt es dieses Mal keinen Gesundheitsminister.

Dass es zu Beginn des 21. Jahrhunderts nach wie vor möglich ist, öffentlich und als Staatsoberhaupt die Vernichtung des jüdischen Staates Israel zu fordern, bezeichnete Benjamin Netanjahu in der ersten Rede seiner zweiten Amtszeit als israelischer Regierungschef als „Armutszeugnis für die Menschheit“. Wer darüber hinaus nach visionärer Zielsetzung oder spektakulären Ankündigungen suchte, wurde enttäuscht. „Wir wollen nicht über das palästinensische Volk herrschen“, formulierte der als Rechtspolitiker beäugte neue starke Mann in Jerusalem den überwältigenden Willen des israelischen Volkes – und damit auch einen entscheidenden Punkt in seinem eigenen Regierungsprogramm. Somit ist die Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes auch Ziel der Regierung Netanjahu. Gleichzeitig warnte er seine Nachbarn aber auch: Wenn die Palästinenser ihre Kinder nicht lehren, dass der Staat Israel die rechtmäßige Heimstätte des jüdischen Volkes ist, wird es keinen dauerhaften Frieden geben.

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