Seit dem 7. Oktober befinden sich 133 Menschen in Geiselhaft der Hamas. Manche sind tot, andere leben. Allen gemein ist, dass ihre Familien auf sie warten. 198 lange Tage.
Der Vorabend des 15. Tag des jüdischen Monats Nisan fällt in diesen Jahr auf den Montag. Der Seder-Abend bildet den Auftakt für das einwöchige Pessachfest. Traditionell kommt den Großvätern dabei eine besondere Rolle zu: oft sind sie es, die die Familien durch die Liturgie des Abends führen.
„An Pessach erinnern wir uns an die Freiheit“, sagt Scharon Levin, Sprecherin des „Forums für Familien von Geiseln und Vermissten“. „Doch in diesem Jahr fehlen in 133 Familien die Angehörigen. Sie leben unter unwürdigen Bedingungen. Sie haben keine Freiheit. Keine Meinungsfreiheit, keine Freiheit, zu essen oder ins Bett zu gehen, wann sie möchten. Sie haben ihre Freiheit verloren, sie selbst zu sein. Der Großteil der Geiseln sind Männer.“
In einem virtuellen Pressegespräch erzählen drei junge Menschen, deren Großväter immer noch in Geiselhaft sind.
Zum zweiten Mal den Holocaust erlebt
Mit 86 Jahren ist Schlomo Manzur die älteste Geisel und der einzige, der aus dem Kibbuz Kissufim entführt wurde. Sofern er noch lebt, hat er seinen Geburtstag Mitte März in Geiselhaft in Gaza erlebt. Auch seinen 60. Hochzeitstag Anfang März habe er nicht feiern können.
„Mein Opa ist 1928 im Irak geboren“, erzählt seine Enkelin Noam Safir. „Er ist als Holocaustüberlebender anerkannt, weil er als Dreijähriger das Farhud-Massaker erlebte, das während des jüdischen Festes Schawuot stattfand.“
Auf eindrückliche Weise beschreibt die 20-Jährige die Verbrechen der muslimischen Iraker an den irakischen Juden: „Mein Großvater wurde Zeuge, wie die Terroristen in ihr Haus eindrangen, seinen Hund töteten und seine Eltern schlugen. Er selbst versteckte sich auf dem Dach und weinte.“
Am 7. Oktober habe er einen zweiten Holocaust erlebt: „Terroristen drangen in das Haus meiner Großeltern ein, schossen in die Tür und wurden nach ihren Autoschlüssel gefragt. Im Schlafanzug wurde er entführt und wir haben seitdem nichts von ihm gehört.“
Safir berichtet, dass ihr Großvater 1951 nach Israel einwanderte und im Alter von 16 Jahren nach Kissufim zog. Dort lernte er seine Frau kennen. „Er ist der älteste von sechs Geschwistern, Vater von fünf Kindern und Großvater von zwölf Enkeln.“
Die Enkelin erinnert sich: „Er ist der fröhlichste Mensch, den ich kenne und ich habe ihn niemals ohne ein Lächeln im Gesicht gesehen.“ Bei jedem Besuch habe Manzur seine Familie fröhlich durch den Kibbuz geführt. Im ganzen Kibbuz sei er beliebt gewesen und warmherzig zu allen Menschen.
