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Israelkritik oder Antisemitismus?

In einem vieldiskutierten offenen Brief an die Bundeskanzlerin vom vergangenen Juli beklagen 60 prominente Unterzeichner, dass Kritik an Israels Siedlungen im Westjordanland durch Antisemitismusvorwürfe unterdrückt werde. Diese Behauptung ist sachlich falsch und verbreitet außerdem den Irrtum, dass Antisemitismus und Kritik am Staat Israel verwechselbar seien. Ein Kommentar von Marc Neugröschel
Die Projektion klassischer antisemitischer Stereotype auf Israel gehört heute zu den einflussreichsten Formen des Judenhasses

Als US-Präsident Donald Trump im vergangenen Winter seinen Friedensplan für den Nahen Osten präsentierte, sah es so aus, als hätte das Weiße Haus sein Einverständnis zu einer israelischen Annektierung jüdischer Siedlungen in Judäa und Samaria gegeben.

Doch aus der Ausdehnung des israelischen Rechtssystems auf Gebiete, die Israel im Sechs-Tage-Krieg 1967 von Jordanien eroberte, wurde erstmal nichts. Große Teile der israelischen Bevölkerung waren dagegen. Auch innerhalb der Regierungskoalition von Premier Benjamin Netanjahu war das Vorhaben umstritten. Hinzu kam internationaler Protest. Ohne Gegenstimme verabschiedete der Deutsche Bundestag am 1. Juli eine Resolution gegen die Annektierungspläne. Wenige Tage danach gaben die Außenminister von Deutschland, Frankreich, Ägypten und Jordanien eine gemeinsame Erklärung ab, in der sie die Pläne als völkerrechtswidrig verurteilten.

Trotz dieser offenen Kritik beklagte eine Gruppe von 60 Unterzeichnern in einem vom 24. Juli datierten offenen Brief an die Bundeskanzlerin, dass Kritik an Israels Siedlungen durch Antisemitismusvorwürfe unterdrückt werde. Diese Behauptung ist nicht nur durch die Tatsachen widerlegt. Sie ist obendrauf gefährlich, weil sie Kritik an israelbezogenem Antisemitismus zu einem Mittel der Zensur verklärt und damit delegitimiert.

Empirische Studien zeigen, dass die Projektion klassischer antisemitischer Stereotype auf den jüdischen Staat heute zu den einflussreichsten Formen des Judenhasses gehört. Deswegen muss sie dringend angesprochen und kritisiert werden. Dies nicht zu tun, würde bedeuten, dem Antisemitismus in der Gesellschaft freien Lauf zu lassen.

Der Unterschied ist offensichtlich

Die angebliche Vermischung von Kritik an israelbezogenem Antisemitismus und Kritik an israelischer Regierungspolitik wird vor allem von solchen Akteuren heraufbeschworen, die ihr eigenes antisemitisches Weltbild gegen Kritik abschirmen möchten. Auch das ist durch die Forschung belegt. In Wirklichkeit ist der Unterschied zwischen Israelkritik und Antisemitismus offensichtlich. Auf die Frage, wie man Israel kritisieren könne, ohne antisemitisch zu sein, antwortete der Londoner Soziologe David Hirsh einmal treffend: „Genauso, wie man Hillary Clinton kritisieren kann, ohne frauenfeindlich zu sein.“

Antisemitismus ist ein Vorurteilssystem, welches darauf abzielt, Juden und alles, was Judentum repräsentiert, als Inkarnation des Bösen zu verunglimpfen. Es stützt sich dabei nicht auf Tatsachen, sondern auf jahrhundertealte Fantasien, wie etwa jene, dass Juden Christenkinder töteten, um mit ihrem Blut Matzen zu backen.

Letztere Vorstellung findet heute im Ausruf „Kindermörder Israel“ eine aktuelle Ausdrucksform. Derartige delegitimierende Sprachbilder von politischer Kritik zu unterscheiden, erfordert keine intellektuellen Höchstleistungen. Dass Kritik an israelischen Plänen, seine Souveränität auf das Westjordanland auszuweiten, durch Antisemitismusvorwürfe unterbunden würde, ist ein Phantasma, welches in dem Schreiben an die Bundeskanzlerin durch kein einziges konkretes Beispiel belegt wird.

In den vergangenen Jahren hat sich der sogenannte „3-D-Test“ als eine Faustregel für die Unterscheidung zwischen Kritik an israelischer Politik und israelbezogenem Antisemitismus etabliert. So wird Israel oft als „Apartheidstaat“ verunglimpft. Doch wer die Realität kennt, wer schon einmal auf einer israelischen Polizeiwache von einem arabischen Polizisten vernommen wurde, wer an einer israelischen Universität von arabischen Dozenten unterrichtet wurde, wer täglich sieht, wie orthodoxe Juden und Araber in Israels öffentlichen Verkehrsmitteln miteinander ins Gespräch kommen und wer sieht, wie jüdische und muslimische Kollegen in Fabriken im Westjordanland zusammenarbeiten, der braucht keinen 3D-Test, um zu verstehen, dass die Behauptung, Israel sei ein Apartheidstaat, nicht die Realität, sondern ein delegitimierendes antisemitisches Vorurteil abbildet.

Marc Neugröschel ist freier Journalist und Soziologe. Er lebt in Jerusalem und promoviert an der Hebräischen Universität zum Thema Antisemitismus in Sozialen Medien.

Der 3-D-Test

Ein oft verwendetes Hilfsmittel, um israelbezogenen Antisemitismus von Kritik an israelischer Politik abzugrenzen, ist der sogenannte „3-D-Test“, der vom israelischen Autor und Politiker Nathan Scharanski entwickelt wurde. Die drei „D“s stehen dabei für Dämonisierung, Delegitimierung und Doppelstandards. Äußerungen seien dann antisemitisch, wenn sie den Staat Israel dämonisieren, delegitimieren und damit seine Existenzberechtigung in Frage stellen oder Doppelstandards bei seiner Bewertung anlegen und ihn an anderen Maßstäben als andere Länder messen.

Diesen Kommentar finden Sie auch in der Ausgabe 5/2020 des Israelnetz Magazins. Sie können die Zeitschrift kostenlos und unverbindlich bestellen unter der Telefonnummer 06441/5 66 77 00, via E-Mail an info@israelnetz.com oder online. Gerne können Sie auch mehrere Exemplare zum Weitergeben oder Auslegen anfordern.

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