Bei seinem Antrittsbesuch in Israel wird Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zwar nicht die umstrittenen Organisationen „Breaking the Silence“ und „B’Tselem“ treffen, wie es Bundesaußenminister Sigmar Gabriel getan hat. Dennoch wird er laut „Spiegel Online“ Position beziehen – mit Rekurs auf den Schrifststller Amos Oz, der im November vergangenen Jahres eine Laudatio auf die Organisationen gehalten hatte. Ein verhalteneres Vorgehen also im Vergleich zu Gabriel.
Jenes Treffen hatte einen Eklat ausgelöst, den die Absage des geplanten Empfangs des Bundeaußenministers bei Premierminister Benjamin Netanjahu auslöste. Ursache für die brüskierende Absage war, dass Gabriel ein Gespräch mit Gruppierungen, die Israels Regierung und ihre Siedlungspolitik scharf kritisieren, nicht absagen wollte.
Selten haben zwei Politiker beider Länder sich plumper verhalten als bei diesem überflüssigen Streit. Denn zweifellos sollte Israels Demokratie es aushalten, dass ausländische Diplomaten Dialog mit allen Teilen der israelischen Gesellschaft führen. Aber auch Gabriel machte Fehler: Denn er hätte sich auch Sprechern und Anblicken aussetzen sollen, die eben nicht nur das altbekannte, stereotype Lied von Besatzung und Zwei-Staaten-Lösung singen. Jeder, der Israel wirklich kennenlernen will, sollte auch Gebieten fernab der Großstädte Tel Aviv und Jerusalem einen Besuch abstatten. Wie dem „Finger Galiläas“, eine kleine Ausbuchtung gen Norden, die den südlichen Teil des Dreiländerecks zwischen Israel, Libanon und Syrien bildet.
Gefährdete Lebenswelt
„Zum Paradies“ steht hier auf einem hölzernen Wegweiser im Naturpark „Tel Dan“ geschrieben. Und wahrlich, es scheint kaum übertrieben. Zwischen Eschen, Schilf und Terebinthen rauscht der Dan, einer der Quellflüsse des Jordans, in trauter Idylle. Ganz in der Nähe gehört der Kibbutz Dafna unweit Israels nördlichstem Städtchen Metulla zu den ersten Kibbutzim, die im Land gegründet wurden. Kleine Häuser zeugen noch von der Bescheidenheit einer Gründergeneration, der es wichtiger war, eine gerechte Gesellschaft zu errichten, statt Wohlstand zu scheffeln. Zwischen den Häuschen laden große Rasenflächen Kinder zum Toben, überraschend viele Rutschen zum Klettern ein.
Erst beim zweiten Blick erkennt man, dass die Rutschen gar nicht zum Spielen dienen sollen, sondern aus Beton und als Schutz gedacht sind. Sie stehen über Treppen, die zu unterirdischen Bunkern führen. Fast neben jedem Wohnhaus befindet sich so ein Schutzraum, ein zweites, dunkles, unterirdisches Dafna. Beim Kindergarten ist selbst der kurze Weg vom Hinterausgang bis zum Abgang in den Bunker mit einem dicken Betondach bewehrt. In den fünfziger und sechziger Jahren wollten die Bewohner Galiläas sich und ihre Kinder so vor dem Beschuss aus Syrien schützen, der aus den Golanhöhen manchmal fast täglich auf sie niederprasselte. Bis die Hügelkette vor 50 Jahren von Israel im Sechs-Tage-Krieg erobert wurde. Dem Krieg, mit dem auch die Besatzung des Westjordanlands und der Palästinenser begann.
Doch Beschuss von Israels Norden ist nicht nur ferne Vergangenheit. Das kann man im Kuhstall eines Bauernhofs in Beit Hillel sehen, nur unweit vom Kibbutz Dafna entfernt. Seit drei Generationen melken die Kurlenders hier ihre Kühe. Großvater Luigi und sein Sohn Tommi begannen hier mit einer Kuh unter dem Beschuss aus Syrien und der Bedrohung durch palästinensische Terroristen, die hin und wieder vom Libanon eindrangen. Enkel Omer hat am Eingang zum Kuhstall, in dem heute 400 Kühe leben, die Überreste einer Katjuscha-Rakete aufgehängt, die wenige Meter von den Kälbern entfernt einschlug. Sie ist ein Souvenir vom letzten Krieg mit der Hisbollah im Libanon im Jahr 2006. Zwar zog Israel sich im Jahr 2000 bedingungslos aus dem Libanon unter Aufsicht der UNO auf die internationale Grenze zurück. Sicherheit brachte das aber nicht, denn die Hisbollah hält weiter an ihrer Vernichtungsideologie fest und brach 2006 einen Krieg mit Israel vom Zaun.
