Als ich vor über zehn Jahren von Jerusalem in die rund 200.000 Einwohner zählende Wüstenhauptstadt Be’er Scheva zog, schüttelten einige meiner Landsleute den Kopf. Freiwillig in eine Stadt ziehen, die nur 40 Kilometer vom Gazastreifen entfernt ist und in der es immer wieder zu Raketenbeschuss kommt?
Meine Antwort mag verrückt anmuten, reflektiert aber die von unzähligen Israelis gelebte Realität: „Gegen Raketen gibt es Schutzräume, und es bleibt sogar Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen. Ich ziehe die Raketen jedem Selbstmordanschlag vor, bei dem ich gar keinen Schutz habe.“ Selbstmordattentate habe ich in 25 Jahren Jerusalem wahrlich zur Genüge mitbekommen müssen, manchmal nur mit viel Glück ohne Schaden – ohne physischen Schaden wohlgemerkt.
Mein Schutzraum
Folglich war bei meiner Wohnungssuche in Be’er Scheva klar: nur eine Wohnung mit Schutzraum. Der Staat Israel hat schon vor vielen Jahren gesetzlich geregelt, dass alle Neubauten mit Schutzräumen zu versehen sind: besonders verstärkte Betonmauern durchzogen mit Metallstreben, ein Fenster mit Hochsicherheitsglas, das sich beim Verschließen an mehreren Stellen tief im Rahmen verankert und vor das zusätzlich ein Eisenschott gezogen wird.
Auch die Tür zu dem Zimmer, für ungeübte Augen ein ganz normaler Raum der Wohnung, ist eine besondere Konstruktion: eine Metalltür, die sich ebenfalls mit Metallstäben tief im metallenen Türrahmen verankert, um genau wie das Fenster einer Druckwelle standzuhalten.
Nicht alle sind so gut dran
Ich habe also den Luxus eines Schutzraumes. Immer wieder einmal bin ich missgestimmt, weil dieser Schutzraum mein Darlehen in die Höhe getrieben hat und somit mein monatliches Budget schmälert. Doch in Zeiten wie diesen bin ich dann wieder einmal dankbar – dafür, dass kluge Köpfe auf eine solche Lösung kamen, dass der Staat Israel die entsprechenden Bauvorschriften erließ und die Konstruktion wenigstens teilweise subventioniert. Wir alle in Israel haben wieder und wieder erlebt, dass Häuser und Wohnungen schwer beschädigt werden, die Bewohner jedoch unversehrt, wenngleich im Schockzustand, aus den Schutzräumen auftauchen. Für mich veranschaulicht das handfest: Anders als Hamas und andere radikal-islamische Organisationen, die im Gazastreifen agieren, kümmert sich der Staat Israel um die Sicherheit seiner Bürger.
Viele meiner Mitbürger jedoch sind nicht so privilegiert wie mein Haushalt. Rund die Hälfte aller Wohnungen in Be’er Scheva – wie auch im gesamten Land – haben keinen Schutzraum. Solche Häuser sind älteren Baudatums. Die Bewohner müssen in öffentliche Bunker sprinten. Meine Stadt hat mit 60 Sekunden die längste Vorwarnzeit des Negev. Doch in einer Minute mehrere Stockwerke herunterrennen, ganz zu schweigen davon, auch noch eine Straße zu überqueren, ist sogar für jüngere Menschen utopisch. Senioren und Menschen mit Behinderungen haben noch nicht einmal annähernd die Chance, einen solchen Sprint hinzulegen. Dann bleibt den Menschen nichts anders übrig, als in statisch besser geschützten Treppenhäusern der Dinge zu harren.
Blitzaktionen in 60 Sekunden
Seit einigen Jahren sind die Smartphone-Apps, die vor einem Raketenangriff warnen, sogar einen winzigen Sekundenbruchteil schneller als die Sirenen. Setzt deren Heulen ein, so bringt das immer eine Schrecksekunde. Dann bleibt der Kaffee nicht in der Tasse, sondern ziert im schlimmsten Fall die Wände. Wasser kommt in solchen Zeiten erst gar nicht ins Trinkglas, eine handliche Flasche aus Plastik, bloß kein Glas, ist besser.
Bimmelt es draußen – so nennen wir in meinem Haushalt das Heulen der Sirenen –, heißt es flott sein. Vor Ablauf der 60 Sekunden sollte tunlichst nichts mehr auf dem Herd köcheln. Dusche oder Sitzung auf einem gewissen Örtchen? Naja, es ist eine Frage der Übung, es sogar dann rechtzeitig in den Schutzraum zu schaffen.