„Das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe, war zu Rosch HaSchana“, sagt die Enkelin aus Eilat. „Zu jedem Fest, zu jeder Familienfeier, war es immer Opa, der dafür sorgte, dass es allen gut geht.“
„Doch dieses Jahr“, sagt die junge Frau bewegt „wird sein Platz frei bleiben. Die Fröhlichkeit, die er immer ausgestrahlt hat, wird einer störenden Stille weichen.“
Safir bekennt: „Ich bin am Boden zerstört. Meine Freude ist weg. Und meine größte Sorge ist, dass der glücklichste Mann, den ich kenne, für immer traurig sein wird, wenn er zurück aus der Geiselhaft kommt.“
Alles, was sich Safir wünscht, sei, dass ihr Großvater seine letzten Jahre mit seiner Familie verbringen dürfe. Mit Anlehnung an die biblische Geschichte, in der Mose den Pharao auffordert: „Lass mein Volk ziehen!“, sagt Safir: „Alles, was ich fordere: ‚Lasst meinen Opa ziehen‘. Ihn und alle anderen 133 Geiseln. 198 Tage sind zu viel Zeit!“
„Bitte, haltet die Erinnerung an sie aufrecht!“
Die 18-jährige Talya Danzig ist die Enkelin von Alex Danzig. Der 75-jährige Historiker wurde aus seinem Haus aus dem Kibbuz Nir Os entführt: „Normalerweise hört mein Opa nicht auf zu reden. Doch als ich am 7. Oktober mit ihm am Telefon sprach, sagte er lediglich: ‚Die Situation ist kompliziert’. Seit diesem Tag habe ich seine Stimme nicht mehr gehört. Seitdem wird er unter schlimmsten Bedingungen festgehalten.“
Ende November freigelassene Geiseln hätten ihrer Familie erzählt, wie sie gemeinsam entführt worden seien: Drei alte Menschen in einem kleinen Kibbuzwagen, von Touristen umgeben. Waffen seien auf sie gerichtet gewesen. Von unzähligen Passanten wurden sie geschlagen und mussten später kilometerweit durch Tunnel gehen. Viele von ihnen hatten schwere Verletzungen.
Von den befreiten Geiseln hat die Familie auch erfahren, dass Danzig keine Medikamente bekomme, obwohl er wegen einer früheren Herzattacke auf sie angewiesen sei. In den dunklen Tunneln könne er nicht schlafen und nur schwer atmen. Zu essen und trinken bekomme er fast nichts.
Laut seiner Enkelin hätten Danzigs Eltern und Schwester den Holocaust überlebt. Er selbst wuchs als „freies Kind in Polen auf. Als er sieben Jahre alt war, wanderte die Familie nach Israel ein. Er wurde Geschichtslehrer und Landwirt. Was immer man ihn fragt, er antwortet auf alles mit Leidenschaft.“
Danzig habe in der Holocaust-Forschung gearbeitet und befreite Geiseln hätten berichtet, dass er ihnen während der Geiselhaft Vorträge zur Schoa halten wollte. Manche hätten ihn gebeten, diese Vorträge nicht zu halten. Die Lehre aus der Schoa sei „nie wieder!“ gewesen, doch „die Geiseln sind der lebende Beweis, dass dieses Bekenntnis keine Gültigkeit hat“. „Ich hoffe sehr, dass sein Wissen um den Holocaust ihn jetzt in dieser Zeit am Leben hält“, sagt die junge Frau aus Tel Aviv.
„Solange mein Opa in Gefangenschaft ist, bin auch ich nicht frei. Ich möchte am Seder-Tisch neben ihm sitzen. Und ich möchte, dass er weiß, dass seine Familie das Massaker überlebt hat. 13 Familienmitglieder waren dabei, darunter auch meine 15-jährige Schwester. Er weiß nicht, dass es Menschen gibt, die leben und darauf warten, ihn wieder in den Arm zu nehmen.“ Mit Nachdruck wendet sie sich an die Journalisten: „Bitte, haltet die Erinnerung an meinen Großvater und alle Geiseln aufrecht! Lasst meinen Opa gehen! Die Zeit läuft und ich weiß gar nicht, ob er noch am Leben ist.“
Weil sie gehört habe, dass die Geiseln manchmal die Möglichkeit bekämen, Radio zu hören, hat sie ihrem Opa ein Lied geschrieben und aufgenommen.
Der Ehefrau das Leben gerettet
Auch May Albinis Großvater Chaim Peri ist noch in Haft. Seinen 80. Geburtstag habe er vergangene Woche begangen. Er habe das Leben seiner Frau gerettet, als er am 7. Oktober den Terroristen entgegen ging und sie im Schutzraum blieb.