Abschreckung als Schutz
Damals war die Welt sich einig: Israel habe zu viel Gewalt angewandt. Stattdessen werde eine diplomatische Initiative, eine UN-Resolution, Israels Frieden besser sichern als jede Offensive. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verabschiedete daraufhin die Resolution 1701. Sie verbietet es der Hisbollah, südlich des Flusses Litani präsent zu sein und dort Waffen aufzustellen. Doch wie jeder Israeli weiß auch Omer, dass die UNO-Patrouillen vor der Küste des Libanon, an denen auch Schiffe der Bundesmarine teilnahmen, nichts nutzten. Sie hielten keine einzige der mehr als 100.000 Raketen auf, die der Iran über den Flughafen von Damaskus an die Hisbollah schickte. Und mit denen die Islamisten heute die Kurlender Farm und den Rest Israels bedrohen.
Das einzige, was sie davon abhält, diese abzuschießen, um den verhassten Judenstaat zu vernichten, ist die militärische Übermacht Israels und die demonstrierte Bereitschaft, diese Macht auch zur Verteidigung einzusetzen. Wohl nirgends im Land kann man wie hier Soldaten in voller Kampfmontur antreffen, die nur kurz an einer Synagoge Halt fürs Abendgebet machen, bevor sie an der Grenze wieder auf Patrouille gehen. Hier sieht man auf Landstraßen öfter als andernorts gepanzerte Armeejeeps, hört man im Himmel öfter Kampfhubschrauber. Sie erinnern daran, dass dieser Landstrich nur zwanzig Autominuten vom Außenposten des syrischen Ablegers der Terror-Organisation „Al-Kaida“ auf den Golanhöhen im Osten und nur fünf Autominuten von den Stützpunkten der Hisbollah und den Soldaten Baschar Assads im Norden entfernt ist. Das Ende der Idylle, der Beginn des nächsten Krieges, sind nur einen Hinterhalt, einen böswilligen Granatenbeschuss weit entfernt.
Eine Stippvisite hierher würde jedem deutschen Politiker vor Augen führen, weshalb Israelis so misstrauisch reagieren, wenn andere ihnen Vorschläge machen, wie sie am besten Frieden zu schließen haben. In den neunziger Jahren drängte die Welt Israel, die Golanhöhen für Frieden mit Syrien an Damaskus zurückzugeben. Hätte Jerusalem diesen Rat befolgt, befänden sich Kurlender und seine Milchkühe heute in Schussweite von „Al-Kaida“. Dass dies keine theoretische Gefahr ist, zeigt nicht nur die Erfahrung im Libanon, sondern auch der Gazastreifen. Auch den räumte Israel einseitig im Jahr 2005. Danach wurden Dörfer und Städte in der Nähe Gazas ein Jahrzehnt lang von der Hamas beschossen. Genau wie die Hisbollah einzig durch die Angst vor einer Reprise israelischer Gewaltanwendung in Schach gehalten wird, hält auch nur die Hamas erst seit dem Gazakrieg von 2014 still, so still wie seit mehr als einem Jahrzehnt nicht.
Die Armee als Lebensversicherung
Genau deshalb mögen die Israelis es auch nicht, wenn man ihre Soldaten anschwärzt. Nicht nur weil sie – der allgemeinen Wehrpflicht sei Dank – die Söhne und Töchter, Väter und Mütter fast jeden Bürgers im Land sind. Sondern auch, weil sie in einer der fragilsten Regionen der Welt ein wenig Stabilität und Sicherheit gewähren, die 8,6 Millionen Israelis einen fast normalen Alltag ermöglichen.
Natürlich muss man über die Besatzung sprechen, auch weil sie für Israels Demokratie gefährlich ist. Natürlich müssen Gewaltexzesse der israelischen Armee – die es tatsächlich gibt – thematisiert und angeprangert werden. Doch wer über 50 Jahre Besatzung und ihre Beendung sprechen will, der sollte auch verstehen, weshalb sie zustande kam. Und was es für Israel bedeuten könnte, sie unter falschen Umständen zu beenden. Er sollte zuerst verinnerlichen, was es für Bürger im ganzen Land bedeuten würde, wenn Israels Mittelmeerküste, an der 80 Prozent der Landesbevölkerung leben, in einen zweiten „galiläischen Finger“ verwandelt würde. Denn die „Grüne Linie“, an der die besetzten Gebiete beginnen, ist an manchen Stellen nur knapp 20 Kilometer von Israels Mittelmeerstränden entfernt.
Heute kann niemand angesichts der Spaltung und der Radikalisierung der palästinensischen Gesellschaft garantieren, dass eine weitere Räumung Israel nicht wieder zehntausende Raketen beschert. Und dann? Was würden all die gutmeinenden Diplomaten tun, wenn sie sich mit ihrer Zwei-Staaten Lösung irrten? Bunker unter jedem Haus in Israel graben? Wohl kaum. Und genau deshalb sollten sie allen Teilen der israelischen Zivilgesellschaft zuhören, bevor sie sich eine Meinung bilden. Und nicht nur denen, die sie einladen, weil sie ihre vorgefasste Auffassung bequemerweise bestätigen.
Von: Gil Yaron
Der Autor ist Nahost-Korrespondent der Tageszeitung „Die Welt“