In Zeiten der Eskalation ist im Schutzraum alles vorbereitet. Doch es kommt immer wieder vor, dass Be’er Scheva ohne Anlass unter Raketenbeschuss genommen wird. Wir haben gelernt, in Sekundenschnelle auf „Notfallroutine“ umzuschalten und in der kurzen Zeit auch das irgendwo herumliegende Handy einzusammeln, die eventuell für die abendliche Atmosphäre brennenden Kerzen zu löschen oder gar den Teller mit dem warmen Essen gleich mit in den Schutzraum zu nehmen und dennoch in dieser kurzen Zeit Fenster und Tür zu verriegeln.
Vorbereitungsmaßnahmen
Als vor rund einer Woche die Hamas mit Raketenbeschuss auf Jerusalem drohte, bereiteten wir schon vor Ablauf des Ultimatums unseren Schutzraum vor. Während der Corona-Monate war dieser ansonsten als Gästezimmer genutzte Raum zum Büro meines ins Homeoffice geschickten Partners geworden. In Windeseile verschoben wir Möbel, so dass er seinen Arbeitsplatz trotz ausgezogenem Sofa weiter nutzen kann. Uns war klar, das Schlafzimmer bleibt in der nächsten Zeit verwaist. Wir stehen bei Alarm nicht auf, sondern schlafen lieber gleich im Schutzraum.
Da wir wussten, was auf uns zukommt, hatten wir Metallwand und Fenster verriegelt. Klimaanlage und Ventilator arbeiten seither rund um die Uhr. Doch es war an noch mehr zu denken: Verlegung der Adapter zum Aufladen der Handys, das Festnetztelefon muss mit, um im Fall eines Zusammenbrechens der Netze dennoch Kontakt aufnehmen zu können, und die Notfalllampe hängt jetzt permanent am Stromnetz. Obwohl wir nach einem Alarm nur 10 Minuten im Schutzraum bleiben müssen, haben wir zudem auch einen Eimer parat. Es kommt häufiger vor, dass ein Alarm nach dem anderen gegeben werden muss. Dann wird die Zeit lang. Nachts aufgescheucht, das kennen viele, steht eigentlich ein Gang zur Toilette an … der wäre dann allerdings lebensgefährlich.
Wenn es über dem Kopf dumpf knallt
Der Alarm der Sirenen hält genau die Zeit an, die bleibt, um es in den Schutzraum zu schaffen. Verstummt der durch Mark und Bein gehende Lärm, der auch ohne Raketen im Anflug dafür sorgt, dass der Adrenalinpegel steigt, hält man für einige Sekunden den Atem an. Gleich wird es scheppern. So wie die „Notfallroutine“ eine Absurdität der israelischen Realität ist, so gehört dazu auch, dass Zivilisten unterscheiden können zwischen dem Krach, den Terror-Raketen einerseits und militärische Gegenaktionen durch Anspringen des Raketenabwehrsystems „Eisenkuppel“ andererseits machen. Je nach Tonlage des Bumm-Geräusches kann ich sagen: Rakete abgefangen und somit unschädlich gemacht – Erleichterung –, irgendwo im Gelände heruntergekommen ohne Schaden anzurichten – erneut Erleichterung – oder das Szenario eines Einschlags mit Schaden.
Das war am Schabbat-Morgen bei einer Salve von mehr als einem Dutzend zeitgleich in Be’er Scheva eintreffenden Raketen um kurz nach 6 Uhr der Fall. Das dumpfe beängstigende Bumm-Geräusch war ganz nah. Der Herzschlag scheint kurz auszusetzen, aus dem Bauch steigt eine Wärmewelle auf, die genauso von Angst und Bange zeugt wie die weichen Knie oder das Zittern der Hände. Im Moment des Knalls erbebte unser Hochhaus wegen der Druckwelle, die Dutzende von Kilogramm Sprengstoff verursachen. Wir wussten, uns hat es nicht getroffen, aber unsere Nachbarn. Leider hatten wir Recht. Die oberen Stockwerke eines der Nachbarhäuser wurden beschädigt. Menschen kamen dank der Schutzräume nicht zu Schaden.