Für alle drei stelle sich in diesem Jahr die Frage, wie sie das Pessachfest feierten. Der 29-jährige May sagt: „Ich bin nicht verantwortlich für die Durchführung des Abends, aber klar ist, dass dieses Jahr nichts so sein wird wie immer. Mein Großvater fehlt uns. Jeden Tag. Vielleicht sprechen wir in diesem Jahr nicht davon, dass wir Pessach feiern. Sondern eher, dass wir uns daran erinnern.“
Eine Haggadah mit Schwerpunkt auf den Geiseln
Das „Forum für Familien von Geiseln und Vermissten“ hat eine digitale Pessach-Haggadah für dieses Jahr erstellt. Darin schreiben unter anderem Jonathan Polin und Rachel Goldberg, die Eltern des 23-jährigen Hersh, der seit dem 7. Oktober in Geiselhaft der Hamas ist: „Pessach ist der Feiertag, an dem das jüdische Volk die Befreiung aus der Sklaverei feiert. Am 7. Oktober 2023 ist unserem Volk ein Kriegsverbrechen in einem Ausmaß passiert, das wir seit dem Holocaust nicht mehr erlebt haben. Unsere Großväter, Ehemänner, Brüder, Schwestern, Söhne und Töchter befinden sich, schockierenderweise, immer noch in der Sklaverei.“
„In jedem Jahr stellt das jüdische Volk vier Fragen“, schreiben die amerikanischen Israelis weiter: „Doch in diesem Jahr müssen wir eine fünfte Frage stellen: ‚Warum sitzen unsere geliebten Familienmitglieder nicht mit uns am Tisch?’ Dieses Jahr wird das Essen des Brotes der Trübsal und das Kosten der Bitterkräuter intensiver denn je. Für viele von uns sind diese Erfahrungen in diesem Jahr realer denn je. Der Seder soll zum Fragen ermutigen. Heute, mehr denn je, haben wir so viele Fragen. Und wo könnten wir diese, unsere wichtigen und schmerzhaften Fragen, besser stellen als hier, am Seder-Tisch? Niemals hätten wir uns vorstellen können, dass wir uns in dieser Situation befinden würden. Doch auch die Hoffnung ist Teil der jüdischen Nation. Wir sind ein Volk, das niemals aufgeben wird. Wir werden weitermachen, bis wir alle körperlich und seelisch frei sein werden.“
Auch Rabbiner Benni Lau erinnerte an die Geiseln: „Alex Danzig war mein Freund. Gemeinsam haben wir Tausende von Menschen durch die Gedenkstätte Yad Vashem geführt.“
Am Samstagabend spricht er vor der Premierministerresidenz zu Hunderten von Demonstranten: „Manchmal frage ich mich, ob Alex dort, in der Geiselhaft einem ‚Gerechten unter den Völkern‘ begegnet. Vielleicht gibt es ja jemanden dort, der Erbarmen mit ihm hat?“ Auch Lau macht deutlich, dass das Pessachfest in diesem Jahr anders wird als in anderen Jahren: „Dieses Jahr werde ich mit meiner Familie nicht den alten Pessachgruß so wie immer sagen können: ‚Nächstes Jahr im aufgebauten Jerusalem‘. Dieses Jahr werden wir sagen: ‚JETZT ist die Zeit. Wir wollen sie JETZT. Zurück im aufgebauten Jerusalem.“ (mh)
5 Antworten
Ich wünsche weiterhin Israel Kraft, dass die Hoffnung auf Freilassung der Geiseln weitergeht.
Es ist für viele Menschen ein trauriges Pessachfest, gerade an Festtagen merkt man die bittere Veränderung durch Geiselnahme und Hamas-Krieg. Die Welt muss sich mehr einsetzen für die Freilassung der Geiseln.
Im Namen des allmächtigen Gottes sagen wir: Lasst die Geisseln ziehen!
Chag Pessach Sameach!
Gott hat Sein Volk nicht vergessen.
Es macht traurig, diese Schicksale zu lesen.
Ich hoffe, dass die Geiseln bald zu ihren Familienangehörigen zurückkehren können.
Lasst die Geiseln endlich frei. Muslime und Christen in Gaza. Lasst die Geiseln endlich ziehen