Trotz „Eisenkuppel“ Stress pur
Als das „Eisenkuppel“-Raketenabwehrsystem noch nicht einsatzbereit war, kündete jedes Bumm-Geräusch von einem Treffer. Die Frage war damals nur: Wie schlimm ist es? Das System, von dem die Welt sagte, dass so etwas gar nicht entwickelt werden kann, arbeitet mit herausragender Präzision. Das macht einen enormen Unterschied. Trotz dieses Schutzes und des Schutzraumes obendrauf, ist es beängstigend zu wissen, was sich da über einem in der Luft zuträgt. Egal wie oft durchgemacht, es ist Stress pur. Es sind bange Sekunden, denn schließlich besteht Lebensgefahr. Eine solche Situation durchzustehen bringt physische wie psychische Begleiterscheinungen, Schutzraum hin, Eisenkuppel her. Das gilt erst recht bei Alarm mehrere Stunden hintereinander. Zu beschreiben, was Raketen im Anflug mit einem während einer Fahrt im Auto machen, erspare ich mir hier einmal.
Dieser Stress rächt sich in Form von qualitativ schlechtem Schlaf. Konzentrationsschwierigkeiten stellen sich ebenso ein wie Nervosität und Lärmempfindlichkeit, die mit Schreckreaktionen einhergeht. Essen, das eigentlich Leib und Seele zusammenhalten sollte, schmeckt nicht mehr.
Dass auch andere in Unruhe sind, ist in meinem zehnstöckigen Hochhaus aus allen Richtungen zu vernehmen. Eltern holen ihre Kinder, die auf dem Balkon etwas Luft schnappen, immer wieder vorsichtshalber herein, sollten unsere Smartphones vermelden, der Beschuss der westlich von Be’er Scheva liegenden Ortschaften hat eingesetzt. Dann ist es lediglich eine Frage der Zeit, bis auch wir wieder Zielschreibe sind. In solchen Fällen wird es vor allem in der Wohnung über uns unruhig. Die dort wohnende alleinerziehende Mutter hat nur zwei Arme, aber vier kleine Kinder, von denen drei noch nicht selbstständig sind. Um alle rechtzeitig im Schutzraum zu haben, hat diese Frau jedes Mal eine „Mission Impossible“ zu absolvieren.
Ruhe zwischen den Raketenalarmen – ebenfalls Fehlanzeige!
Es ist nicht so, dass wir andauernd unter Beschuss sind, wenngleich wir am Montag zusammengerechnet mehrere Stunden im Schutzraum sein mussten. Nach einem Alarm stellt sich zwar Erleichterung, aber keineswegs Entspannung ein. Nach einem Raketenangriff ist nämlich vor einem Raketenangriff. Je mehr Zeit ohne Alarm verstreicht, desto mehr Unruhe stellt sich ein. Wir lauern regelrecht. Mit jeder verstreichenden Minute rückt der nächste Angriff schließlich näher.
In solchen Zeiten innere Ruhe zum Lesen oder für andere TV-Sendungen als die Nachrichten zu finden, ist kaum möglich. Und doch, es wird gekocht, telefoniert, gearbeitet und der Haushalt versorgt, aber man wägt alles zweimal ab: Ist das die richtige Zeit zum Duschen? Jetzt kochen oder lieber später? Wann zum Müll heruntergehen, wann die Milch einkaufen? Auf eine Leiter steigen wir in solchen Zeiten lieber gar nicht erst, Messer werden viel bewusster in die Hand genommen.
Der Ausblick
Gegenwärtig wird der Alltag eines Großteils der israelischen Zivilbevölkerung fremdbestimmt, denn noch nie haben die Raketen aus dem Gazastreifen ein so weiträumiges Gebiet erfasst wie dieses Mal. Zudem ist klar, dass die Terror-Organisationen, die im Gazastreifen agieren, die letzten Jahre genutzt haben, um ihre Arsenale sowohl quantitativ als auch qualitativ aufzustocken. Geschätzte 14.000 Geschosse lagern dort. Bislang wurden knapp 4.000 auf uns abgefeuert, von denen 10 Prozent gar nicht ankamen, weil sie als Fehlzündungen im Gazastreifen niedergingen. Hamas und Co. haben also noch genügend Vorrat, um uns weitere schwierige Tage zu bescheren.
Das werden wir durchstehen, jeder für sich und alle gemeinsam, denn wir wissen: je eher das jetzt aufhört, desto früher steht die nächste Runde ins Haus. Das zu schreiben fällt mir, die sich beruflich wie privat in Projekten der friedlichen Koexistenz engagiert, unendlich schwer, aber leider ist es eine der weiteren Realitäten meines israelischen Alltages.
Antje C. Naujoks studierte Politologie an der FU Berlin und an der Hebräischen Universität Jerusalem. Die freischaffende Übersetzerin lebt seit fast 35 Jahren in Israel, davon ein Jahrzehnt in Be‘er Scheva.